Fragen an die Profis

Der Begriff „Glaubenskrisen“ ersetzt die präzise Analyse von Defiziten nicht

„Glaubenskrisen“ werden gegenwärtig für vieles verantwortlich gemacht, auch für den Mitgliederschwund der Kirchen. Doch das darf eine präzise Analyse nicht ersetzen. Und die stellt Fragen an die Ausbildung und die Professionalität der kirchlichen Arbeit.

Leider weiß ich nicht mehr, wann ich zum ersten Mal das Wort „Glaubenskrise“ (oder: „Krise des Glaubens“) als generelle Erklärung für irgendetwas gehört habe. Natürlich kenne ich seit langem den Ausdruck in seiner Anwendung auf Individuen. Schon als ich Theologie studierte, sprach man darüber, dass die eine oder andere durch das Studium in eine „Glaubenskrise“ geraten war. Damit war dann gemeint, dass ein Kinderglaube durch die Konfrontation mit der historisch-kritischen Exegese biblischer Texte und die Kenntnisnahme von entsprechenden Einsichten über den mutmaßlichen Entstehungsprozess der Heiligen Schrift erschüttert oder sogar zerbrochen war. Die einen (auch unter den Lehrenden) fanden das notwendig, ein Durchgangsstadium zu einem gereiften, erwachsen gewordenen Glauben, die anderen beklagten solche Glaubenskrisen und misstrauten dem gesamten Studium oder jedenfalls der dort gelehrten Methode der Textauslegung.

Vor vierzig Jahren wäre meiner Erinnerung nach aber kaum jemand auf die Idee gekommen, gleich für ganze Gruppen oder gar noch das ganze Land eine Glaubenskrise zu diagnostizieren. Inzwischen lese ich den Ausdruck häufiger. Und ich weiß nicht recht, ob die für meinen Geschmack deutliche Zunahme der Diagnose, das ganze Land oder jedenfalls größere Gruppen von Menschen befänden sich in einer „Glaubenskrise“, nun auf Versuche, jüngste Prognosen zur Mitgliederentwicklung der Kirchen oder aber die neuesten Austrittszahlen zu erklären, zurückgeht oder zu den Folgen der Pandemie gehört. Durch die Pandemie sieht man ja manche Dinge wie durch ein Vergrößerungsglas und glaubt deswegen vielleicht, dass eine seit langem schwelende „Glaubenskrise“ deutlicher hervorgetreten ist.

Uralte Deutungsmuster

Zu den Segnungen des digitalen Zeitalters gehört, dass man, um solche eigene Eindrücke zur Verwendung von Begriffen zu überprüfen, nur bestimmte elektronische Ressourcen abfragen muss, beispielsweise das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“, ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Fortsetzung des berühmten Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm. Der Befund hat mich überrascht – nicht nur der bekannte römisch-katholische Kirchen- und Konzilshistoriker Hubert Jedin, sondern beispielsweise auch der ins Exil gedrängte jüdische Literaturwissenschaftler Erich Auerbach haben im Blick auf die europäische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts von einer fundamentalen Glaubenskrise im generellen Sinn gesprochen. Vermutlich würde es sich lohnen, einmal genau zu prüfen, wer wann mit welchem Unterton einer Zeit diese Diagnose ausstellt und warum. Vor allem würde mich interessieren, was das jeweils eigentlich genau sein soll, eine „Glaubenskrise“.

Ich bin kein Religionssoziologe und auch nicht wirklich dazu berufen, die Gegenwart der Religionen oder gar der Religion hierzulande zu erklären. Manche Diagnose, die ich lese, scheint mir allzu stark vom Versuch geprägt, eigene theologische Prämissen oder eigene Frömmigkeit in die Gegenwart hinein zu deuten. Ob man abnehmende Prozentzahlen der Gesamtbevölkerung oder der Kirchenmitglieder, die wissen, was der Inhalt des Pfingstfestes ist, jetzt als Zeichen einer Glaubenskrise oder nur als Lücken in der religiösen Bildung charakterisiert, wäre ja auch noch einmal zu diskutieren. Und ganz schräg wird es, wenn man einen angeblichen Verfall von Moral und Sitte als Folge einer Glaubenskrise erklären will; auch solche Deutungsmuster der Wirklichkeit sind aber schon uralt.

Mich wundert eigentlich auch nur die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs „Glaubenskrise“, die man als regelmäßiger Leser von Texten, Nutzer der social media und Besucher kirchlicher Veranstaltungen konstatieren kann, auch ohne als Religionssoziologe oder Computerlinguist tätig zu sein. Mich wundert die Konjunktur des Begriffs, weil ich oft erlebt habe, dass er als Generalerklärung für viele mehr oder weniger drängende Probleme verwendet wird. Mir geht es, wie gesagt, gar nicht darum, ob er zur Erklärung bestimmter Phänomene wie eines Anstiegs von Austrittszahlen taugt oder nicht. Mir geht es darum, dass er nicht selten an die Stelle der präzisen Analyse tritt. Wenn basale Aufgaben der Ausbildung zum Pfarramt luschig erledigt werden, wenn das Pfarramt selbst nicht professionell ausgeübt wird, sondern unprofessionell, wenn eine Kirchenverwaltung ihre Aufgaben im Personalmanagement vernachlässigt oder gar noch nicht begriffen hat – dann sollte man nicht die Glaubenskrise bemühen, wenn sich Menschen von Kirche abwenden oder sich ihre kirchliche Bindung lockert. Wenn wir verlernt haben, so zu kommunizieren, dass Menschen erreicht werden, die bereits mit dem Alltag vollkommen überfordert sind, dann ist das kein Zeichen einer Glaubenskrise, sondern ein Zeichen mangelnder Professionalität unserer Kommunikation.

Fünf Hauptfächer des 19. Jahrhunderts 

Es ist ziemlich billig, andere zu kritisieren und einen Professor, der am Schreibtisch über die kirchliche Wirklichkeit herzieht, finden viele zu Recht hochnäsig. Weil mir das auch so geht, kehre ich lieber vor der eigenen Tür: Die universitäre Wirklichkeit hat sich an vielen Orten in den letzten hundert Jahren vollkommen gewandelt. Längst gibt es medizinische oder juristische Fakultäten, die Reformstudiengänge anbieten, um sich auf die gewandelten Anforderungen des medizinischen oder juristischen Berufsfeldes einzustellen. So wird beispielsweise im Medizin-Reformstudiengang der Berliner Charité der Umgang mit Menschen thematisiert, die Vielfalt der Aufgaben medizinischer Berufe in den Blick genommen und Leitungskompetenz vermittelt wie eingeübt. Die Studierenden bekommen Selbstmanagement beigebracht und lernen etwas über berufliche Ethik.

Das Studium der evangelischen Theologie hat sich hingegen trotz der Bologna-Reform nicht sehr stark verändert. Es gibt immer noch fünf Hauptdisziplinen der Theologie und denen, die ins homiletische Hauptseminar wollen, wird empfohlen, sich zuvor über die Modelle für die literarische Genese des Pentateuchs kundig zu machen. Einige Fakultäten hierzulande bieten immerhin inzwischen neu konzipierte Studiengänge für Menschen an, die aus einem anderen Beruf kommen und dort Erfahrungen gemacht haben. Mich wundert, wie schroff manche Kollegen diese Versuche, Ausbildung zu professionalisieren, kritisieren. Ihnen scheint offenbar alles in Ordnung mit unseren Fakultäten und unserem Studium. Können wir es uns wirklich weiterhin leisten, auf Anleitung zur Ausbildung einer spirituellen Praxis zu verzichten?

Ich möchte empfehlen, die generelle Erklärung mit einer „Glaubenskrise“ vielleicht doch etwas zurückhaltender zu verwenden. Vermutlich sind viele Menschen vor 1918 im Brandenburger Umland von Berlin nicht deswegen in die Kirche gekommen, weil sie so fest im Glauben standen, sondern weil die adlige Grundherrschaft in der Patronatsloge saß und das einfach dazugehörte. Und wo es nicht mehr dazugehörte, konnte man schon Mitte des vorletzten Jahrhunderts vor einer Handvoll oder weniger stehen, wenn man Gottesdienst zu halten hatte. So kann man das in den Erinnerungen des Berliner Generalsuperintendenten Büchsel nachlesen. „Glaubenskrise“ in der Altmark? Wenn ja, dann schon lange.

Wichtiger als dieser scheinbare Generalschlüssel einer Krise scheint mir zu sein, möglichst präzise zu analysieren, ob man nicht insgesamt professioneller agieren könnte. Solche präzisen Analysen sollte man erst einmal im eigenen Umfeld, bei der eigenen Profession anstellen. Und nicht gleich über die gesamte Kirche, das ganze Land und die halbe Welt schwadronieren. Manchmal hilft es einfach zu fragen, ob man es nicht doch mal mit Familiengottesdienst probieren sollte, ob man nicht doch Neuzugezogene ansprechen kann oder ob es wirklich noch so viele Fakultäten mit jeweils zwei Professuren für die fünf Hauptfächer des neunzehnten Jahrhunderts braucht. Ich würde mich über größere Fakultäten freuen, in denen dann beispielsweise Religionssoziologie gescheit gelehrt wird. Da könnte ich etwas lernen, vermutlich auch für meine eigene Professionalität. Und bis dahin stelle ich ganz vorsichtig die Frage, ob die angebliche Glaubenskrise nicht doch mehr ein passendes Stichwort für ein Problem eines Individuums ist und damit ein Thema für ein längeres seelsorgerliches Gespräch als eine wirklich passende Diagnosekategorie für größere Gruppen.

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