Die Kirchen und der Protest

Auch die Konfessionen in Belarus fordern den Staat heraus
Demonstrant in Minsk
Foto: picture alliance

Seit Wochen protestiert die Bevölkerung in Belarus gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko. Doch welche Rolle spielen die Kirchen in dieser Situation? Eine durchaus bedeutende, die auch das Regime herausfordert, weiß Hans-Ulrich Probst von der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der württembergischen Landeskirche, der ein Jahr in Belarus gelebt hat und die aktuelle Lage beobachtet.

Die friedlichen Proteste nach der Präsidentschaftswahl in Belarus unter der weiß-rot-weißen Fahne sind trotz zahlloser gewaltsamer Verhaftungen, Berichten über Folter und Exilierungen von Menschen nicht abgeebbt. Der Widerstand, häufig getragen von Frauen, gegen das autoritär-terroristische Regime von Präsident Alexander G. Lukaschenko und die Hoffnung auf Wandel scheinen bisher ungebrochen. Die Bilder gehen um die Welt und haben dieses Land zwischen Polen und Russland, das noch vor wenigen Monaten als terra incognita zu gelten schien, in das Licht des weltweiten Interesses gerückt. Auch die christlichen Konfessionen, insbesondere der Katholizismus und die russische Orthodoxie in Belarus, sind in die Proteste verwickelt.

Belarus stellt kulturell und religiös ein Grenzgebiet dar: Die kulturelle Prägung des westlichen Landesteils steht in einer Traditionslinie mit der polnischen Geschichte. Als Teil des polnisch-litauischen Königreichs und des unabhängigen Polens der Zwischenkriegszeit erstarkte die katholische Kirche. Im Westen von Belarus können diese Spuren trotz der sowjetischen Entkirchlichungspolitik bis heute deutlich erkannt werden. Auch der katholische Gottesdienst wurde in Belarus bis vor wenigen Jahren in polnischer Sprache abgehalten. Der Osten des Landes war Teil des russischen Zarenreiches und ist bis heute stärker russisch-orthodox geprägt.

Jenseits der Aufteilung zwischen römisch-katholisch und russisch-orthodox finden sich im ganzen Land zahlreiche evangelikal-baptistische sowie eine lutherische Gemeinde in Grodno in West-Belarus. Wie sich die religiöse Landschaft jedoch heute numerisch genau zusammensetzt ist nicht klar bezifferbar. Immer wieder wird von 80 Prozent Orthodoxen und 15 Prozent Katholiken gesprochen. Verlässliche Zahlen werden aber weder von einer unabhängigen Soziologie noch von einer statistischen Behörde bekannt gegeben.

Brüchige Front der Orthodoxie

Die Prägekraft und Bedeutung insbesondere der russischen Orthodoxie ist in Belarus vergleichbar mit dem östlichen Nachbarland in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Auferstehung (voskrezenje) der Kirche nach den Jahren der antireligiösen Sowjetzeit hat auch Alexander Lukaschenko den Schulterschluss mit der Orthodoxie suchen lassen. Er zeigte sich bewusst kirchennah und als praktizierender Orthodoxer. Der Konflikt um die umstrittene Wiederwahl des Präsidenten hat nun auf unterschiedlichen Ebenen religionspolitische Dimensionen erhalten.

Auf orthodoxer Seite: Noch am Abend der für sich in Anspruch genommenen Wiederwahl am 9. August gratulierte Metropolit Pawel von Minsk und ganz Belarus Lukaschenko zur Wiederwahl. Nach einem Besuch von verletzten Demonstranten in einem Krankenhaus rief jedoch Pawel dazu auf, die Gewalt gegen Demonstranten und Sicherheitsorgane zu untersuchen und zu bestrafen. Ja, er entschuldigte sich für seine Glückwünsche an Lukaschenko. Wenige Tage nach dieser durchaus überraschenden Stellungnahme, wurde Pawel durch das Moskauer Patriarchat abberufen und in das südliche Russland versetzt. Die ambivalente Haltung von Pawel war dabei symptomatisch für die russische Orthodoxie in Belarus. Die orthodoxe Synode in Belarus forderte nach der ersten Protestwoche Mitte August dazu auf, dass alle beteiligten Parteien wieder zum einvernehmlichen und friedlichen Leben im Land zurückkehren sollten. Zur Frage der gefälschten Wahlen nahm die Synode keine Stellung, sondern forderte die „Provokateure“ auf, die „Destabilisierung unseres Landes“ zu unterlassen.

Doch auch die Front der belarussischen Orthodoxie schien brüchig: So äußerte sich der orthodoxe Erzbischof von Grodno, Artemija, deutlich prononcierter: „Dass sich nun gemeinsam mit Männern, Söhnen und Brüdern auch deren Ehefrauen, Mütter und Schwestern mit Blumen und Umarmungen beteiligen, zeigt: Das Gebot Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Röm 12,21) greift.“ Er bat weiter darum, dass in Belarus wieder zur Wahrheit zurückgekehrt werde – ein deutlicher Hinweis darauf, dass Artemija ebenfalls die Wahlfälschungen missbilligte.

Der neue Metropolit von Minsk, Benjamin, gleichzeitig Bischof von Baryssau, versuchte wiederum in den ersten Wochen seines Wirkens, eine ausgleichende Mittlerstellung zwischen Regime und Protestierenden einzunehmen. Benjamin rief, ähnlich wie auch die lutherische Kirche in Grodno, zu Gebeten für die Verständigung und den Frieden auf. Gleichzeitig betonte der neue Metropolit in öffentlichen Stellungnahmen die enge Verbundenheit mit Moskau. Damit sekundierte Metropolit Benjamin implizit Lukaschenko, der bereits wenige Tage nach der Wahl im August in Anspielung auf die konfessionellen Entwicklungen in der Ukraine deutlich machte: Es bestehe die Gefahr, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche in Belarus der ukrainischen Orthodoxie anschließe. Die Abspaltung der ukrainischen Orthodoxie vom Patriarchat Moskau hatte sich 2018 gegen den Willen Moskaus als Folge der Maidan-Revolution ereignet. Ob innerhalb der orthodoxen Kirche in Belarus tatsächlich solche Bestrebungen vorhanden sind, lässt sich in öffentlich zugänglichen Dokumenten und Stellungnahmen nicht nachweisen.

Katholische Kirche positioniert sich

Durchaus doppelzüngig lesen sich Lukaschenkos Warnungen der Abspaltung von Moskau, wenn die katholische Kirche und ihre Rolle fokussiert wird. Die dargestellte ambivalente und abwartende Haltung der Orthodoxie erfuhr auf katholischer Seite eine deutliche Entgegnung. Im Zentrum stand dabei einerseits der Minsker Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, andererseits die so genannte Rote Kirche auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Minsk. Die sonst eher zurückhaltende und unpolitische katholische Kirche in Belarus hat sich in den vergangenen Wochen deutlich gegen Gewalt und Machtmissbrauch positioniert.

So äußerte sich bereits wenige Tage nach der Wahl Erzbischof Kondrusiewicz kritisch zu den offiziell vorgelegten Ergebnissen, rief zu einem Ende der Gewalt an den Demonstranten auf und stellte sich damit deutlich auf die Seite des Protestes. Gleichzeitig mahnte Kondrusiewicz mehrmals dazu, weiterhin den Dialog und das Gespräch mit allen Seiten zu suchen. Auch kommentierte er kritisch den Slogan Wir werden es nicht vergessen; wir werden es nicht vergeben!, der auf Demonstrationen vorgebracht wurde. Vergebung, so Kondrusiewicz, sei christliches Gebot und notwendig, um die politische Krise zu lösen.

Die deutliche Haltung Kondrusiewiczs nach der Wahl veranlasste Lukaschenko wiederum dazu, die Zulassung einer Religionsgemeinschaft in Frage zu stellen, wenn diese in politische Prozesse miteingreife. Lukaschenko warf dabei der katholischen Kirche in Belarus nicht nur innenpolitische Einmischungen vor, sondern unterstellte, Kondrusiewicz selbst würde an der Angliederung des westlichen Belarus an Polen mitwirken. Auch wenn dieser Vorwurf stellvertretend durch den katholischen Generalvikar Jurij Kasabucki zurückgewiesen wurde, erfuhr Kondrusiewicz die Härte des belarussischen Regimes.

Seit dem 31. August befindet sich der belarussische Staatsbürger Kondrusiewicz auf polnischem Territorium, ihm wird die Rückkehr nach Minsk von den Grenzbeamten verweigert. Die öffentliche Kritik auch der deutschen Bischofskonferenz und die diplomatischen Interventionen des Vatikans zeitigten bisher keine Erfolge. Solidarität erfuhr Kondrusiewicz auch durch die belarussische evangelikale „Gemeinschaft des ganzen Evangeliums“, die verkündete: „In Einklang mit der Bibel, ist der weltlichen Macht aufgetragen, das Gute zu unterstützen, das Böse abzuwehren. Wenn nun die weltliche Macht dies ins Gegenteil verkehrt, erfüllt sie nicht die göttlichen Vorgaben.“

Geradezu zu einem der symbolischen Orte des zivilgesellschaftlichen Protestes ist in den vergangenen Wochen wiederum die Kirche des Heiligen Simon und der Heiligen Helena, auch Rote Kirche genannt, im Zentrum von Minsk geworden. Im Zuge der Massenproteste, die in unmittelbarer Nähe zu der katholischen Kirche stattfanden, flüchteten mehrmals Demonstranten vor den belarussischen Sondereinheiten in die rote Backsteinkirche.

Am 26. August wurden Gläubige, die sich zum Gottesdienst versammelten, und Demonstranten von staatlichen Sondereinheiten etwa eine Stunde eingesperrt, wahllos wurden Personen verhaftet und abgeführt. Die Bilder eingesperrter Glaubender fanden in den sozialen Netzwerken weite Verbreitung und offenbarten auf ein Neues, welche Brutalität und Drastik das Regime um Alexander Lukaschenko zum Machterhalt einsetzt. Das harsche Vorgehen gegen die katholische Kirche manifestierte sich wiederum Ende August, als die gesamte Schlüsselanlage der Kirche durch Unbekannte ausgetauscht wurde und damit signalisiert wurde: Die Religionsfreiheit selbst steht zur Disposition. Die in den vergangenen Jahren immer wieder auch von Lukaschenko betonte Freiheit der Religionsausübung in Belarus hat in den vergangenen Wochen eine scharfe Beschränkung erfahren.

 

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Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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