Heimkehr rückwärts

Tochter der Cellistin

"In meinem Elternhaus wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden. Damit fing das Problem an.“ So führt die in London beheimatete psychoanalytische Psychotherapeutin Maya Lasker-Wallfisch in ihr Buch ein – die Geschichte einer Heimkehr rückwärts in die Zeit, in die Familie, in die Verlebendigung der eigenen Wurzeln. Dabei sind die titelgebenden Briefe nur Teil des Ganzen, an sie geknüpften Lebens der Autorin. Maya Lasker-Wallfisch schreibt sie an die 1942 umgekommenen Großeltern mit dem Wunsch, ihnen nahezukommen, mit ihnen die Geschichte ihrer Nachkommen teilen und daran heilen zu können.

In zehn Kapiteln, schlagwortartig überschrieben mit Sprache, Aufruhr, Verlust, Genesung, Jüdisches Leben, Mutterschaft, Auschwitz, Unabhängigkeit, Entscheidungen und Freiheit fächert Maya Lasker-Wallfisch ihr Leben in einer die Vergangenheit zunächst über Jahrzehnte ausklammernden, ganz auf die Zukunft gerichteten Familie auf – als Kind der inzwischen berühmten Cellistin aus Auschwitz, als lebenssatte Tochter einer lebenshungrigen Mutter, die sich in ihrer Kindheit und Jugend fremd als die „Wunde der Familie“ fühlt, weil ihr Schmerz mit dem der vorherigen Generationen unvergleichbar, weil ihre Angst in einer neuen Welt ohne Not unnötig scheint. Weil niemand erkennt, dass das Böse von außen in ihrer Generation als Leere nach innen gewandert ist.

Während Überleben in den beiden Generationen vor ihr das höchste Gut ist, scheint ihr das eigene Leben egal und in seiner Selbstverständlichkeit wertlos. So wächst ein Mädchen im Nichtwissen ihrer Geschichte mit allem versorgt, aber leer und schwer auf, ohne Halt zu haben. Den Eltern, vor allem dem Vater, fehlen Kraft und Verständnis der Einfühlung. Die auf den traumatischen Jugenderfahrungen der Eltern beruhende verminderte Sensitivität führt zu einer empathisch kaum belastbaren Beziehung zu den Kindern. So ist der Weg der Tochter ins Drogenmilieu vorgezeichnet. Erst mit Kokain, dann mit Crack weiß sie jene Mitte zu betäuben, in der die eigene Identität verkümmert. In diesen Kapiteln der Irrungen und Wirrungen möchte man der jungen Frau gern Konstantin Weckers erschütternd großes Bekenntnisbändchen Und die Seele nach außen kehren – Ketzerbriefe eines Süchtigen (1981) als erlösendes Sprachwerkzeug an die Hand geben.

Mit der Offenbarung ihrer und der Geschichte ihrer Eltern in Form eines für ihre Kinder geschriebenen Buches gibt Mayas Mutter Anita Lasker-Wallfisch schließlich ihrer Tochter den wesentlichen Schlüssel zu sich selbst in die Hand. Die Kinderkrankenschwester und mittlerweile Suchthelferin Maya findet endlich die nötigen Türen, öffnet und durchschreitet sie und wird zu einer angesehenen, transgenerative Traumatisierung bearbeitenden und erforschenden Therapeutin. Ihre Geschichte speist sich aus der Geschichte dreier Generationen, die dieses Buch erschütternd, spannend und stärkend zusammenflicht.

Die klare Struktur und die Aufteilung der Kapitel in jeweils den eigenen Lebensbericht und einen Brief an die Großeltern schafft es auch in der unterschiedlichen Ansprache – dem klaren, im therapeutischen Gestus nüchternen und ohne jede Empathie heischende Dramatisierung auskommenden Duktus des biografischen Berichts auf der einen und der persönlich zugewandten Briefsprache auf der anderen Seite –, das Verständnis für die tiefgreifende Problematik transgenerativer Übertragungen zu schärfen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit immerwährender Erinnerungsarbeit für die seelische Gesundheit zu bekommen. Aus dem Zuhören und Wahrnehmen ist ein ermutigendes Buch des Heilens und der Heilung geworden. Es kann nichts ungeschehen machen. Aber es lehrt die Kraft der Auseinandersetzung und der Befreiung – und die Selbstverantwortung dafür.

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