Regellosigkeit

Grauer Markt der Pflege

Wer kennt sie nicht, die 24-Stunden-Betreuerinnen aus Osteuropa, „die Polin“, die bei einem alten Menschen in der Nachbarschaft oder in der eigenen Familie wohnt und ihn unterstützt? Es existiert ein Grauer Markt Pflege – so der Titel des von den Nürnberger Hochschulprofessorinnen Barbara Städtler-Mach und Helene Ignatzi herausgegebenen Bandes. Aus deutschen Seniorenhaushalten ist die „24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte“, so der Untertitel, kaum wegzudenken. Gar zu nützlich, günstig, fleißig, ja unersetzlich erscheinen diese Frauen – es gibt nur fünf Prozent Männer in dem Job.

Schwierig ist schon die Suche nach einer adäquaten Bezeichnung. Handelt es sich um „Pflegende“, „Migrant Care Workers“, „Betreuerinnen“, „Haushaltshilfen“, „Live-ins“? Problematisch erscheint die unklare Arbeits- und Lebenssituation. Barbara Städtler-Mach spricht von einem „Dazwischen“: Die Frauen agieren wie eine Art Mittelding aus professionellem Pflegedienst und pflegenden Angehörigen. Sie leben zwischen ihrer osteuropäischen Heimat und dem deutschen Haushalt – verbunden durch Handys und Busse. Sie sind eingespannt zwischen sozialstaatlichen Gesetzen und verdeckter Regellosigkeit. Neben ambulanter und stationärer Pflege habe sich dieses Dazwischen zur „dritten Versorgungsform“ entwickelt. Der „graue Pflegemarkt“ sei zur Normalität in Deutschland geworden, überall und hinreichend bekannt, Thema von Forschung, Fachpublikationen und Belletristik, zur Selbstverständlichkeit für die Angehörigen vieler Pflegebedürftigen, zur „ambivalenten Arbeit“ für die osteuropäischen Betreuungskräfte, zu einer Kooperationsnotwendigkeit für die professionell Pflegenden, die oftmals in dieselben Haushalte kommen. Den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft seien Chancen und Problematiken bekannt. Allerdings bleiben Konsequenzen in der gesetzgeberischen Gestaltung aus. Die „andauernde Zurückhaltung … bei der ‚Aufhellung‘ des Graus“ liege an der Verantwortungsaufspaltung zwischen Bund und Ländern sowie der zwischen verschiedenen Ministerien auf beiden Ebenen. Wer hier ernsthafte Regelungen einführen wolle, brächte eine Fülle von irregulären Arbeitsverhältnissen (neunzig Prozent) zutage und liefe zugleich Gefahr, die Versorgung Pflegebedürftiger zu unterminieren.

Was Städtler-Mach am Ende fordert, ist zugleich Programm des Sammelbandes: „Der Graue Pflegemarkt muss zum Gegenstand öffentlichen Wissens und öffentlicher Bildung werden.“ Für seine Überführung in reguläre Rahmenbedingungen müssten Politik, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften, vielleicht auch die betroffenen Familien, sich zu einer konzertierten Aktion zusammenschließen.

Auch dafür bietet das Buch eine gute Grundlage, indem es die Beschäftigungs-
verhältnisse aus rechtlicher Perspektive aufarbeitet (Christine Haberstumpf-Münchow), Unterstützungsmöglichkeiten und Kooperation seitens der ambulanten Pflegedienste herausstellt (Jasmin Kiekert und Nausikaa Schirilla), die Bedeutung der Betreuungskräfte aus pflegewissenschaftlicher Sicht untersucht (Irena Schreyer), die Managementaufgabe des Zusammenwirkens von ambulanten Pflegediensten und Betreuungskräften darstellt (Damian Ostermann) und sozialethische Anmerkungen zum gesellschaftlichen Spannungsfeld von formeller und informeller Pflegearbeit formuliert (Jonas Hagedorn).

Erfreulicherweise kommt auch die Perspektive der Betroffenen zum Tragen. So wird das Selbstverständnis der osteuropäischen 24-Stunden-Betreuerinnen als „Gestalterinnen ihrer eigenen Lebenslage“ herausgearbeitet (Helene Ignatzi). Die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Erleben von Fairness und Autonomie werden erläutert (Arne Petermann, Giorgio Jolly, Katharina Schrader). Fritz Schmid schildert durchaus selbstkritisch und zuweilen humorvoll seine persönlichen „Erfahrungen eines pflegenden Angehörigen“ im Umgang mit seinen hochbetagten Eltern und verschiedenen Helferinnen. Wirklich zu Herzen gehen können auch die zwischen die Fachbeiträge jeweils eingestreuten kurzen, anonymisierten Porträts einzelner polnischer Betreuungskräfte. Diese biografischen Skizzen zu den frei erfundenen Namen Magda, Dorota, Katia, Maria, Dominika und Renata bringen Abwechslung und Anschaulichkeit in den Band. Sie runden ihn ab zu einer spannenden, fachlich hochstehenden und doch gut verständlichen Lektüre mit einem Thema, das uns alle auf die eine oder andere Weise betrifft.

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Foto: privat

Arnd Götzelmann

Arnd Götzelmann ist Professor für Sozialpolitik, Sozialethik und Diakonik an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigsburg.


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