„Die schwarze Gestalt im Spiegel“

Warum die britische Dichterin Yrsa Daley-Ward so populär ist
Die Wucht ihrer Text fasziniert: Yrsa Daley-Ward, 31.
Foto: Mike Kobal
Die Wucht ihrer Text fasziniert: Yrsa Daley-Ward, 31.

Auf Lesebühnen, zwischen Buchdeckeln und auf Instagram – die Dichterin Yrsa Daley-Ward aus Chorley in Nordengland nutzt viele Orte für  ihre Texte. Und die bewegen  sich zwischen Familie, Abstürzen, dem nächsten High, Beziehungen,  Identität und Psalm 139. Udo Feist stellt die junge Autorin vor.

Ich bin die große dunkle Fremde,/vor mir hat man dich gewarnt.“ Dieses Intro eröffnet Yrsa Daley-Wards Gedichtband In den Knochen (Bone), der jetzt auf Deutsch vorliegt. Melodramatischer kann der erste Auftritt eines lyrischen Ichs kaum sein. Die Versuchung, ihre Gedichte autobiografisch zu lesen, liegt nahe, zumal der voriges Jahr auf Deutsch erschienene Prosatext Alles, was passiert ist fulminant offen ihr Leben schildert. Dass ihre Leser solcher Engführung gerade nicht erliegen, sondern ihre Gedichte als Raum und Spiegel für eigenes Erleben begreifen, wie Kommentare in sozialen Medien zeigen, deutet an, welch offene Unmittelbarkeit sie haben. Oder anders: Wie authentisch dieses lyrische Ich daherkommt.

Heftiges Trinken, Feiern gehen, Drogen, Abstürze, Escort-Service, Sex für Geld, depressive Phasen und Getriebensein waren lange Alltag für die Frühdreißigerin aus dem nordenglischen Chorley bei Manchester. Heute lebt sie abwechselnd in London und L. A., modelt weiterhin, schauspielert auch und ist Co-Autorin von Beyoncés Musikfilm „Black is King“ (Disney+/2020).

Wer ihr in ihren Büchern begegnet, mag stickum bürgerlich sinnieren, es sei auch an der Zeit gewesen, dass sie ihr Leben in den Griff bekam, oder Klischees zu Kreativen bemühen, wonach da wilde Häutungen natürlich oder gar nötig seien. Beides wäre legitim, verbaute sich indes von vornherein die spezifische Wucht der Texte. Sie handeln davon, wie einen das Leben durch Familie, Gesellschaft und Schicksalsschläge im Griff hat und dagegen zu bestehen ist, wobei das In-Sprache-Fassen offenbar hilft. Etwa in Wegsein, ein Almanach, einer intensiven Selbstreflexion zum Ende von Alles, was passiert ist.

Ihr Gespür für Timing, Tempo-Forcieren und Dichte, das Überblenden von innerem Erleben, Biografie und sozialer Realität ergreifen und steigern sich zum Gebetsflow negativer Anrufung: „Gibt es Gott, ist er für oder gegen uns?“ Da ist sie Anfang zwanzig und bereits in Kapstadt, ihrem Fluchtort vor der Zerrissenheit, wo zudem schwarze Models fairer behandelt werden und sie über die Poetry Slams in einer Jazzbar Autorin wird: „Schreib ein Gedicht über Ärger in der Familie. Komm wieder und lies es uns vor, wenn du kannst. – Ja, sagst du und lachst, dürfte kein Problem sein.“ Sie begeistert und steht nun regelmäßig auf der Bühne.

Schon als Kind liebte sie Geschichten. Von Roald Dahl bis Shakespeare las sie später alles, was ihr in die Finger kam. Auch zu schreiben begann sie früh. Sie wuchs mit zwei Brüdern bei der Mutter auf, die jamaikanische Eltern hat und als Krankenschwester oft Nachtschicht arbeitete. Deren Männer wechselten, ließen sich aushalten und waren für das frühreife Kind eine Bedrohung. Ihren Vater, verheirateter Stipendiat aus Nigeria, hat sie nie kennengelernt. Besonders der Verlust der dann jung an Krebs gestorbenen Mutter setzte ihr zu, als sie und der jüngere Bruder vier Jahre zu den Großeltern mussten. Strenge Fundamentalisten der Siebenten-Tags-Adventisten, die zwar für sie sorgten, sie aber auch der rigiden Gemeindemoral unterwarfen. Oft durchscheinendes Vertrautsein mit Bibeltexten und der harte Blick auf die Kluft zwischen Liebesbotschaft und erbarmungsloser Moral haben hier ihren Ursprung: „Unauffindbar ist der Gott, dem ihr dient/und jeder weiß, dass ich ihn suchte/nachtaus, nachtein.“

Ergreifend ist das Prosa-Langgedicht „So ein Mann“ über einen Crossdresser, dessen Frau den Fund seiner Damenwäsche arglos der Gemeinde offenbart, was zu einem Choral-begleiteten Lynchmord führt: „Warum/wurde eine so große Sache daraus gemacht?“ Wobei auch kürzere Gedichte Situationen oft nicht bloß ausleuchten, sondern erzählen, eine Story haben. Das titelgebende „In den Knochen“ taktet lakonisch und zählt durch: „Von Nr. 1,/der sagt: Nicht weinen,/irgendwann gefällt’s dir schon‘,/zu Nr. 2 .../bis zu jenen, denen es leidtut am Morgen,/ja,/manchen tut es leid am Morgen danach,/und manchmal sagen sie zu dir,/du willst es doch auch/und du glaubst es sogar./Zum Glück schaffst du’s immer/zurück auf null,/jedes mal/zurück auf null.“

Mit Beginn von #MeToo im Oktober 2017 ging das Gedicht viral. Viele Frauen teilten es in den sozialen Medien. „So ein Mann“ indes steht exemplarisch für ihr LGBT-Engagement, ist nicht Pietisten-Bashing, vielmehr Widerspruch zu jeglicher Behauptung von absoluter Wahrheit und träfe EKD-Normkirchliches demnach genauso. Es geht um soziale Konflikte und Übergriffigkeit, die existentiell werden und die Daley-Ward, wiederkehrend auch bezogen auf ihre sexuelle Identität, heftig auslebte.

Ihre Texte sind zugleich Erinnerungsspeicher und gestaltete Bewältigung, was sie öffnet, freigibt für andere, sie erst eigentlich zu Gedichten macht wie etwa „Himmel 2“: „Was spüren, irgendwas, Rotwein,/ein fiebriges Gebet.“ Im Traum spricht dann die Mutter zu ihr: „Reiß dich zusammen. Du bist eine Afrikanerin, du gehörst zu den magischsten Menschen der Welt.“ Sie arbeitet mit markanten, aber wenig elaborierten Bildern, nie artifiziell, sondern unverstellt an Alltag, genauer Wahrnehmung, Wortklang und Rhythmus orientiert. Das grenzt an HipHop, an Soul und Gospel, zugleich körperlich und souverän, indem sie zur rechten Zeit schweigt. Sie reimt nicht, sie synkopiert. Die Sprache mäandert zwischen Hören, Begreifen und Spüren, hat einen feinen Flow und viel Musikalität.

Erfolgreiche „InstaPoets“

Zur öffentlichen wie veröffentlichenden Autorin wurde Yrsa Daley-Ward über die sozialen Medien, indem sie erst Gedichte auf ihren Twitter-Kanal stellte und sie dann auf ihren Instagram-Account etablierte.

Für alle, die als Model arbeiten, ist der Bilder- und Videodienst zur Selbstrepräsentation ohnehin unverzichtbar. Zudem hatte sich dort gerade jene Szene eine Plattform geschaffen, die unter das Label „InstaPoets“ fällt und von zumeist jungen Nutzern wahrgenommen wird. Für etliche war es das Sprungbrett in eine literarische Karriere. Berühmt ist die Kanadierin Rupi Kaur, der ihre Follower-Fanbase auch im Gedruckten enorme Reichweite bescherte. Ihr Gedichtband Milk & Honey galt schon 2016 als das bestverkaufte Buch mit Dichtung überhaupt: Übersetzt in vierzig andere Sprachen und mit über 3,5 Millionen verkauften Exemplaren löste er Homers Odyssee ab.

Daley-Ward veröffentlichte „Bone“ zunächst über das Amazon-Selfpublishing und bekam 2017 einen Buchvertrag von Penguin. Mehr als 116 000 Instagram-Follower, darunter Popstar Florence Welch von Florence & The Machine und Hollywood-Schauspielerin Ellen Page waren dabei ein triftiges Argument: Die Absatzzahlen von Rupi Kaur und einigen anderen ließen hoffen, zumal auf dem Weg über Social Media unstrittig eine Leserschaft erreichbar wird, die sonst die als anstrengend, verkopft und akademisch geltende Lyrik eher mied – und zudem jung ist. Auch Yrsa Daley-Ward findet das gut, aber aus einem anderen Grund: Das Einreißen dieser Hürden machte Lyrik und deren Potenzial nicht nur zuvor Ausgeschlossenen zugänglich, auch deren Autorinnenschaft würde so diverser: People of Colour, Frauen, Junge, LGBT-Menschen und Leute ohne (Literatur-)Studium.

Anders als Megaseller Kaur und trotz anfänglicher Vorbehalte wird sie von Kritikern durchaus geschätzt, etwa für emotionale Bereiche, die sie erreiche, und ihre ausgefeilte Textarbeit. Grundsätzlich jedoch werden die „InstaPoets“ im Anglophonen teils rüde ablehnend diskutiert, da ihr Medium Schnellschüsse, Belangloses, unernst Seichtes und mangelnde Arbeit an Wörtern und Struktur befördere und als Marktplatz zur Selbstdarstellung eh diskreditiert sei. In einem berüchtigten Essay schrieb die Dichterin Rebecca Watts, dass es dort um Persönlichkeiten statt um kraftvolle Poesie oder eben Poeten gehe.

Ohne Anhalt ist das oft nicht, im Gegenteil. Der Habitus auf sozialen Medien und die Format- und Zeichenvorgaben wie auf Twitter züchten die Tendenz zum Sinn- und Kalenderspruchartigen. Das ist zwar nicht an sich schlecht und kann hohe Kunst sein, beweist aber allzu oft die Möglichkeit des Ertrinkens in einer Pfütze. Auch Daley-Ward unterlaufen wacklige Sentenzen, sie erliegt ihnen jedoch selten. Sie sucht vielmehr sprachlich engagiert nach „Vorzeichen, Tatsachen und anderen Dingen“, wie sie rahmend in „Alles, was passiert ist“ schreibt. Zumeist gelingt ihr das auch. Sie hat spürbar eine Vision – und das Zeug dazu.

Eine spürbare Vision

„Denk dran, eines/Tages, wenn der Sturm sich legt,/wird ein Muster erkennbar, ein Bild“, heißt es beschwörend in ihrem wohl bekanntesten Gedicht „Mental Health“, „Inneres Gleichgewicht“, das einen suizidal-depressiven Schub in den Einkauf verlegt: „Wenn du den Gang im trüben/Neonlicht entlanggehst,/vorbei an Fischkonserven und Bohnen im Glas,/über dir die Leuchtstoffröhren, unter dir/gesprungene Fliesen,/und dich die Einsicht trifft,/dass im Grunde alles vergebens ist.“

Wieder dieses fulminante Ineinander von Erzählung, Ausleuchten einer Situation und lyrischer Gestaltung, was tief ins Zerrissene dringt, offenbar aber heilsam ist, wie viele Follower schrieben. Und das leuchtet unmittelbar ein. Denn was wir sehen und so fassen können, hat keine Macht mehr über uns oder doch weniger – was übrigens seit je wesentlicher Zweck von Lyrik ist, wie Heinz Schlaffer in seinem Buch Geistersprache über deren Ursprung im Gebet grandios belegt.

Zerrissenheit und quälende Körperdistanz angesichts der eignen Sexualität sowie ihrer Wirkung auf Männer und vielfach übergriffige gesellschaftliche Zuschreibungen kulminieren bei ihr in der Furcht vor Spiegeln: „Und schlimmer noch: Vielleicht bin ich die Gefahr. Vielleicht bin die schwarze Gestalt im Spiegel ich.“ Doch dies so zu schreiben, ist bereits der Blick hinein und macht zugleich alle Fragen unerheblich, ob das nun ‚wirklich so war’ oder nur im Text inneres Erleben zeigt. Das Bild ist stimmig, trifft zu. Oder anders: Das ist und kann Literatur. Auch Trost und Zuspruch sein, etwa im – mutmaßlich autobiographischen – Gedicht „Nach Haus“: „Jemand liest Psalm 139,/und in dem Vers, der daran erinnert,/wie wunderbar/wir geschaffen wurden,/sehe ich endlich Licht/und folge den Linien deines Tattoos/auf meinem Arm.“

Yrsa Daley-Ward ist eine fesselnde Autorin, die um ihre Identität spürbar gerungen hat, und die Begegnung mit ihr in ihren Texten ist überaus lohnend. Für Gepflogenheiten in sozialen Medien eher untypisch macht sie von ihrer derzeit gelebten Sexualität indes wenig Aufhebens, tritt in Interviews und Statements aber immer wieder vehement für Belange von LGBT-Menschen ein und betont, dass ihre Gedichte zu Menschen jeglicher sexueller Orientierung passten. Wer könnte da widersprechen? Erfreulich ist zudem, dass nun via Social Media das lyrische Ich im Kurs zu steigen scheint. Als einziges Pronomen hat es für jeden Platz.

 

Literatur

Yrsa Daley-Ward: Alles, was passiert ist. Blumenbar, Berlin 2019, 234 Seiten, Euro 20,–.

Yrsa Daley-Ward: In den Knochen. Blumenbar, Berlin 2020, 156 Seiten, Euro 16,–.

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