Dreißig als Anfang

Die Deutsche Einheit ist ein langwieriger Prozess

Es ist ein begeisterndes Jubiläum. Jedes Jahr aufs Neue. Vor dreißig Jahren, am 3. Oktober 1990, konnten die Deutschen die Vereinigung ihrer beiden Staaten feiern, knapp ein Jahr nach dem Mauerfall. Damit war die deutsche Teilung überwunden, die Existenz der DDR beendet und Deutschland wiedervereint. In der katastrophengeschüttelten deutschen Geschichte eine großartige Leistung. Und doch ist heute die innerdeutsche Stimmung nicht ungetrübt. Ist Deutschland dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ein geeintes Land? Wie lässt sich Einheit messen?

Unbestritten ist die gewaltige wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Und doch sticht dreißig Jahre später eine unzweifelhafte Ungleichheit der Chancen hervor. Weniger Wirtschaftskraft, niedrigere Löhne und Renten, geringere Erbschaften, das sind nur einige der Fakten, die der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West entgegenstehen. Nicht zu vergessen: Weiterhin arbeitet ein Drittel der Menschen im Osten zu einem Niedriglohn in Vollzeit. Zu den Tatsachen gehört auch, dass die Abwanderung noch beständig zu Überalterung führt. Bereits im Jahr 2030 wird im Osten jeder Dritte 64 Jahre sein. Im übrigen Bundesgebiet ist das erst im Jahr 2060 der Fall.

Politisch vereint, doch wirtschaftlich auf Abstand. Sicher, es wird immer Unterschiede geben, zwischen Stadt und Land, zum Beispiel. Aber den Osten wird das stärker betreffen.

Eine große Herausforderung bleibt: Die Mauern im Kopf sind auf beiden Seiten noch nicht eingerissen. Wechselseitige Vorurteile und Denken in Stereotypen existieren weiterhin. Westdeutsche halten Ostdeutsche für unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und zurückhaltend, umgekehrt charakterisieren Ostdeutsche Westdeutsche als arrogant, materialistisch orientiert und oberflächlich. Eine Kostprobe: „Warum brauchen Wessis 13 statt 12 Jahre in der Schule? Ein Jahr mehr für den Schauspielunterricht.“

Auch nach dreißig Jahren wird den Ostdeutschen zu wenig Respekt gezollt. Dafür, dass viele von ihnen die DDR überstanden und diesen Staat von der Straße aus niedergerungen haben. Und dafür, dass sie in der Nachwendezeit schmerzvolle biografische Brüche und reale Verluste erlebt haben.

Trotz allem aber ist der größte Teil angekommen, in diesem vereinten Land. Und das ist auch nach dreißig Jahren nicht hoch genug zu schätzen.  Wo stehen wir heute? Wenn alles gut läuft, geraten Klischees und Vorurteile in Vergessenheit, in krisenhaften Zeiten brechen sie sich aber immer wieder Bahn und stehen dem ersehnten Wir als Brandstifter entgegen.

Nebenbei bemerkt: Der große Riss in Deutschland zieht sich nicht durch Ost und West, sondern durch das Verständnis unserer Demokratie. Da ist zum einen die Mehrheit, die gemeinsam an ihr festhält, und zum anderen ein wachsender Teil derer, die sich von ihr abwenden.

Auch nach dreißig Jahren haben sich die zu Wendezeit zu hoch gesteckten Erwartungen in die ökonomische Einheit noch nicht gänzlich erfüllt, und die Zeit des inneren Zusammenwachsens wurde unterschätzt. Der Prozess der Einheit zieht sich weiter hin: für ein Deutschland, das seine Zusammengehörigkeit schätzt, ohne fortbestehende Unterschiede wegreden oder verschweigen zu müssen.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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