Dem Evangelium vertrauen

Wider den Krisenaktionismus der „Elf Leitsätze“ und ihre Abwertung der Ortsgemeinde
Eingangsbereich des Kirchenamtes der EKD in Hannover-Herrenhausen.
Foto: epd/Norbert Neetz
Eingangsbereich des Kirchenamtes der EKD in Hannover-Herrenhausen.

Ein EKD-Papier zur Kirchenreform wird heftig diskutiert. zeitzeichen-Herausgeberin Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie in Bochum, und Maren Lehmann, Professorin für Soziologie in Friedrichshafen, kritisieren Inhalt und Geist der „Elf Leitsätze“ scharf. Sie bemängeln besonders das unklare Verständnis von Kirchenmitgliedschaft, die Geringschätzung der Ortsgemeinde und den aktionistischen Trend zur „Clubkirche“.

Als ein „Sozialexperiment“ hat der Soziologe Rudolf Stichweh in der FAZ am 7. April die Corona-Krise bezeichnet und dabei betont, dass die Krise einen Bruch bedeute und es danach einen Neubeginn geben werde: „Einen solchen Neustart aller Funktionssysteme hat es in der Geschichte der Moderne (Ausnahme sind vielleicht die beiden Weltkriege) so noch nicht gegeben. Es wird Strukturbrüche geben, aber wir wissen nicht welche.“ Nur eines sei weithin absehbar: „Das System der Religion könnte sich als der eigentliche Verlierer der Corona-Krise erweisen“, und zwar nicht deswegen, weil es in der akuten gesundheitlichen Bedrohung der Gesellschaft als „nicht systemrelevant“ eingestuft worden sei, sondern weil es nicht imstande sei, eine religiös spezifische, distinkte Antwort auf die Frage zu finden, worin diese Krise überhaupt besteht.

In der evangelischen Kirche war das Erschrecken über die Nonchalance, mit der den Kirchen die gesellschaftliche Relevanz abgesprochen wurde, groß. Dass den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, den Familien, dem Sport, den Künsten, den Schulen und Universitäten Gleiches widerfuhr, weist immerhin auf ein mögliches Milieu hin, dem die Kirchen zugerechnet werden. Trotz der Herabstufung der Systemrelevanz seiner Lebens- und Arbeitsbereiche hat dieses gebildete, keineswegs nur großstädtische Milieu großes Kontingenzbewusstsein und eine beeindruckende Fähigkeit zu solidarischer Demut bewiesen. Der Versuch der Kirche, für dieses Milieu adressabel zu bleiben oder es wieder zu werden, liegt auf der Hand.

Weniger naheliegend ist es, diesen Versuch als Mitgliedschaftsangebot mit befristetem Gebührenrabatt und projektförmiger Mitwirkungserwartung zu fassen. Beides gehört zu den Vorschlägen, die die EKD in dem elf Leitsätze umfassenden Diskussionspapier „Kirche auf gutem Grund“ auflistet. Die Corona-Krise wird hier in beeindruckender Höchstrelevanzgewissheit als „Metapher“ für eigene Strukturfragen bezeichnet. „Wie begegnen wir der lähmenden Bedrohung eines unsichtbaren, potentiell tödlichen Virus?“, heißt es in der Präambel, um fortzusetzen: „Wie kommen wir aus der Defensive des Rückzugs, des Lockdowns, der sozialen Distanzierung heraus in die Offensive einer verantwortlichen und zugleich zuversichtlich gestaltenden Perspektive kirchlicher Gemeinschaft?“

Euphemismus „Wir alle!“

Die Tonlage zeigt die strategische Intention an. Die Formulierungen greifen ein in ähnlichen Papieren schon zur Konvention gewordenes Misstrauen gegen „Distanzierte“ beziehungsweise „Konfessionslose“ auf und sprechen ein „Wir“ an, das „hinaus ins Weite unerschlossener und offener Möglichkeiten“ gehen will. Entscheidend scheint nun zu sein, bei der Kirche aktiv mitzumachen und „authentisch“ gläubig zu sein, nicht die Kirchenmitgliedschaft, nicht die vielen Stillen im Lande, die mit ihrer Kirchensteuer die Arbeit der Kirche erst möglich machen, ohne sich selbst aktiv engagieren zu wollen oder zu können.

Wer ist dieses „Wir“? Der Text ist das Zwischenresultat der Arbeit eines sogenannten „Z(wie Zukunft)-Teams“, das sich in Vorbereitung der nächsten Tagung der EKD-Synode gebildet hat und dessen Mitglieder von der EKD-Synode berufen wurden. In Vorbereitung der Reformationsfeierlichkeiten 2017 war es noch ein „Zukunftsforum 2014“ gewesen, das den Variantenreichtum des evangelischen Glaubens namentlich in der Fläche vor Augen stellen und als Koordinationsproblem der „Mittleren Ebene“ der Landeskirchen ernst nehmen wollte. Dieses Vorläuferforum kam ohne jeglichen Klage- oder Kampfmodus aus.

Nun gibt es nicht nur das Z-Team. Zusätzlich wurde ein neues „Zukunftsforum 2020“gegründet, das unter dem Titel „Unverzagt durch stürmische Zeiten“ einen digitalen Kongress im September veranstaltet. Es versammelt unter dem Euphemismus „Wir alle!“ die Kirchenleitenden (nicht mehr: die Varianten des Glaubenslebens vor Ort) und tritt nicht mehr moderat, sondern eher entschlossen-zupackend auf. Die Metapher des Sturms übertreibt zwar die ja doch eher als Stillstand und allmähliches Versickern empfundene Lage. Doch wird sie durch ein pfingstliches Motiv getragen, das präzise auf Existenzfragen im Sinne von Verständigungsfragen verweist: Wahrnehmungen werden im Sturm extrem verunsichert, so dass man weder versteht noch verstanden werden kann. Für eine Kirche kommt dies dem Untergang gleich, und das „Zukunftsforum“ genauso wie das „Z-Team“ sehen diesem Untergang ins Auge. Sie versuchen ihn weder zu leugnen noch zu beschönigen, sondern das Boot in ruhige Gewässer zu bringen. Und Ballast abzuwerfen.

Zu diesem Ballast gehören einleuchtender Weise zahllose „Wir auch! Wir auch!“-Engagements (Tucholsky), die mit gesellschaftlicher Akzeptanz nur allzu oft verwechselt, der Kirche aber kaum je
distinkt zugerechnet werden. Die Einsicht der „Leitsätze“, dass Kirche nicht alles kommentieren und nicht überall präsent sein muss, ist triftig. Zu diesem Ballast gehören aber auch die eben noch so zugewandt betrachteten konfessionellen und alltagspraktischen Varianten in der Fläche der Landeskirchen und die lokalen Ebenen der Verständigung. Sie alle werden mit dem abwertend gemeinten Begriff der Parochie beklebt, um sie sodann als „unverbunden agierende, selbstbezügliche Institutionen und Arbeitsbereiche“ zu diskreditieren, die, wie das Papier mehrmals lapidar feststellt, „aufgegeben“ werden müssen. Das hat unweigerlich Konsequenzen für die Pfarrerinnen und Pfarrer, von denen in den Leitsätzen überhaupt nicht mehr die Rede ist.

Die Abwertung von Pfarrerschaft und Gemeinden widerspricht diametral den Ergebnissen der von der EKD selbst finanzierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Die aktuelle Untersuchung von 2015 zeigt, dass mehr als drei Viertel der evangelischen Kirchenmitglieder einen Pfarrer/eine Pfarrerin mindestens vom Sehen her kennen und dass dies der signifikanteste Faktor für ihre Kirchenbindung ist. Diese personalen, durch Rollenerwartungen gestützten Begegnungen ermöglichen und festigen ein emotional und kognitiv stabiles Verhältnis zur Kirche – nicht zuletzt dadurch, dass diese Begegnungen Konflikte sprachfähig und damit bewältigbar machen. Pfarrerinnen und Pfarrer sind das personale Gesicht der Kirche, sie haben die höchsten Kontaktwerte, motivieren Menschen, sich ehrenamtlich zu engagieren, und sind zugleich Brückenbauer zwischen den Engagierten und Distanzierten.

Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamts der EKD, fasste die Ergebnisse der Untersuchung damals mit gutem Grund so zusammen: „Qualitativ wertvolle religiöse Kommunikation in einer konkreten Gemeinde vor Ort durch den klassischen Berufsstand bleibt die zentrale Erwartung aller Mitglieder an ihre Kirche.“ Diese Erkenntnis ist frappierend schnell vergessen. Die lokalen Ressourcen der Kirche werden nicht ausgelotet, das Gespräch mit den Menschen in Pfarramt und Gemeinde, die Kirche vor Ort verantworten und in vielfältigste Kontaktnetze (nicht zuletzt zur Kommunal- und Landespolitik) eingebunden sind, nicht gesucht, vielmehr werden Ortsgemeinden und Pfarrerschaft tendenziell zum Ballast gerechnet.

Dazu passt, dass jede Form eines nur hörend sich beteiligenden Reflexionsstils in Frage gestellt wird. Die „Elf Leitsätze“ sind so dominiert von Aktivität, dass sogar die Rezeptivität und das Hören im Gottesdienst, das im Protestantismus immer von zentraler Bedeutung war, abqualifiziert werden. „Traditionelle Sonntagsgottesdienste“ etwa erlauben in der Regel diese diskrete Form der Frömmigkeit, in der man ganz für sich sein kann und doch nicht allein ist, „viele gelingende Alternativen gottesdienstlicher Feiern“ erlauben sie womöglich auch. Warum die einen den anderen hier abschätzig gegenübergestellt werden, ist ein Rätsel.

Ein entscheidendes Problem des Thesenpapiers aber ist das unklare Konzept von Kirchenmitgliedschaft: Es genügt offenbar nicht mehr, Mitglied der Kirche zu sein. Erwartet wird jetzt Engagement; erwartet wird die Bereitschaft zum Ehrenamt, mindestens zur Zahlung, sei es in Form der Kirchensteuer oder anderer Formen. Und vorsichtig wird versprochen, „Mitgliedstreue zu würdigen“ und „Angebote für Mitglieder noch attraktiver (zu) gestalten“, „z. B. durch eine Churchcard“ (mit Kreditfunktion, wie anzunehmen ist). Das klingt nach der Wiedereinführung der Fürstenloge, in die sich verdiente und vermögende Mitglieder zurückziehen können. Es klingt nicht danach, die „Vereinskirche“ aufgeben zu wollen, sondern danach, sie durch eine Art Clubkirche zu ersetzen.

In allen diesen Hinsichten ist das Thesenpapier konventionell, auch wenn der antiparochiale Ton schärfer wird. Weder ist der Versuch neu, auf dem Umweg über Erschöpfungs- und Überlastungsdiagnosen kraftsparend-entlastende Zentralisierungsempfehlungen auszusprechen, ohne zu berücksichtigen, dass Zentralisierungen zu erheblich drastischeren Überlastungen führen, die dann vice versa nur noch durch Aufgabe des nicht zu Überblickenden gelöst werden können. Noch überrascht die Annahme, Hierarchie sei eine abzulehnende und durch Zentrum/Peripherie-Vorgaben zu ersetzende Strukturform – das verführerische Versprechen des Abbaus von Hierarchie kommt in jeder Organisation beliebiger Provenienz immer wieder vor, ist aber eine Vorform organisierter Verantwortungslosigkeit. Denn der Sinn von Hierarchie ist die Sicherung der Verantwortungsübernahme im Krisenfall.

Die EKD aber, und das könnte in dieser Konsequenz neu sein, schlägt nun Zentralisierung statt Hierarchie vor. Setzte sich dies durch, bedeutete es die Marginalisierung konfessioneller Vielfalt zugunsten eines vorderhand entlastenden Einheitsversprechens, das top down gegeben und trotzdem bottom up gehalten werden muss. Glaubensleben wird so in Erfolgserwartung übersetzt und mit der kaum subtilen Drohung unterfüttert, anderenfalls „aufgegeben“ zu werden. Schwach determinierte, suchende Formen religiöser Kommunikation werden entmutigt.

Nicht jedes Pfarramt erhalten

Was braucht die Kirche an Orientierung für die Zukunft? Wie kann sie bestehen trotz zurückgehender Mitgliederzahlen und Finanzen? Die „Leitsätze“ stoßen eine Debatte darüber an, welche Prioritäten künftig gesetzt werden sollen, was noch finanziert werden kann und was nicht. Es wird nicht jede Ortsgemeinde und nicht jedes Pfarramt erhalten bleiben können. Durch einen kirchlichen Aktionismus gleich welcher Art werden die gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungsprozesse nicht kompensiert werden können. Je krisenhafter eine Gegenwart und je ungewisser die Zukunft erfahren wird, desto wichtiger ist es, suchend und fragend vorzugehen und dabei auch nach dem Bewährten zu fragen – mit Vertrauen in die Menschen, die an so vielen Orten in Deutschland Kirche auf die unterschiedlichste Art leben und sind. Die Antworten in Ost und West sowie Nord und Süd werden dabei verschieden ausfallen – zentralistische Generalsätze helfen hier nicht weiter.

Es bedarf nicht nur der Dynamik, der Bewegung und des Fluiden, wie das Papier immer wieder insinuiert, sondern auch der Verlässlichkeit, Stabilität und Beständigkeit. Nicht zuletzt deshalb sind Kirchengebäude so attraktiv – sie stehen für eine Kontinuität, die viele Individuen in ihrem Leben bedroht sehen, sie symbolisieren in ihrer äußerlichen Invarianz die Unverfügbarkeit individueller und kollektiver Daseinsbedingungen. An den Orten, an denen Kirchen während des Lockdowns geöffnet waren, waren sie Ankerpunkte für verletzte Seelen und Zuflucht für geängstete Menschen. In der fortschreitenden digitalen Vernetzung der Gesellschaft nehmen Kirchengemeinden und -gebäude an Bedeutung zu, weil sie Orte sind, an denen Vertrauen lokal und personal erfahren werden kann. Davon lebt die Kirche – beharrlich, geduldig, dem Evangelium vertrauend.

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