Es geht um die Integrität der Person
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidbeihilfe vom 26. Februar ist sehr umstritten. Der Zürcher Systematische Theologe Johannes Fischer widerspricht dem Beitrag seines Kollegen Rolf Schieder in den Juli-zeitzeichen klar. Andererseits deckt auch er Schwächen des Karlsruher Urteils auf, die seiner Meinung nach durchaus bestehen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe ist gerade in Kirche und Theologie auf teils heftige Kritik gestoßen. Ein Beispiel ist der Artikel von Rolf Schieder in zeitzeichen 7/2020. Ihm zufolge „feiert“ das Gericht den Suizid als „Akt der Entfaltung der Persönlichkeit“ sowie als „Ausdruck von Würde“. Das Gericht verweigere sich damit der Einsicht, dass jeder Suizid auf einem „Widerspruch“ und „ethischen Dilemma“ beruht. Überdies gehe das Urteil von einem „ganz und gar abstrakten Begriff individueller Freiheit und Selbstbestimmung“ aus, nämlich einer „Willkürfreiheit“, die keinerlei moralischen bzw. ethischen Rechtfertigungspflichten unterliegt. Auch beruhe das Urteil auf einer fragwürdigen Auffassung des Suizids. Jeder Suizid sei ein Akt der Verzweiflung. Die Auffassung des Gerichts, dass Menschen sich in freier Selbstbestimmung für einen Suizid entscheiden können, beruhe auf einer verkürzten Sicht des Problems.
Wie ich im Folgenden verdeutlichen will, wird eine solche Kritik weder dem Urteil des Verfassungsgerichts noch der Problematik des Suizids gerecht. Um hier zu Klärungen zu gelangen, ist es ein Mindesterfordernis, zwischen den Ebenen des Rechts und der Ethik sorgfältig zu unterscheiden. Dementsprechend ist der folgende Text gegliedert.
Was zunächst die rechtliche Dimension betrifft: Was lässt sich ernstlich gegen eine Argumentation einwenden, die aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes) ein Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben ableitet, das auch die Freiheit der Entscheidung für einen Suizid einschließt? Niemand von uns möchte, dass andere über sein Sterben bestimmen und ihm vorschreiben, wie er zu sterben hat. Das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben aber würde ausgehebelt, wenn es davon abhängig gemacht würde, dass wir von ihm so Gebrauch machen, wie andere – bis hin zu politischen bzw. staatlichen Instanzen – sich aufgrund ihrer ethischen oder weltanschaulichen Überzeugungen vorstellen, dass wir von ihm Gebrauch machen sollen. Denn dann würden andere darüber bestimmen, wie wir von unserer Selbstbestimmung Gebrauch machen müssen. Selbstverständlich können andere uns bezüglich der Art und Weise, wie wir unsere Selbstbestimmung wahrnehmen, zur Rede stellen und uns nach Gründen fragen. Doch ganz unabhängig davon, ob unsere Gründe sie überzeugen oder nicht, sind sie verpflichtet, unser Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf unser Leben und Sterben zu respektieren.
Anders, als Schieder meint, geht es bei diesem Recht also gar nicht um die Gewährleistung einer „Willkürfreiheit“, d.h. der Freiheit von der inneren Nötigung durch Gründe insbesondere moralischer bzw. ethischer Art. Es geht vielmehr um die Gewährleistung äußerer Freiheit, d.h. der Freiheit von der Nötigung durch Dritte, die sich anmaßen, gemäß ihren ethischen und weltanschaulichen Auffassungen über unser Leben und Sterben zu bestimmen. Mit dieser äußeren Freiheit hat es das Recht zu tun. Gerade in Anbetracht des moralischen und weltanschaulichen Pluralismus ist das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben und Sterben unabdingbar für ein gedeihliches Zusammenleben.
Ärgerlich ist in der Tat die Überhöhung des Suizids als Akt der Entfaltung oder Wahrung der Persönlichkeit, wie sie sich in gewissen Formulierungen im Urteil des Verfassungsgerichts findet. Das wäre leicht zu vermeiden gewesen. Denn der Duktus der Argumentation des Gerichts ist ja folgender: Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Damit Menschen ihre Persönlichkeit frei entfalten können, müssen sie über sich und ihr Leben selbst bestimmen können. Insofern hat die freie Entfaltung der Persönlichkeit die Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben zur Voraussetzung. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit schließt ein Recht auf diese Voraussetzung in sich. Insofern aber zum Leben auch das Sterben gehört, erstreckt sich das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben auch auf das Sterben. Das Recht, sich auch für einen Suizid entscheiden zu können, ist also gar nicht unmittelbar aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit abgeleitet, so als realisiere sich im Suizid die Entfaltung der Persönlichkeit, sondern es ist aus einer Voraussetzung für dieses Recht abgeleitet, nämlich aus dem Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben und Sterben. Hier hat das Verfassungsgericht mit fragwürdigen Formulierungen unnötig Kritik auf sich gezogen.
Der eigentliche Fehler im Urteil des Verfassungsgerichts liegt an einer anderen Stelle, nämlich in der Behauptung eines Rechts auf Suizid. Man muss dazu sehen, dass das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben kein Recht auf Suizid impliziert. Das Recht auf Selbstbestimmung bezieht sich lediglich darauf, wer zu bestimmen befugt ist, nämlich man selbst und nicht andere. Es bezieht sich nicht auf das, was Gegenstand des Bestimmens ist. Es impliziert also kein Recht auf eine bestimmte Option unter den zur Wahl stehenden Möglichkeiten. So legt ja auch in der Arzt-Patienten-Beziehung das Recht das Patienten auf Selbstbestimmung lediglich fest, dass der Patient die letzte Entscheidungshoheit darüber hat, ob er einer Behandlung unterzogen wird und welcher Behandlung er unterzogen wird. Aber es beinhaltet kein Recht auf eine bestimmte Behandlung. Der Arzt darf nichts tun ohne das Einverständnis des Patienten. Aber er muss nicht alles tun, was der Patient verlangt. In ganz derselben Weise ist auch im Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben kein Recht auf ein bestimmtes Sterben enthalten, also auch kein Recht auf Suizid, das Dritte verpflichten würde, diesen zu ermöglichen oder jedenfalls nicht zu verunmöglichen.
Hier liegt die entscheidende Lücke in der Argumentation des Verfassungsgerichts. Wenn sich aus dem Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben kein Recht auf Suizid ableiten lässt, dann wird auch die Folgerung hinfällig, die aus diesem vermeintlichen Recht abgeleitet wird, nämlich dass das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unzulässig ist, weil es die Möglichkeit der Wahrnehmung dieses Rechts unverhältnismäßig einengt. Damit fällt die Argumentation des Gerichts gegen dieses Verbot in sich zusammen. Freilich wäre es vorschnell, hieraus zu schließen, dass dieses Verbot damit über jede Kritik erhaben ist. Letztlich geht es wohl um eine Güterabwägung, nämlich was schwerer wiegt, die berechtigten Anfragen und Bedenken in Bezug auf die geschäftsmäßige Sterbehilfe oder die Tatsache, dass Menschen, die in oftmals verzweifelter Situation mit Hilfe Dritter aus dem Leben scheiden wollen, keine ausreichende Möglichkeit hierzu haben.
Was nun andererseits die ethische Dimension betrifft, so ist es hier die Grundfrage schlechthin, was eigentlich Gegenstand der ethischen Reflexion und Beurteilung sein soll, ob das Handeln dessen, der sich das Leben nimmt, oder aber unser eigenes Verhalten gegenüber einem Menschen, der aus dem Leben scheiden will. Was schulden wir einem solchen Menschen? In der ethischen Tradition stand in der Regel das Erste im Fokus. Suizid galt als Sünde und als moralisches Vergehen. Auch Schieder macht das ethische Problem des Suizids am Handeln des Suizidwilligen fest. Dieses impliziere ein „ethisches Dilemma“, insofern es in sich widersprüchlich sei. Mache doch der Suizidwillige von seinem Recht auf freie Selbstentfaltung so Gebrauch, dass er diese damit zugleich vernichtet. Doch wo liegt hier der Widerspruch? Warum soll es nicht möglich sein, im Vollzug einer Handlung etwas in Anspruch zu nehmen – die eigene Freiheit, die eigene Selbstbestimmung –, das durch die Handlung aufhört zu existieren, weil die Handlung die Voraussetzung zerstört, auf der es beruht, nämlich das Leben? Was ist daran widersprüchlich? Es gibt Widersprüche zwischen Aussagen oder zwischen Urteilen, aber darum geht es hier ja nicht. In welchem Sinn also ist hier von `Widerspruch´ die Rede? Und inwiefern handelt es sich um ein ethisches Dilemma?
Eine ganz andere Auffassung vertritt in dieser Frage die Orientierungshilfe der EKD „Wenn Menschen sterben wollen“. In ihr findet sich die Feststellung, dass Suizide sich moralischen Kategorien und Beurteilungen überhaupt entziehen. Denn Moral hat es mit dem Allgemeinen zu tun. Das Gebot, nicht zu morden, bezieht sich nicht auf einen bestimmten Menschen, sondern auf alle Menschen. Der Einzelne ist hier als Fall der Kategorie `Mensch´ im Blick. Doch das ist nicht der Blick, den ein Suizidwilliger auf sich selbst hat. Das Leben, das er beenden möchte, ist nicht das Leben eines Menschen im Allgemeinen, sondern sein Leben, und die Gründe, warum er dies möchte, haben mit ihm und seiner individuellen Situation und Lebenslage zu tun. Daher laufen hier moralische Gebote und Appelle ins Leere. Wenn man ihn mit Gründen von seinem Vorhaben abbringen will, dann müssen es solche sein, die sich auf ihn und seine Situation beziehen und die ihm eine andere individuelle Perspektive erschließen.
Das ethische Problem, das ein Suizid aufwirft, liegt so begriffen nicht in der Handlung der Selbsttötung und ihrer moralischen Bewertung, sondern in der Frage, was wir der Person eines Suizidwilligen schulden. Das aber ist vor allem eines: Achtung. Wenn wir von der Person eines anderen Menschen sprechen, dann sprechen wir von seiner unverwechselbaren Individualität, wie sie sich in seinem Willen, aber auch in seiner Sicht auf sich und sein Leben und auf die Welt insgesamt ausdrückt. Achtung seiner Person ist Achtung dieser seiner Individualität. Eben diese Achtung wird einem Suizidwilligen verweigert, wo immer sein Vorhaben lediglich nach moralischen Kriterien bewertet und somit abstrakt als Fall eines Allgemeinen behandelt wird.
Gewiss kann man ihn zur Rede stellen und nach Gründen fragen, und man kann seine Gründe hinterfragen mit dem Ziel, ihn zur Änderung seines Willens zu bewegen. Doch die Achtung seiner Person verbietet es, ihn gegen seinen Willen zum Weiterleben zu nötigen, wenn seine Gründe uns nicht überzeugen. Denn das, worauf solche Nötigung zielt, ist nicht das Weiterexistieren seiner Person in ihrer unverwechselbaren Individualität, wie sie sich in seinem Willen ausdrückt, sondern das Weiterexistieren von etwas, über dessen Individualität wir uns hinwegsetzen. Weil menschliches Leben immer das Leben von menschlichen Personen ist, hat die Erhaltung menschlichen Lebens da ihre definitive Grenze, wo sie sich gegen die betreffende Person wendet. Das ist der Konflikt zwischen gebotener Lebenserhaltung und gebotener Achtung der Person eines Suizidwilligen und ihres Willens, den jeder kennt, der einmal mit der Suizidabsicht eines anderen Menschen konfrontiert gewesen ist. Nach dem Gesagten hat in diesem Konflikt das Gebot der Achtung der Person unbedingten Vorrang.
Was aber das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe betrifft, das ja Anlass war für das Urteil des Verfassungsgerichts, so dürfte mit dem Gesagten deutlich geworden sein, wo hier das eigentliche Problem liegt. Wenn das Gebot der Lebenserhaltung seine Grenze hat im Gebot der Achtung der Person, dann besteht das Motiv, einen Suizid zu akzeptieren oder gar Beihilfe hierzu zu leisten, in etwas absolut Singulärem, nämlich der betreffenden Person in ihrer unverwechselbaren Individualität, wie sie sich in ihrem Willen ausdrückt. Hierin ist das unauflösbare Dilemma begründet, in das alle Versuche verstrickt sind, die assistierte Selbsttötung für jedermann zu gewährleisten, der diese für sich wünscht: Wie soll sichergestellt werden können, dass eine Handlung, die ihren einzig legitimen Grund je und je aus der Individualität der Person bezieht, der sie gilt, für jeden verfügbar ist, der diese Handlung wünscht? Die Fronten in der Kontroverse um die assistierte Selbsttötung verlaufen entlang der beiden Seiten dieses Dilemmas. Auf der einen Seite stehen diejenigen, für die Suizidbeihilfe nur je und je im Einzelfall legitim ist aus dem Motiv der Achtung der Person des Suizidwilligen. Das ist die Position der Orientierungshilfe «Wenn Menschen sterben wollen». Auf der anderen Seite stehen diejenigen, denen es angesichts der Not derer, die ihr Leben beenden wollen, aber keine Möglichkeit hierzu haben, auf die allgemeine Verfügbarkeit der Suizidbeihilfe ankommt und die daher für die Zulassung der geschäftsmäßigen Sterbehilfe plädieren. Um diese Verfügbarkeit geht es dem Bundesverfassungsgericht, und es fordert sie ein mit der fragwürdigen Behauptung eines Rechts eines jeden auf Suizid.
Die Kirchen sind nun eingeladen, bei der gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe mitzuwirken. Wie es aussieht, tun sie sich damit nicht leicht. Das hat seinen Grund darin, dass sie sich in ethischer Hinsicht auf ein kompromissloses Eintreten für das Leben festgelegt haben. In diesem Sinne haben sie sich öffentlich positioniert. Dementsprechend sehen sie die Aufgabe in der Verhinderung von Suiziden durch Suizidprävention, Ausbau der Palliativmedizin, Hospizarbeit usw. Um all das geht es in der Tat. Doch welchen Stellenwert messen die Kirchen dabei der Achtung der Person eines Suizidwilligen zu? Sind für die Kirchen Suizide lediglich etwas, das verhindert werden muss, und das da, wo es nicht hat verhindert werden können, ein schreckliches Übel ist? Oder sind sie auch etwas, das im Einzelfall akzeptiert, ja ermöglicht werden muss aus Achtung der Person eines Suizidwilligen? Dürfen Menschen, wenn sie sich kirchlichen Einrichtungen anvertrauen, auf solche Achtung hoffen? Oder müssen sie, um solche Achtung zu finden, kirchliche Einrichtungen wieder verlassen mit der möglichen Folge, dass sie sich an eine Sterbehilfeorganisation wenden? Gerade die Kirchen sollten eine besondere Sensibilität dafür haben, was Personen geschuldet ist. Ist doch das Konzept der Person mit allem, was es in sich schließt, aus der christlichen Theologie hervorgegangen.
Johannes Fischer
Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.