Sprachlos und hilfebedürftig

Warum es nottut, die Angehörigen von Suchtkranken zu unterstützen
Arbeit mit Suchtkranken
Foto: akg-images/Neil Webb
Der schlimmste Satz in der Arbeit mit Suchtkranken lautet: „Meine Kinder haben nichts mitbekommen.“

Depressionen, Angststörungen und psychosomatische Beschwerden – viele Kinder und Partner von Suchtkranken leiden. Der Bielefelder Psychotherapeut Jens Flassbeck beschreibt, warum es für Angehörige so schwierig ist, über ihre Situation zu sprechen. Er fordert eine Erneuerung der Suchthilfe, damit sich diese mit anderen Hilfesystemen besser vernetzen kann.

Sucht ist eine zerstörerische Krankheit. Doch die uneinsichtig Suchtkranken schädigen nicht nur sich selbst, sondern reißen ihr näheres soziales Umfeld mit in den Abgrund. Gerade übermäßiger Alkoholkonsum hat die größte sozial schädigende Wirkung, schlimmer noch als Heroin- oder Kokainkonsum. Vor allem Kinder, aber auch Partner oder Eltern von Suchtkranken leiden unter den Auswirkungen. Das Thema ist jedoch gesellschaftlich tabuisiert. Selbst in der Suchthilfe mangelt es an Kenntnissen und Erfahrungen sowie an einem Konsens, sich der Angehörigen anzunehmen. Schwerpunktmäßig arbeite ich als Psychotherapeut in eigener Praxis mit Angehörigen von Suchtkranken. Derzeit behandele ich 23 erwachsene Kinder aus Suchtfamilien, mehrheitlich Frauen im Alter zwischen 19 und 60 Jahren, die unter komplexen Traumafolgestörungen leiden. Darüber hinaus sind fünf Partnerinnen, vier Mütter und eine Schwester von Suchtkranken zu verzeichnen. Typischerweise leiden diese unter Depressionen, Angststörungen und psychosomatischen Beschwerden. Zwischen den aufgezählten Personengruppen gibt es indes eine Schnittmenge. Ein Drittel der Kinder aus Suchtfamilien entwickelt im späteren Leben selbst eine Suchterkrankung, vornehmlich die Jungen, was als süchtige Transmission bezeichnet wird. Ein weiteres Drittel entwickelt andere psychische Störungen. Diese „stillen Kinder“ sind mehrheitlich Mädchen. Sie sind hoch angepasst, eigenständig und frühreif, und sie verstecken sich und ihre Leiden. Zu lächeln, gleichgültig wie weh es tut, zu schweigen und nicht aufzufallen, ist ihre Strategie, in einer unwirtlichen und feindseligen Umgebung aufzuwachsen. Als erwachsene Frauen neigen sie co-abhängig dazu, sich suchtkranke Partner zu suchen. Dass aus diesen Partnerschaften wiederum Kinder entstehen, die ebenfalls gefährdet sind, selbst suchtkrank oder co-abhängig zu werden, ist die Fortsetzung der tragischen Geschichte. Geschätzt die Hälfte aller Partner und Eltern, die ich in zwanzig Jahren Berufspraxis behandelt habe, haben eine Kindheit in einer Suchtfamilie erlitten. Ich nenne diese transgenerative Weitergabe die co-abhängige Transmission.

Frau L. ist mit alkoholkranken Eltern aufgewachsen. Mit Anfang zwanzig kommt ihr Sohn zur Welt. Der Vater ist drogen- und spielsüchtig. Sie trennt sich zwar nach vielen Jahren des ehelichen Chaos von ihm, doch muss sie noch Jahre seine Schulden abzahlen. Dann entwickelt der Sohn ebenfalls eine Spielsucht. Mit vierzig Jahren wohnt er immer noch bei ihr, sie kocht für ihn, putzt sein Zimmer, lässt sein Auto reparieren und zahlt seine Rechnungen. Als Frau L. in Therapie kommt, hat sie über sechzig Jahre die Last der Verantwortung für Suchtkranke getragen. Sie ist dermaßen erschöpft, dass sie sich nicht fühlt.

Folgenschwerer Horrorkatalog

Sucht ist eine weitverbreitete Krankheit. Ungefähr drei Millionen Alkoholkranke gibt es in Deutschland. Die Zahl der Medikamentenabhängigen ist nicht genau bestimmt, die Dunkelziffer ist hoch, weil viele ihre Droge auf Rezept erhalten. Spielsucht und illegale Drogen zählen noch einmal einige hunderttausende Betroffene. Suchtkranke sind viele, Angehörige sind alle anderen. Fast jeder begegnet irgendwann im Leben als Angehöriger, Freund oder Arbeitskollege der Sucht. Geschätzt leben aktuell drei Millionen Kinder in Suchtfamilien, somit ist ungefähr jedes sechste Kind betroffen. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien soll es zwischen fünf und sechs Millionen geben.

Ein Drittel der Kinder aus Suchtfamilien geht gesund ins Leben, sie gelten als resilient. Doch dies sind die Kinder, die es weniger schlimm getroffen hat. Kinder mit nur einem suchtkranken Elternteil haben zum Beispiel ein geringeres Erkrankungsrisiko als Kinder, bei denen beide Elternteile süchtig betroffen sind. Ein nicht suchtkranker Elternteil oder Großeltern kompensieren in vielen Fällen die Belastungen. Auch haben Kinder, deren Eltern die Sucht überwinden, solange die Kinder klein sind, kein erhöhtes Risiko, sucht- oder psychisch krank zu werden. Die Zahlen der aktuell betroffenen Partner und Eltern wurden leider bislang nicht epidemiologisch bestimmt. Die Sucht an sich ist ausschließlich schädigend für die Suchtkranken. Die Angehörigen leiden unter den Folge- und Begleiterscheinungen. Ein „Horrorkatalog“ von sozialschädigenden Auswirkungen geht mit chronischer Sucht einher: dauerhafter Stress und Streit, emotionale Vernachlässigung, Deprivation, psychische und physische Übergriffigkeiten, Parentifizierung, sexueller Missbrauch, Familienzerrüttung, Arbeitslosigkeit, Armut, sozialer Abstieg, Kriminalität und familiäre Isolation.

Statt den Hilfebedarf zu erkunden und tätig zu werden, hat sich die Suchtforschung und -politik in den vergangenen zwanzig Jahren allein dadurch hervorgetan, einen polemischen Diskurs über die angebliche Schädlichkeit des Selbsthilfe-Konzepts der Co-Abhängigkeit zu führen und sich ansonsten zum Thema auszuschweigen. Mir fällt dazu das Sinnbild der drei Affen ein: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Bereits die Anonymen Alkoholiker haben in den 1950er-Jahren erkannt, dass Angehörige ebenfalls leiden und solidarische Unterstützung benötigen, und sie haben entsprechende Selbsthilfegruppen gegründet (Al-Anon, Al-Ateen). Zudem hat es in den 1980er-Jahren eine Flut von Büchern zur Angehörigenproblematik gegeben. Wiederkehrend berichten mir Angehörige, wie sie von Suchtberatungen, aber auch von Psychotherapeuten wieder weggeschickt wurden, an die sie sich hilfesuchend gewendet haben. Uneinsichtige Suchtkranke, uneinsichtiges Hilfesystem?

Die 40-jährige Frau P. hat nie Annahme und Liebe erfahren, stattdessen ist sie mit Feindseligkeiten und Gewalt durch die drogenabhängigen Eltern groß geworden. Sie leidet unter einer ausgeprägten Posttraumatischen Belastungsstörung mit Albträumen, Labilität, Ängsten, Depressionen, Schreckhaftigkeit, Dissoziationen und sozialer Isolation. Im Eingangsgespräch berichtet sie, dass sie mit zwanzig Jahren eine Psychotherapeutin aufgesucht habe, um Hilfe zu erhalten. Die Therapeutin habe sie mit der Bemerkung weggeschickt, dass die Eltern krank seien und es ihre Aufgabe sei, ihnen zu helfen. Danach habe sie Therapeuten gemieden. Ihr Bruder habe sie lange ermutigt, es doch noch einmal zu versuchen.

Eine Kollegin aus einer Suchtberatung vertraute mir an, dass sie bei Jugendlichen aus Suchtfamilien die Diagnose schädlicher Gebrauch von Medikamenten angibt, da diese nicht stigmatisiert und gleichzeitig dafür sorgt, dass sie im Rahmen ihrer institutionellen Gebundenheit überhaupt helfen darf. Ihre Zivilcourage gefällt mir, eine Lösung ist es nicht. Die Jugend- und Familienhilfe hat das Problem auf dem Schirm, so ist meine Erfahrung. Es ist die Suchthilfe, die um die „armen Suchtkranken“ rotiert und nicht in der Lage ist, über den Tellerrand zu schauen und sich ihrer Verantwortung zu stellen. Durchaus gibt es einzelne Suchtberatungs- und Suchtpräventionsstellen, die sich couragiert für Angehörige engagieren. Diese Leuchtturmprojekte zeigen auf, dass viel mehr möglich wäre. Die Angehörigen tragen mit ihrer Sprachlosigkeit ungewollt zu der gesellschaftlichen Tabuisierung bei. Zwei spezifische Mechanismen von Suchtfamilien sind dafür verantwortlich: Tabuisierung und Beschämung. Sucht haftet ein Stigma des persönlichen und familiären Versagens an. Nicht der sichtbare Säufer hinter der Tankstelle oder im Park ist repräsentativ, sondern der funktionierende Familienvater, der abends nach Feierabend heimlich zulangt. Sucht findet überwiegend hinter geschlossenen Türen der gut bürgerlichen Fassade statt und die ganze Familie beteiligt sich an der täglichen Scheinheiligkeit, eine heile Welt vorzuspielen. Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen – niemand darf etwas mitbekommen. Die Kinder verinnerlichen das Versteck- und Tabu-Spiel schon im Windelalter.

Frau B. ist 25 Jahre alt und mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen. Es fällt auf, dass sie immer lächelt, selbst wenn sie über schlimme Dinge spricht. Sie berichtet, dass die Mutter bis heute streng darüber wacht, dass nach außen der Schein der glücklichen Familie aufrechterhalten wird. Besonders die sonntägliche Kaffee- und Kuchentafel erfährt sie als familiäre Inszenierung dieser Tragikomödie. Als ich die offensichtliche Problematik des Vaters beim Namen nenne: „Alkoholiker“, erschreckt Frau B. und zittert am ganzen Körper: „Sagen Sie das nicht. Vielleicht tue ich meinem Vater unrecht.“ Sie fühlt sich schuldig, die Familie zu verraten. Obgleich sie von Angst und Scham geflutet ist, lächelt sie.

Der schlimmste Satz in der Arbeit mit Suchtkranken lautet: „Meine Kinder haben nichts mitbekommen.“ Gehört habe ich ihn schon unzählige Male, und er macht mich bis heute wütend, weil er Realität verleugnet und Verantwortung abspaltet. Die Kinder bekommen von Geburt an alles mit. Sie sind emotional hoch empfänglich, aber sie können es nicht einordnen. In Suchtfamilien herrscht eine nebulöse Atmosphäre von Schuld und Scham. Eigentlich fühlt sich der Suchtkranke für sein süchtiges Handeln schuldig und auch der nicht-suchtkranke Elternteil schämt sich gegenüber der Familie, den Freunden und der Nachbarschaft. Aber niemand spricht darüber. Ganz im Gegenteil, häufig findet subtil ein Schwarzer-Peter-Spiel statt: „Wenn Du nicht trinken würdest, wäre alles gut“ und „So wie Du immer meckerst, brauche ich etwas, um mich zu beruhigen“.

Die Kinder inhalieren diese beschämte Atmosphäre jeden Tag und beziehen auch die wortlosen Vorwürfe in ihrer kindlichen Naivität auf sich. Sie denken, dass mit ihnen etwas nicht stimme und sie schuld seien. Nicht selten werden die Kinder auch zum Blitzableiter der elterlichen Schuldprojektion.

Der Vater verlässt die Familie, als Frau S. noch in den Kindergarten geht, und lässt sie bei der alkohol- und medikamentenabhängigen Mutter allein zurück. Er meldet sich nie wieder. Die Mutter beschimpft Frau S. täglich. An allem, was in den Augen der Mutter schiefläuft, ist sie schuld. Die mütterliche Drohung: „Du bist schuld, wenn ich mich umbringe“, macht sie bis heute gefügig. Frau S. denkt, „hässlich und schlecht“ zu sein.

Die Fürsorge für kranke Menschen ist ein eher weiblich assoziierter Wert. Es sind vor allem Frauen, die sich auf suchtkranke Männer einlassen, um ihnen zu helfen, und es sind psychisch labile Frauen, die bei den Männern bleiben, obwohl die Sucht chronifiziert und die Situation immer weiter eskaliert. Der Stress führt dazu, dass die psychischen Probleme der Frauen aufrechterhalten und verstärkt werden.

Frau N. wächst zunächst mit einem alkoholkranken leiblichen Vater, später mit einem trinkenden und gewalttätigen Stiefvater auf. Die Mutter beschreibt sie als kalt und lieblos. Mit 19 Jahren lernt sie ihren ebenfalls trinkenden Mann kennen. Nach dreißig Jahren suchtbelasteter Ehe sucht sie die Therapie auf, um sich zu trennen. Ich frage sie, warum sie sich damals auf ihren Mann eingelassen habe, obwohl ihr bewusst gewesen sei, was mit ihm ist, und warum sie solange bei ihm geblieben sei. Sie antwortet: „Ich habe immer gedacht, so schlimm ist es schon nicht.“ Nach der Trennung hat sie zwei Affären, beide Männer haben Alkoholprobleme. Erst jetzt beginnt sie darüber nachzudenken, was es mit ihr zu tun hat, dass sie immer auf trinkende Männer hereinfällt, die ihr berauscht das Blaue vom Himmel versprechen. Sie beginnt in der Therapie, ihre Selbstwertstörung aufzuarbeiten.

Auswegloses Dilemma

Auch Eltern von suchtkranken Kindern stecken in einem ausweglosen Dilemma: Sie kommen aus der elterlichen Verantwortung nicht heraus. Oftmals machen es sich die Nicht-mehr-Kinder im Hotel Mama bequem, gehen der Sucht nach und lassen sich bedienen. Diese Problematik ist ebenfalls weiblich. Väter werfen erwachsene Kinder eher heraus. Die Mütter plagt hingegen das schlechte Gewissen, als Mutter versagt zu haben. Sie reiben sich im Kampf um das in ihren Augen Immer-noch-Kind auf. Fortwährende Sorgen und Ängste, depressive Entwicklungen und psychosomatische Erschöpfung sind die Folge.

Es ist eine wiederkehrende Erfahrung, dass Angehörige erst psychisch zusammenbrechen, nachdem sie sich von dem Suchtkranken distanzieren, also wenn Kinder das süchtige Elternhaus verlassen, es zur Trennung kommt oder Eltern ihr suchtkrankes erwachsenes Kind vor die Tür setzen. Dann sind die Betroffenen auf sich selbst zurückgeworfen, und es wird ihnen bewusst, was sie mit sich machen lassen haben. Die sogenannte Heilungskrise dauert gewöhnlich viele Monate, manchmal Jahre und ist notwendig, damit die Betroffenen sich befreien, zu sich finden und ihr Leben zurückerobern können. In der Krise benötigen sie Hilfe durch liebevolle Zuwendung und tatkräftige Unterstützung von Familie und Freunden, durch den solidarischen Austausch mit anderen Betroffenen in der Selbsthilfe oder durch professionelle Beratung, Prävention, Therapie sowie Jugend- und Familienhilfe. Was für eine Chance, die Suchthilfe ganz neu zu erfinden und mit anderen Hilfesystemen besser zu vernetzen.

 

Weitere Informationen

Jens Flassbeck: Ich will mein Leben zurück! Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 159 Seiten, Euro 17,–, www.nacoa.de, www.co-abhaengig.de.

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Foto: privat

Jens Flassbeck

Jens Flassbeck ist Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltens- und Gesprächspsychotherapeut. Er lebt in Bielefeld.


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