An die Zeit danach denken

Kinder, die durch Bildschirme rennen, Kontonummern und die Nachhaltigkeit

Es gibt zurzeit wahnsinnig viele Videokonferenzen, bei denen oft unverhofftes passiert. Zum Beispiel laufen Kinder durchs Bild. Das kann einen auf wertvolle Gedanken bringen, die hoffentlich nachhaltig sind, meint unser Online-Kolumnist Christoph Markschies.

Das kleine Forschungskolleg, das ich gemeinsam mit einer Kollegin und einem Kollegen leite, versammelt Fellows und Mitarbeitende jeden Donnerstag zu einer Teestunde, um die an sehr verschiedenen Aspekten des einen Themas „Zeit“ arbeitenden Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Unser kleines Zentrum kopiert damit wie viele andere Einrichtungen das „Institute for Advanced Study“ in Princeton, bei dem auch ein Nachmittagstee (übrigens mit Keksen und Äpfeln) die verschiedenen Disziplinen, die dort forschen, ins Gespräch bringt.

Im Augenblick sind die Berliner Universitäten und alle anderen Wissenschaftseinrichtungen der Stadt im Präsenznotbetrieb. Dieser Begriff meint, dass die Häuser geschlossen sind und nur noch wenige Menschen Zugang haben, um beispielsweise Tiere zu füttern oder nach den Heizungen zu sehen. Unsere Tee-Stunde halten wir seither als Videokonferenz; viele Fellows sind auch gar nicht mehr in Berlin, sondern von zu Hause zugeschaltet.

Da man natürlich schlecht eine richtige Tee-Runde als Videokonferenz simulieren kann (schließlich kann niemand einmal rasch mit Nachbarin oder Nachbar zur Linken reden), haben wir uns entschlossen, dass zu Beginn erst einmal jede und jeder von ihrer Situation berichtet und davon, was gerade gut geht und was nicht läuft.

Ich habe in den letzten Wochen die Erfahrung gemacht, dass man aus solchen Runden (die ich im Augenblick mehrfach in der Woche habe) ungemein viel lernen kann über die Lebenswelt anderer Menschen – und zwar nicht nur über die Lebenswelt in diesen Tagen einer Virus-Pandemie. Zwei Beispiele: Immer wieder einmal laufen bei diesen Videokonferenzen Kinder durch die vielen kleinen Bildschirme, die dicht gedrängt auf dem großen Schirm angeordnet sind, gelegentlich entschuldigt sich einer für die Geräusche des Presslufthammers aus der Nachbarwohnung oder eine Standuhr schlägt.

Ich finde es gut, dass jetzt wahrnehmbar Kinder durch das Bild laufen, denn sonst übersehen sie viele. Die Berliner Universitäten tragen zwar stolz jeweils das Sigel einer kinder- und familienfreundlichen Einrichtung, aber eigentlich müssen Eltern und Alleinerziehende normalerweise oft allein sehen, wie sie zurechtkommen. Besprechungen, Sitzungen und Tagungen werden beispielsweise meistens ohne jede Rücksicht auf die Kinder angesetzt. Jetzt sind die Kinder sichtbar und alle bekommen mit, dass sie möchten, dass man sich mit ihnen beschäftigt.

Und als jüngst die Bundes- und Landesregierungen beschlossen haben, die Kindergärten einstweilen weiter nur im Notbetrieb laufen zu lassen, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Die große Schar der Protestierenden bestand glücklicherweise nicht nur aus Menschen mit kleinen Kindern. Vielleicht waren einige von deren, die protestierten, durch die Kinder in den Videokonferenzen sensibilisiert worden.

Ein zweites Beispiel aus unserer Tee-Stunde: Am Ende unserer Runde stellen wir immer die Frage, ob es noch Wichtiges gibt, Anregungen oder Empfehlungen. Bei der letzten Video-Konferenz sagte eine Kollegin von der Freien Universität an dieser Stelle, dass man dort Geld sammelt für die Studierenden, die jetzt wegen des allgemeinen Lock down die Nebenjobs verloren haben, mit denen sie ihr Studium finanzieren: Kneipen sind geschlossen, Messen abgesagt, Geschäfte brauchen keine Aushilfen mehr. Der Solidaritätsfond des Berliner Studierendenwerks war nach wenigen Tagen erschöpft, weil über zwei Drittel der Studierenden so ihr Studium finanzieren und daher sofort Anträge auf Überbrückungsmittel stellen mussten.

Etliche Professorinnen und Professoren, die als Beamte weiter ihr Gehalt bekommen, als wäre nichts geschehen, spenden seither einen Teil ihres Gehaltes für notleidende Studierende. Sie spenden, weil sie plötzlich begreifen, wie privilegiert sie sind. Wieder wird in der Krise ein Problem sichtbar, dass man hätte auch schon vorher erkennen können: Wir haben zu wenig Stipendienmöglichkeiten für Studierende in unserem Land. Es wurde aber von vielen übersehen.

Zu einer komplexen Gesellschaft gehören vielfältige Interessen und Perspektiven. Um die teilweise konkurrierenden Interessen in Ausgleich bringen zu können, müssen sie erst einmal wahrgenommen werden. Das kann so geschehen, dass Interessengruppen sich melden und lautstark bemerkbar zu machen versuchen. Gegenwärtig, so scheint mir, stellt sich diese Situation wieder her und ich lese oder höre wieder viel von Interessengruppen. Das ist vermutlich unvermeidbar in einer so fragmentierten Gesellschaft wie der unsrigen.

Aber es ist auch notwendig, dass die, die Verantwortung tragen, schon vor dem lauten Rufen der Interessengruppen etwas bemerkt haben beispielsweise von den Nöten Alleinerziehender, von den Problemen von Eltern mit kleinen Kindern und Studierenden, die jobben müssen, um das Studium zu finanzieren. Man kann das alles bemerken, bevor die kleinen Kinder durchs Bild rennen und eine Kollegin auf eine Initiative für Studierende in Not hinweist. Und man sollte es bemerken, denn gegenwärtig rennen eben keine Flüchtlinge auf griechischen Inseln durch die Schirme unserer Video-Konferenzen und auch die neue Sensibilität hat ihre Einseitigkeiten.

Wir sollten für die Zeit nach der Corona-Krise, auch wenn das möglicherweise noch ziemlich lange hin ist, darauf achten, dass wir – wenn dann niemand mehr durchs Videobild rennt und die Notfonds auch ohne unsere Hilfe funktionieren – die neue Aufmerksamkeit für Gruppen, die Aufmerksamkeit brauchen, nicht schnell wieder verlernen.

Und wir sollten nach neuen Merkzeichen suchen: Wenn keine Kinder mehr durch den Bildschirm rennen, könnte man sich ja bemühen, in Sitzungen und Gremien andere Gelegenheiten zu schaffen, damit deren Eltern und damit diese Kinder zu Wort kommen. Es lohnt sich, jetzt an die Zeit danach zu denken und die Nachhaltigkeit unserer Einsichten aus diesen Krisentagen sicherzustellen.

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