Kein Kronzeuge
Martin Niemöller gehört im kollektiven Gedächtnis des Protestantismus zu den Ikonen des Widerstands gegen die Nazis. Dabei war allen Zeitgenossen klar, dass Niemöllers Lebensweg keineswegs geradlinig verlaufen war. Benjamin Ziemann, der Neuere deutsche Geschichte an der Universität von Sheffield lehrt, stellt in seiner jüngst erschienenen Niemöller-Biografie kritische Anfragen.
Nicht nur in der Bundesrepublik gilt Martin Niemöller (1892–1984) als die Verkörperung des Guten im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts. Niemöller ist als der „persönliche Gefangene des Führers“, der die Jahre 1938 bis 1945 in KZ-Haft verbrachte, zum weltweiten Symbol für den christlichen Widerstand gegen das NS-Regime geworden. Weithin bekannt ist auch sein Einsatz für die ökumenische Bewegung seit 1945. Schließlich ist auch der Pazifist Niemöller zu nennen, dessen Bild sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt hat. Als einer der Erstunterzeichner des Krefelder Appells 1980 wurde Niemöller im hohen Alter zum Gesicht der Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von US-Cruise Missiles, die Millionen von Bundesbürgern auf die Straßen brachte. Bereits zu seinen Lebzeiten war Niemöller so eine Ikone der Friedensbewegung.
Dabei war allen Zeitgenossen klar, dass Niemöllers Lebensweg keineswegs geradlinig verlaufen war. Er hatte zunächst den Beruf des Marineoffiziers eingeschlagen und diente dem kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkrieg mit Hingabe und professionellem Einsatz. Als Theologiestudent in Münster zog er 1920 mit einer Einheit von Zeitfreiwilligen zur Niederschlagung der Roten Ruhr-Armee in das Ruhrgebiet. In seinem Erinnerungsbuch Vom U-Boot zur Kanzel (1934) hat Niemöller dies als Beitrag zur Befreiung Deutschlands von der „Hölle des Bolschewismus“ bezeichnet. Nicht zuletzt mit Blick auf diese Zusammenhänge hat Klaus Theweleit in seinem Kultbuch Männerphantasien (1977/78) Niemöller zu jenen Freikorpsleuten gerechnet, die das faschistische Ideal des harten, gewaltbereiten Kämpfers verkörperten.
Schließlich konnte man auch die Predigten lesen, die Niemöller in der Gemeinde Dahlem in Berlin gehalten hatte, wo er seit 1931 Pfarrer war. Von der Dahlemer Kanzel gab er seit Februar 1933 seine Zustimmung zum Ziel der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft kund. Bekannt ist auch, dass Niemöller sich im September 1939 aus der Einzelhaft im KZ Sachsenhausen freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht meldete, denn die internationale Presse berichtete umgehend in großer Aufmachung über diese sensationelle Nachricht. Es gibt also seit langem genug Gründe, um kritische Anfragen an die Biografie Niemöllers und vor allem an seine Einstellungen und sein Verhalten in den Jahren bis 1945 zu stellen. Doch der positive Nimbus des Friedenskämpfers und Ökumenikers Niemöller ließ sich dadurch nicht erschüttern. Das hatte mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass Niemöller selbst nach 1945 das Motiv der Wandlung zentral in die Erzählung seines Lebenslaufes einbaute. Dies begann im Umfeld der Stuttgarter Schulderklärung der EKD vom Oktober 1945.
Motive der Wandlung
Wo immer Niemöller sich für die Annahme dieser Erklärung einsetzte, zögerte er nicht, von seiner persönlichen Schuld am Nationalsozialismus zu sprechen. Dabei blieb er stets vage, was Details anging, und so blieb dies mehr eine rhetorische Geste als eine tatsächliche Auseinandersetzung mit seiner eigenen Unterstützung des NS-Regimes. Aber die Geste zählte und galt als Beleg dafür, dass Niemöller sich fundamental gewandelt hatte. Ganz ähnlich funktionierte die Auseinandersetzung mit der militaristischen Vergangenheit des Marineoffiziers.
In seinen Reden im Rahmen der Friedensbewegung wies Niemöller oft auf den Fehler hin, dass er anders als sein Freund Heinz Kraschutzki – der mit ihm 1910 als Seekadett in die Marine eingetreten war – erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Pazifisten geworden war. Seine quasi offizielle Beglaubigung fand das Motiv der Wandlung dann im Niemöller-Gedicht: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. (…) Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Kaum ein Tag vergeht heute, ohne dass diese Zeilen als ein Beispiel für die Notwendigkeit der Zivilcourage zitiert werden. Und dabei gilt Niemöller selbst dann als leuchtendes Beispiel für solche Courage.
Der zweite wichtige Grund für die andauernde Geltung eines positiven Niemöller-Bildes ist allerdings die Naivität vieler Protestanten, und zwar gerade solcher im kirchlichen Dienst. Viele Pfarrer der heute älteren Generation haben Niemöller noch in den 1960er- und 1970er-Jahren persönlich getroffen, als Schüler und Studenten oder im Rahmen der Friedensbewegung. Präsentierte sich dort nicht ein engagierter Protestant, der sich aus seinem Glauben heraus für progressive Ziele wie die Abrüstung oder die Ökumene einsetzte? Und wenn es in der Rückschau Zweifel gab, so half ein Blick ins Bücherregal. Dort finden sich all jene Reden, Predigten, Denkanstöße, mit denen Niemöller in den letzten beiden Jahrzehnten für eine linke Politik warb, Texte, die auch heute noch ein positives – aber eben stark selektives – Bild von Niemöllers Wirken vermitteln. Ein dritter Grund für das immer noch stark verklärte Bild von Niemöller liegt allerdings – um es deutlich zu sagen – in der unkritischen, hagiographischen Einstellung seiner bisherigen Biografen. Der erste Hagiograph Niemöllers war sein jüngerer Bruder Wilhelm. Als Pfarrer in Bielefeld tätig, verfasste er nebenbei seit 1945 zahlreiche Bücher und Broschüren, in denen er kritische Wendepunkte aus der Arbeit seines Bruders im „Dritten Reich“ in wohlwollendem Licht erscheinen ließ.
Spätere Biografen sind vielen der von Wilhelm Niemöller ausgelegten Deutungsangebote gefolgt, wie etwa der These, die freiwillige Meldung zur Wehrmacht sei ein Versuch gewesen, sich dem militärischen Widerstand gegen Hitler anzuschließen. Der englische Kirchenhistoriker James Bentley (1985) stützt sich fast ausschließlich auf Gespräche, die er kurz vor dessen Tod mit Martin Niemöller führte, und gibt so dessen geschönte Erinnerungen wieder. Michael Heymel (2017) behauptet zwar, den umfangreichen Nachlass Niemöllers ausgewertet zu haben. Tatsächlich verwendete er persönliche Dokumente aus dem Nachlass nur für die Zeit nach 1945. Für die kritischen Jahrzehnte bis 1945 stützte er sich oft auf Bentley, zitiert aber auch gerne aus Vom U-Boot zur Kanzel, ohne die Problematik dieses Buches quellenkritisch zu reflektieren.
Auf dieser schmalen Materialbasis sind den bisherigen Biografen wichtige Zusammenhänge entgangen. So etwa Niemöllers radikale Hass- und Vernichtungsfantasien gegen die Engländer während des Ersten Weltkrieges, die sein radikalnationalistisches Weltbild konturieren. Oder die Tatsache, dass Niemöller ein Faschist der ersten Stunde war, der im Juni 1920 dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund beitrat, dem ersten faschistischen Massenverband der deutschen Geschichte.
Dafür musste Niemöller seine „arische“ Abstammung beglaubigen, was er 1933 in den Kontroversen um den „Ariernachweis“ in der Evangelischen Kirche in Preußen selbstredend geflissentlich verschwieg. Dies ist nur ein Beleg für den völkisch-rassistischen Antisemitismus, den er als Studentenpolitiker in Münster vertrat, und den er erst 1932 theologisch reflektierte und überwand. Doch auch nach 1932, und weit über 1945 hinaus, zeigt sich bei Niemöller ein gesellschaftlich-kultureller Antisemitismus. Er fand in obsessiven Vorstellungen über den übergroßen Einfluss der Juden seinen Ausdruck, so etwa während Niemöllers langer USA-Reise 1946/47.
Auch in anderen Fragen müssen die mit Goldrähmchen versehenen Deutungen der bisherigen Biografen der „Vetogewalt der Quellen“ (Reinhart Koselleck) weichen. Niemöller meldete sich im September 1939 freiwillig zur Wehrmacht, weil er der deutschen Nation im Kriegsfall mit der Waffe in der Hand beistehen wollte. Diese Motivlage geht glasklar auch daraus hervor, dass er im Juni 1943 erneut eine freiwillige Meldung erwog, und zwar ausdrücklich mit Blick auf die aus deutscher Sicht katastrophale Lage an den Fronten. Die Dokumente aus der KZ-Haft in Dachau widerlegen auch jene von Niemöller nach 1945 oft vertretene Mär, er habe dort im Gespräch mit Kommunisten und Juden seine nationalistische Grundeinstellung überwunden. Einmal abgesehen davon, dass es im Zellenbau des KZ Dachau, wo er inhaftiert war, keine jüdischen oder kommunistischen Häftlinge gab: Die antibolschewistische Grundhaltung Niemöllers blieb bis 1945 genauso konsistent wie sein Nationalismus. Mit Schaudern und Erschrecken notierte er, dass die Wehrmachtstruppen vor der Roten Armee zurückweichen mussten. Noch im Moment der Befreiung aus dem KZ interpretierte er die Niederlage der deutschen Nation als „Untergang des Abendlandes“.
Auch für die Zeit nach 1945 fördert der Gang durch die Archive vieles zutage, das dem verbrämten Bild eines um die Anerkennung deutscher Schuld bemühten Niemöller widerspricht. Denn in seinen ersten Äußerungen gegenüber Vertretern der US-Besatzungsmacht tat Niemöller kund, dass sich die „Frage der Schuld“ für ihn gar nicht stelle. Stattdessen erging er sich in einer aggressiven Opferrhetorik, der zufolge die Alliierten das deutsche Volk ausrotten wollten. Seine Thematisierung der Schuldfrage hatte so einen instrumentellen Charakter, sie diente dazu, den Deutschen neben dem Weg in die Ökumene auch den Zufluss von Hilfsgütern zu sichern. Als eine neuerliche Kontroverse um antisemitische Äußerungen Niemöllers 1947 Wellen schlug, brach seine Erörterung der Schuldfrage abrupt ab. Auch andere Aspekte von Niemöllers politischer Tätigkeit nach 1945 müssen weitaus kritischer beurteilt werden, als es bisher geschehen ist. Dazu zählt unter anderem seine anhaltende Reserve gegenüber der pluralistischen Parteiendemokratie der Bundesrepublik. Diese überzog er mehr als einmal mit hämischen Kommentaren, welche die politisch-moralische Differenz zum „Dritten Reich“ einebneten.
Verklärte Leitfigur
Aus all diesen Gründen ist es problematisch, Niemöller weiterhin zum Kronzeugen für das Lernen der Deutschen aus ihrer Vergangenheit im „Dritten Reich“ und für die progressive politische Identität der Protestanten in der Bundesrepublik zu machen. Es gibt vielmehr Anlass zur Reflexion darüber, warum sich Niemöller in der Bundesrepublik kaum noch kritischen Nachfragen zu seinen politischen Anschauungen vor 1945 stellen musste, und zwar gerade aus jenen Kreisen evangelischer Christen, die sonst stets auf eine kritische Aufarbeitung der NS-Zeit drängten. Offenkundig war Niemöller als hagiographisch verklärte Leitfigur des angeblich widerständigen Protestantismus zu wichtig, um solch einem prüfenden Blick ausgesetzt zu werden.
Heißt dies nun auch, dass die evangelische Kirche sich gar nicht mehr weiter mit Niemöller identifizieren sollte, wie dies der Kirchenhistoriker Gerhard Besier unlängst gefordert hat? Diese Frage kann der Historiker nicht für die Kirche beantworten. Sie sollte in kirchlichen Kreisen diskutiert werden. Gerade für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau – deren erster Kirchenpräsident Niemöller von 1947 bis 1964 war – besteht hier dringender Handlungsbedarf. Denn es gibt noch keine Anzeichen dafür, dass das in Hessen-Nassau bislang so sorgsam gepflegte Bild der Ikone Niemöller dort kritisch diskutiert würde.
Benjamin Ziemann
Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Universität von Sheffield.