Klänge von Auferstehung

Ostermusiken von Telemann, Bach und Schütz
Kirchenfenster Berlin-Gesundbrunnen von Otto Bartning
epd / Ralf Mauro
Altarfenster in der Himmelfahrtskirche in Berlin-Gesundbrunnen. Die Kirche und das Altarfenster wurden 1954 von Prof. Otto Bartning gestaltet und erbaut.

Am Ostersonntag ändert sich alles – besonders auch die Musik! Zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick stellt ein paar Ostermusiken vor, zum Beispiel „Die Auferstehung“ von Georg Philipp Telemann und Osterkantaten von Johann Sebastian Bach. Klänge, die in Zeiten der Pandemie zwar nur selten live, aber wenigstens digital erlebt werden können. Ein Osterartikel zum Lesen und Hören:

 

Am Anfang ist der Nebel. Ein klingender Nebel durch auf- und absteigende Dreiklangskalen, in Dur zwar, aber in tiefsten Tiefen gezupft vom Cello und vom Kontrabass. Tiefe Streicherschritte, über die die Violinen zwei edle Seufzermotive legen: Schrumm-ti-tummSchrumm-ti-tumm, bevor sie in das Skalenspiel der tiefen Streicher einstimmen, das Ganze mündend in das dritte Seufzermotiv. Und dann? Dann tönt eine einzelne Sopranstimme in die Finsternis hinein: Du tiefe, tote, grauenvolle Stille ..., wobei der Septimsprung von „-te“ zu „grau-“ einen Effekt zeitigt, der durch Mark und Bein geht.

Erschütternd schön ist er, der Beginn des Oratoriums „Die Auferstehung“, ein Spätwerk, das Georg Philipp Telemann 1761 im Alter von 80 Jahren komponierte. Mit diesem Werk feierte der damalige Hamburger Musikdirektor auch persönlich eine Art Auferstehung, nachdem er in den Jahren zuvor häufiger krank gewesen war und schon seinen Patensohn Carl Philipp Emanuel Bach als Nachfolger in Stellung gebracht hatte. Doch zu früh, erst als Telemann 1767 gestorben war, übernahm der zweitälteste Bachsohn sein Amt.

„Die Auferstehung“ ist ein halbstündiges kleines Oratorium, dessen Libretto Friedrich Wilhelm Zachariae (1726–1777) verfasste, ein Dichter, mit dem Telemann in seinen letzten Lebensjahren gerne zusammenarbeitete, denn der junge Poet schrieb originelle Texte, die Telemanns Tonkunst beflügelten. „Die Auferstehung“ war über zwei Jahrhunderte lang völlig vergessen. Ein Schicksal, das sie mit fast allen kirchenmusikalischen Werken Telemanns – es sind von ihm allein etwa 1750 (!) geistliche Kantaten überliefert! – teilt. Erst jetzt wird dieses gewaltige Werk in Teilen wieder erschlossen und aufgeführt. Das Telemann-Gedenkjahr 2017 bedeutete in dieser Beziehung zumindest einen kleinen Schub nach vorn.

Anders als Telemann erfreut sich das Werk Johann Sebastian Bachs schon seit fast zweihundert Jahren, seit der spektakulären Wiederaufführung der Matthäuspassion im Jahre 1829 durch den jungen Felix Mendelssohn, großer Beliebtheit und scheint ausreichend vermessen. Doch verglichen mit der nahezu kanonischen Stellung des Weihnachtsoratoriums, der H-moll-Messe und der beiden großen Passionen im Konzertleben sind Bachs Ostermusiken verhältnismäßig unbekannt. Das liegt wohl in erster Linie daran, dass diese Werke nicht abendfüllend sind, denn es handelt sich um Kantaten, die im Einzelnen nur zwischen gut zehn und knapp dreißig Minuten lang sind. Für das Osterfest selbst und den anschließenden Sonntag Quasimodogeniti, also den engeren Osterfestkreis, sind sieben Kantaten aus verschiedenen Schaffensepochen überliefert.

Die bekannteste ist sicherlich die Choralkantate „Christ lag in Todesbanden“(BWV 4). Das Werk gehört mit der „Actus tragicus“ genannten Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (BWV 106) zu den frühesten Werken Bachs. Sie entstanden mutmaßlich in Mühlhausen oder sogar in Arnstadt, wo Bach seine erste Organistenstelle versah, in den Jahren 1706 oder 1707.

Obwohl zwischen der eingangs erwähnten „Auferstehung“ von Telemann und Bachs früher Osterkantate mehr als ein halbes Jahrhundert liegen und sie stilistisch absolut unterschiedlich sind, gibt es einen gemeinsamen Affekt, der sich in vielen Ostermusiken des 17. und 18. Jahrhunderts feststellen lässt: nämlich ein zwiespältig, zögerlich anmutender Beginn, eine Art Klangnebel, wie wir es eingangs in Telemanns Werk nannten. In der frühen Bachkantate steht am Beginn eine kurze Instrumentalsinfonia, die damit beginnt, dass die Streicher jeweils zweimal spanungsvoll den ersten Halbtonschritt des alten Lutherchorals „Christ lag in Todesbanden“ zelebrieren, bevor dann die ganze Choralzeile erklingt. Die Komposition legt nahe, dass dies die zwei Tage Grabesruhe Christi andeuten soll (Christ lag …), bevor dann beim dritten Mal, also am dritten Tag, die Sache überstanden ist (Christ lag in Todesbanden …).

Zu hören ist also in beiden Werken, in Bachs früher Kantate wie in Telemanns spätem Oratorium, die Abfolge vom Dunkel zum Licht, und rein emotional ist der Beginn der „Auferstehung“ dem Beginn der Bachkantate ähnlich: Telemann deutet mit zwei gleichartigen Sequenzen die zwei Tage Grabesruhe an, bevor dann der dritte Tag, der Tag der Auferstehung mit den Worten des Soprans anbricht, der Maria Magdalena symbolisiert, die zum Grab kommt und deren Text dann den Übergang ihrer tiefsten Trauer und Verzweiflung – Du tiefe, tote, grauenvolle Stille ums heilige Grab, um des Geopferten, des Gottversöhners Grab, verhülle mich! Verhülle mein Herz in Traurigkeit, mein Aug’ in Nacht! Soll ich den Toten seh‘n, seh‘n den Verbluteten, am Holz Verbluteten! Wer wälzet mir vom Grab den Felsen ab? Doch nein, das Grab ist offen, leer! Wie schaudert’s mich! Auch nicht den Toten mehr … – zu urplötzlich in fröhlichem C-Dur hereinbrechenden Osterfreude des einfallenden Jubelchores markiert: Der Herr ist erstanden, ihn halten die Banden des Todes nicht mehr. Die Sünd‘ ist verschlungen, der Tod ist bezwungen, Halleluja dem Gottmensch, dem Sieger des Todes, dem ewigen Sohn!

Telemann vertont die Szene am Ostermorgen, als Maria Magdalena zum Grab geht, um einen Leichnam zu salben und erschreckt, weil der Leichnam nicht mehr da ist (Johannes 20, 1). Bei Bach trägt die Sinfonia zunächst den Modus des Trauernden und des Diffusen zwischen Licht und Finsternis, der dann durch die frohe, wenn auch streng gesetzte und zwischen Dur und Moll changierende erste Strophe des Lutherschorals abgelöst wird. Es ist das Zugleich von Tod und Leben, die Ambivalenz zwischen Verzweiflung und Hoffnung, die die Dynamik von Passion und Ostern, von Tod und Leben, antreibt.

In der einleitenden Sinfonia der frühen Bachkantate steckt noch viel kunstvoller Inhalt, den man bestaunen, wenn auch leider nicht hören kann, worauf jüngst der Bachforscher Konrad Klek hingewiesen hat: Die knapp eineinhalb Minuten Musik besteht aus 14 Takten. Für Klek ein Hinweis darauf, dass Bach seinen Namen dort versteckt hat, denn nach dem barocken Zahlenalphabet, die die einzelnen Buchstaben alphabetisch durchnummeriert, weist die Zahl 14 auf die Buchstabensumme von b-a-c-h hin (= 2+1+3+8). Doch damit nicht genug! Auch die beiden Außenstimmen, also die erste Violine und die Bassstimme, nehmen mit vier mal 14 beziehungsweise drei mal 14 Tönen auch auf die b-a-c-h-Zahl 14 Bezug, und die Gesamtsumme der Töne der Sinfonia, nämlich 236, also zweimal 118, verweise gleichsam „intonierend“ auf den Vers 24 des Osterpsalms 118 (Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein!), der in der ersten Choralstrophe anklingt (…des wir sollen fröhlich sein), die in Bachs früher Osterkantate als sehr bewegter Chor der Sinfonia folgt (Christ lag in Todesbanden / für unsre Sünd gegeben, / er ist wieder erstanden / und hat uns bracht das Leben; des‘ wir sollen fröhlich sein, / Gott loben und ihm dankbar sein / und singen halleluja). Faszinierend, wenn auch leider nicht zu hören, sondern nur zu zählen …

Beim Hören dieser Ostermusiken aber erfahren viele Menschen, wie Musik große Kraft entfaltet und dabei helfen kann, Unsicherheit und Zweifel zu überwinden und so dem Geheimnis der Botschaft von Kreuz und Auferstehung näher zu kommen. Der Beginn der beiden eben beschriebenen Werke, die über ein halbes Jahrhundert auseinander liegen, illustriert dies in eindrücklicher Weise: tröstlich, heilsam und schlicht schön.

Zwei weitere interessante Osterkantaten wurden in Bachs Leipziger Zeit für den Sonntag nach Ostern geschrieben, den Sonntag Quasimodogeniti. Beide nehmen wie Telemann in seiner „Auferstehung“ als Aufhänger die Szene, die im Johannesevangelium der Entdeckung des leeren Grabes in Jerusalem folgt (Johannes 20, 19–22), aber die Deutungen in den beiden Kantaten loten die Sinntiefe dieser Erscheinung völlig unterschiedlich aus.

Stürme des Lebens

In der Kantate „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ (BWV 67) wird die Funktion des Auferstandenen als Schirmer und Schutzherr der Gläubigen in den Stürmen des Lebens inszeniert: Der fünfte Satz wird zu einem Kampfplatz, und zwar mit einem überaus bewegten, ja kampfeslustigen Einsatz der Streicher in Form einer Battaglia. Diese kann durchaus auch heute als klingender Lärm jenes Kampfes gehört werden, dem Christen in der Welt mit und um ihren Glauben ausgesetzt sind.

Dieses musikalische Schlachtengetümmel wird jäh abgelöst durch wunderbar-friedvolle, pastoralartige Holzbläserdreiklänge und die Bassstimme, traditionell die Vox Christi, singt dreimal „Friede sei mit Euch!“ Ihr antworten die übrigen drei Stimmen Sopran, Alt und Tenor im Terzett, erfreut, aber wieder vom kämpfenden Streicherklang überwölbt: „Wohl uns! Jesus hilft uns kämpfen und die Wut der Feinde dämpfen, Hölle, Satan, weich!“ bis das Geschehen erneut in den friedvollen Pastoralklängen mit dem dreimaligen Friedensgruß der Vox Christi einmünden, auf den wieder das Terzett mit dem hoffnungsfrohen Ausblick anhebt: „Jesus holet uns zum Frieden und erquicket in uns Müden Geist und Leib zugleich.“

Schließlich erklingt zum dritten Mal der dreimalige pastorale Friedensgruß, dem folgend das Terzett dann die große und wichtigste Bitte aller Christenmenschen formuliert: „O Herr, hilf und lass gelingen, durch den Tod hindurch zu dringen in dein Ehrenreich!“. Während das dreistimmige „O Herr“ erklingt, singt die Vox Christi dazu noch zweimal „Friede sei mit Euch“, bevor das Stück dann mit der vierten Runde der dreimaligen pastoralen „Friede-sei-mit-Euch“-Klängen der Vox Christi endet, wobei am Ende die Streicher in die zärtlich wogenden Oboenklänge einfallen – der gute Hirt hat gesiegt. Je öfter man diesen Satz der Kantate BWV 67 hört, desto komplexer, vielschichtiger und tiefer wird diese musikalische Inszenierung der Erscheinung des Auferstandenen nach Johannes 20!

Formal einfacher, aber sehr eindrucksvoll gerät die Deutung derselben Szene in der Kantate „Am Abend aber desselbigen Sabbat“ (BWV 42), wo der Evangelist zunächst Johannes 20,19 wörtlich zitiert: „Am Abend aber desselbigen Sabbats, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht für den Jüden, kam Jesus und trat mitten ein.“ Darauf folgt dann eine Arie, die viele für eine der schönsten Bachs halten. Die Altstimme singt in Anklang an den berühmten Bibelvers aus Matthäus 18,20: „Wo zwei und drei versammelt sind in Jesu teurem Namen, da stellt sich Jesus mitten ein und spricht dazu das Amen.“

Die Arie beginnt mit einer kunstvoll-schmeichelnden Oboenmelodie auf einem über vier Takte liegenden Orgelpunkt dem Grundton G, bevor dann die Singstimme das Thema vorträgt, das mit einem liebreizenden Sechstsprung beginnt. Hier wird die Hoffnung auf den Auferstandenen mit der heilstiftenden Gemeinschaft der Glaubenden konkretisiert, die sich aus der Kraft des Auferstandenen speist. Eindrucksvoll und zu Herzen gehende, gleichsam introvertierte Osterfreude!

Eine eher nach innen gerichtete Osterfreude, die zudem noch viel vom ungläubigen Erschrecken transportiert, von der in den Auferstehungstexten der Evangelien zu lesen ist, transportiert ein Stück, das etwa hundert Jahre vor Bach und Telemann endstanden ist, nämlich der Osterdialog („Dialogo per la Pascua“) von Heinrich Schütz (SWV 447).

Dem Werk liegt ein Ausschnitt aus dem Johannesevangelium zugrunde, der von der Begegnung des auferstandenen Jesus mit Maria Magdalena vor dem leeren Grab berichtet: Maria Magdalena beklagt vor Christus, den sie für einen Fremden hält, das Verschwinden des Leichnams. Christus gibt sich ihr schließlich zu erkennen, hält sie jedoch mit der Verheißung seiner Himmelfahrt davon ab, ihn zu berühren.

Die Musik dieses Dialogs bringt das vielschichtige und auch das total ambivalente des Auferstehungswunders zum Ausdruck. Die beiden Personen, sowohl Jesus, der zunächst für den Gärtner gehalten wird, wie auch Maria Magdalena sind im zweistimmigen (!) Gesang gesetzt. Das symbolisiert mutmaßlich den Zustand des Dazwischen – ein Zustand, den der Auferstehungsglaube bis heute immer hat, zwischen „schon“ und „noch nicht“. Ein faszinierendes Werk, dass hervorragend als erste Musik in einer Osternacht – möglicherweise sogar noch vor dem traditionell eröffnenden dreimaligen Ruf „Christus ist das Licht! – Gott sei ewig Dank“ erklingen könnte.

„Wer singt, betet zweifach“ – dies Zitat wird schon dem Werk des antiken Theologen Augustinus zugeschrieben, wobei in dieser Hinsicht nur ein Satz der Auslegung des antiken Kirchenvaters zu Psalm 72 nachweisbar ist: „Wer Lob singt, singt nicht nur, sondern liebt auch den, dem er singt“. In Anlehnung daran, könnte in Bezug auf das Hören von Musik, insbesondere der eben besprochenen, geschlossen werden: „Wer Musik hört, glaubt doppelt“.

Können die Ostermusiken von Telemann und Bach und auch der am Ende erwähnte so ganz andere Osterdialog von Heinrich Schütz den Auferstehungsglauben befördern, ihn vielleicht sogar wecken? Wer weiß. Sie vermögen uns jedenfalls darüber hinwegzuhelfen, dass die Wahrheit der Auferstehung Jesu „nur“ eine Glaubenswahrheit ist, um die ein Leben lang gerungen werden muss. Darum schienen auch Bach und Telemann schon zu wissen. Wie gut, dass die musikalischen Realien dieser Meister die Jahrhunderte überdauert haben. Mögen sie bei uns auch in diesen pandemischen Zeiten Mut, Trost und Zuversicht erwecken!

(Teile dieses Beitrages erschienen bereits in zeitzeichen 4/2018)

 

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