Unverantwortlicher Widerstandkitsch

Das Lamentieren über den zeitweisen Verzicht auf Gottesdienste ist selbstsüchtig und kurzsichtig
Leerer Schaukasten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin
Foto: epd
Leerer Schaukasten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin

Es naht der vierte Sonntag, an dem die Kirchen für Gottesdienste geschlossen sind. Muss das sein? Darf der Staat das? Ja, sagt der Staats- und Kirchenrechtler Hans-Michael Heinig und warnt Pfarrerinnen und Pfarrer vor persönlichen Eitelkeiten.

Seit der Christianisierung Deutschlands hat es hierzulande immer Gottesdienste am Karfreitag und zu Ostern gegeben. Doch seit Mitte März sind in den allermeisten Bundesländern Zusammenkünfte in Kirchen, Synagogen, Moscheen und sonstigen Gemeindehäusern verboten; kirchliche Bestattungen im engsten Familienkreis und die seelsorgerliche Begleitung einzelner sind weiterhin möglich. Die evangelischen Landeskirchen haben sich diesen Vorgaben gefügt.

Die Dramatik der Lage ist den Kirchenleitungen nur allzu bewusst. Nach protestantischem Verständnis ist Kern allen kirchlichen Handelns die öffentliche Predigt und die Feier der Sakramente. So kann man es seit 1530 in der Confessio Augustana, dem Augsburger Bekenntnis, nachlesen. Die Versammlung der Gemeinde zum Gottesdienst ist nach reformatorischem Verständnis konstitutiv für die Kirchlichkeit der Kirche. Das temporäre Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln, stellt vor diesem Hintergrund einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Seit Verabschiedung des Grundgesetzes vor 70 Jahren wurde das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht in vergleichbarer Weise beschnitten.

Kritik von Käßmann

Innerkirchlich wird immer wieder Kritik am Umgang der Kirche mit der Corona-Pandemie laut. Die ehemalige Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann fordert, Kirchen wenigstens zum Gebet offenzuhalten. Der (katholische) Stadtdekan Johannes zu Eltz empört sich, dass Lebensmittelläden geöffnet haben, aber Gemeindeversammlungen zum Gottesdienst verboten sind. „In unseren großen, leeren Kirchen sitzen die Leute meist ohnehin in gehöriger Distanz, da muss man niemandem soziale Manieren beibringen.“ Er verbindet seine Kritik mit einem Rundumschlag gegen die “säkulare Gesellschaft”, der er eine Vollkaskomentalität vorwirft.

Man kann solche Mahnungen in die Sprache des Rechts und des politischen Diskurses übersetzen: Natürlich müssen staatliche Ge- und Verbote verhältnismäßig ausfallen. Das durch das Grundgesetz aufgerichtete Gemeinwesen bleibt auch in Krisensituationen ein demokratischer Rechtsstaat. Deshalb sind die öffentliche Debatte und gerichtliche Kontrolle aller Schritte unverzichtbar. Wir müssen darüber streiten können, welche Ermächtigungen der Exekutive erforderlich sind und welche zu weit gehen. Wir müssen darauf achten, welche Grenzen die gesetzlichen und untergesetzlichen Eingriffsbefugnisse kennen; einzelne Behörden sind etwa im Umgang mit dem Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln, über das Ziel hinausgeschossen und wollten auch die Produktion von Radio- und Fernsehgottesdiensten ohne Publikum verbieten. Wir müssen fragen, ob die parlamentarische Kontrolle der Regierungen funktioniert. Wir müssen uns verständigen, welche Grundrechtseingriffe uns zu weit gehen.

Soweit Grundrechtsverletzungen geltend gemacht und Gerichte angerufen werden, ist aber auch klar: Prüfposten für die verfassungsrechtliche Angemessenheit gegenwärtiger infektionsrechtlicher Interventionen muss die drohende Lage bei ungehindertem Infektionsverlauf sein. Social distancing ist, solange weder ein Impfstoff noch eine erfolgsversprechende Therapie zur Verfügung stehen, die einzig sinnvolle public health-Strategie im Angesicht der aktuellen Corona-Pandemie. Ohne die vorgenommene massive Intervention in das öffentliche Leben würden angesichts der exponentiellen Ausbreitung des Virus das Gesundheitssystem hierzulande in kürzester Zeit zusammenbrechen und hunderttausende Menschen sterben, so die plausible Prognose der Epidemiologen.

Die Politik steht gegenwärtig vor der schwierigen Aufgabe, das social distancing rechtlich zu graduieren, während wichtige Forschungsfragen zu den genauen Infektionswegen und dem präzisen Infektionsgrad der Gesamtbevölkerung noch unbeantwortet sind. Neue kulturelle Regeln der distanzwahrenden Achtsamkeit müssen im gesellschaftlichen Miteinander noch eingeübt werden. In solchen Situationen billigt die Verfassung den staatlichen Entscheidern gewisse Einschätzungsprärogativen und Gestaltungsspielräume zu. Keine Gesellschaft und keine politische Führung kommen fehlerfrei durch so eine Krise.

Auf den Prüfposten

So war es mehr als fragwürdig, dass bei uns Friseurgeschäfte und Nagelstudios zunächst noch geöffnet hatten, während Aktivitäten mit besonders ausgeprägtem Grundrechtsschutz, etwa politische Demonstrationen, die Theateraufführung und Museumsausstellung, die Lehre an den Hochschulen oder eben Versammlungen zum Gottesdienst, bereits verboten waren. Der Gesetzgeber hat nachgebessert. Immer wieder müssen die getroffenen Maßnahmen auf den Prüfposten gestellt werden – so auch das Verbot religiöser Versammlungen. Ist es angesichts der epidemiologischen Lage wirklich notwendig? Kann man vielleicht, wie in Lebensmittelläden, Öffnung und Distanzwahrung miteinander verbinden? Schließlich ist auch die kulturelle und religiöse Grundversorgung „systemrelevant“ für eine Gesellschaft.

Freilich funktioniert social distancing nicht, wenn nun jede gesellschaftliche Gruppe umstandslos auf Sonderregelungen für sich beharrt. In vielen Bereichen ist theoretisch denkbar, gesellschaftliche Einrichtungen, die der physischen und seelischen Rekreation dienen, zu öffnen und dabei auf physischen Abstand zu achten. Man denke neben Kirchen, Moscheen und Synagogen an Konzertsäle und Museen, Fitnessstudios und Debattenräume in Akademien, Stiftungen und Hochschulen. In der Praxis aber würde man schnell an Grenzen, also aneinander, stoßen. Deshalb hat der Gesetzgeber sich gegenwärtig für Distanzierungsregeln entschieden, die nur wenige Ausnahmen kennen.

Wer sollte etwa in der Kirche distanzsichernde Aufsicht vor dem Eingang, beim Einlass, beim Verweilen im Kirchraum, beim Herausgehen führen? Die Gemeindevorstände und Ehrenamtlichen, ist seitens einzelner murrender Pfarrerinnen und Pfarrer zu hören. Angesichts des Altersdurchschnitts der kirchlich Hochaktiven also in der Regel überdurchschnittlich Gefährdete. Auch zum Gottesdienst kämen vor allem die hochvulnerablen Seniorinnen und Senioren zusammen.

Nun ist es in einer freien Gesellschaft grundsätzlich dem Individuum überlassen, welchen Gefahren es sich aussetzen will. Der Freiheitsgebrauch bedarf keiner Rechtfertigung, selbst wenn er Dritten unvernünftig erscheint. Das gilt gerade für den Bereich religiöser Freiheitsrechte.

Grundlagen bewahrt

Aber die aktuellen Gebote des social distancing sind nicht paternalistisch begründet. Es geht nicht darum, den einzelnen vor sich selbst zu schützen, sondern um den Schutz vor einer exponentiell sich ausbreitenden Virusinfektion mit erheblichen Letalitätsraten. Bewahrt werden durch die Suspendierung des kommoden Normalzustandes unseres Zusammenlebens aber auch die zivilisatorischen Grundlagen einer freien Gesellschaft. Harte Triage, kollabierende Kliniken und Krankenhäuser, Massensterben gerade Alter und Vorerkrankter und Bestattung ohne Angehörige: In Teilen Italiens und Spaniens kann man sehen, welche Folgen die Pandemie in Europa hat. Die damit verbundenen Traumatisierungen werden die Gesellschaft noch lange beschäftigen.

Schwächt sich der Infektionsverlauf in Deutschland in den nächsten drei, vier Wochen ab, wird man das gesamte Vorsorgeregime neu justieren können. Entscheidungen über Ausweitungen der Freiheitsräume werden dann nicht nur ökonomischen Kalkülen folgen können, sondern ebenso geistige und geistliche Grundbedürfnisse zu beachten haben. Nur so wird man dem Eigenwert der unterschiedlichen Freiheitsrechte gerecht.

Bis dahin aber erscheint das Lamentieren einiger kirchlicher Kreise über den zeitweisen Verzicht auf Gottesdienste bemerkenswert selbstsüchtig und kurzsichtig: Die Kirche beuge sich willfährig der Staatsmacht, wo doch Widerstand geboten sei, ist vereinzelt zu hören. Schnell ist der Hinweis auf die Barmer Theologische Erklärung zur Hand. Wer so redet, sollte sich Grundzüge protestantischer politischer Ethik, von zeitgemäßen Adaptionen Luthers Lehre der zwei Regimente bis zu Karl Barths Verhältnisbestimmung von Christengemeinde und Bürgergemeinde, aber auch das Versagen der Kirche in der ersten freiheitlichen Demokratie und im Nationalsozialismus noch einmal vergegenwärtigen. Die Pose eines nachholenden Widerstands unter freiheitlich-demokratischen Bedingungen ist geschichtsvergessen und politisch-ethisch unreflektiert. In der gegenwärtigen Lage ist der zuweilen ja durchaus sympathische Widerstandskitsch im organisierten Protestantismus nicht zu verantworten.

Mancher teils öffentlich, teils hinter vorgehaltener Hand geäußerte Einwand („Die Kirche muss doch nun bei den Menschen sein!“) spiegelt eine bedrückende Trägheit im theologischen Denken und Handeln wider. Als ob Christinnen und Christen sich und anderen nur dann „nahe sein“ können, wenn sich sich zum traditionellen Sonntagsgottesdienst physisch versammeln und in die Hand Frieden wünschen. So zentral das Zusammenkommen am „Tag des Herrn“ für die Erinnerung an die in Jesus Christus offenbarte Heilszusage Gottes auch ist: In der Hochphase einer Pandemie kommt die Liebe zum Nächsten dadurch zum Ausdruck, dass ich ihm körperlich nicht zu nah komme. Am Gleichnis vom barmherzigen Samariter orientiert man sich in diesen Tagen anders als durch gefühliges Händehalten, Umarmen und das intensive Gespräch Kopf an Kopf. Das geht sogar ohne Digitalisierung: Seelsorger ziehen auf Zeit ins Pflegeheim, um zu verhindern, dass sie den Virus einschleppen; Gemeinden organisieren Telefonkontakte und Bringdienste.

Magisches Weltbild

Solches Engagement kann selbstredend auf Dauer die körperlich erfahrbare christliche Gemeinschaft nicht ersetzen. Aber eine Besinnung auf den theologischen Kern des Kreuzesgeschehens, an das wir mit den anstehenden Feiertagen am Karfreitag und zu Ostern erinnern, ist zur Not mal ohne Liveaufführung der Matthäuspassion und Osteroratorium, ja sogar ohne Abendmahl möglich.

Ein Pfarrer widersprach neulich: Der Heilige Geist wache schon darüber, dass sich niemand beim Trinken aus dem Gemeinschaftskelch während des Abendmahls ansteckt. Wer so redet, hängt einem geistlos magischen Weltbild an. Zum Grundanliegen christlicher Theologie gehört es, Glauben und Vernunft zusammenzudenken statt sie gegeneinander auszuspielen. Deshalb ist es für die Kirche ebenso schmerzhaft wie richtig, wenn sie nun aus eigener Einsicht in die Notwendigkeit, aber auch in Anerkennung der staatlichen Befugnisse zum Schutz des Gemeinwesens für einige Woche auf gottesdienstliche Versammlungen, Gemeindekreise und den auf allen Gliederungsebenen üblichen hochtourigen Gremienbetrieb verzichtet.

Vielleicht wird dabei so mancher aufs Neue gewahr, was ihm und ihr wesentlich am christlichen Glauben ist: Nicht institutionelle Selbstbeschäftigung, nicht Pflege persönlicher Eitelkeiten, nicht Gemeinschaftserfahrung als Selbstzweck, sondern ein Heilsversprechen, das uns im Bewusstsein unserer Schwächen und Unzulänglichkeiten durchs Leben trägt und im Sterben tröstet.

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Foto: Daniel Moelle

Hans Michael Heinig

Hans Michael Heinig ist seit 2008 Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Göttingen sowie Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.


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