Schweigen als Auftrag

Wider den kirchlichen Aktionismus in der Coronakrise
Mann in Coronazeiten, 2020
Foto: dpa/picture-alliance/IPA
Spaziergang in Neapel im Frühjahr 2020.

Alles streamt auf allen Kanälen. Die Coronakrise verlagert unendlich vieles ins Virtuelle, in die „Online“-Dimension. Auch unzählige Kirchengemeinden tun dies seit 14 Tagen permanent, ja pausenlos. Wäre aber weniger nicht eigentlich viel mehr, fragt die Marburger Pfarrerin Katharina Scholl.

„Is there anybody out there?“ Diese Frage wiederholt der Musiker Pink immer und immer wieder in der The Wall-Oper von Roger Waters und Pink Floyd. Nur noch medial mit der Welt verbunden tastet er halbnackt an einer unüberwindbaren Wand entlang. An diese Szene musste ich denken, als ich als Pfarrerin in den vergangenen Wochen den kollektiven Schock einer Institution hautnah miterlebt habe.

Als würden die gesamtgesellschaftlichen Verunsicherungen dieser Tage noch nicht genügen, haben die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie auch die institutionellen Strukturen der Kirche unter massiven Stress gesetzt. Es geht ihr dabei dieser Tage wie den meisten Organisationen, die in Windeseile entstandenes Chaos in neue (vorläufige) Ordnungen überführen müssen, und dennoch treffen die Maßnahmen zum social oder besser physical distancing die Kirche besonders empfindlich. Kirche lebt (zwar nicht nur, aber) wesentlich von der Interaktion physisch Anwesender.

Kirche ist nicht Kirche, wenn sie nicht zwischenmenschliche Begegnungen initiiert und inszeniert. Das stimmt und es stimmt auch wieder nicht, denn es ist ebenso wahr, worauf Günter Thomas vor einigen Tagen in dieser Rubrik hingewiesen hat: Kirche bezeugt immer mehr, als sie selbst leben kann. In dieser Spannung steht die Kirche gegenwärtig, wenn sie vor der riesigen Mauer steht und versucht durch die Wand zu rufen. „Is there anybody out there?“

Mir schien jedes einzelne der unzähligen Youtube-Videos, die Pfarrerinnen und Pfarrer aus allen Ecken und Enden des Landes in der vergangenen Woche ins World Wide Web gespült haben, ein solcher Ruf zu sein. Das verzweifelte Rufen einer Institution nach den Resonanzverhältnissen, die ihre Lebensader darstellen. Bei allen befürchteten wirtschaftlichen Folgen der Pandemie dürfte der Markt für Filmequipment dieser Tage einen ungeahnten Aufschwung durch die Kirche erlebt haben. So viele qualitätvolle digitale kirchliche Angebote gibt es bereits seit längerer Zeit! Man könnte leicht auf sie verweisen aber dennoch, so schien es mir, musste jeder selber „auf Sendung“ – immer und immer wieder.

Anfänglich haben mich diese Videos gerührt. So viele, für die gestern digitale Kirche noch einigermaßen abseitig schien, sind heute bereit vor einer Kameralinse das Evangelium zu kommunizieren und Menschen in den aktuellen Verunsicherungen beizustehen. Als der „content“ anfing sich quantitativ zu überschlagen, fragte ich mich aber, was sich da eigentlich Bahn bricht. Es scheint eine gewisse Sorge um die Relevanz kirchlichen Handelns zu sein, und zwar nicht bloß eine, die durch die aktuellen Handlungsbeschränkungen in der Krise ausgelöst wurde, sondern eine, die schon eine längere Geschichte hat. Das ständige Sendungsbedürfnis in der Krise scheint ein Reflex auf eine schon länger in der Kirche pulsierenden Frage zu sein: Wer braucht uns? Und welchen unverzichtbaren Beitrag leisten wir eigentlich für gesellschaftliches Leben?

Geschäftigkeit ist immer ein probates Mittel um solche Sorgen zu verdrängen. Allerdings entsteht durch die Fülle der Videos mit Talartragenden vor Altären ein völlig pfarrerInnenzentriertes Kirchenbild im Netz. Dabei ist Kirche und Gemeinde doch weitaus mehr als der Pfarrer oder die Pfarrerin! Überall entwickeln sich Netzwerke, angestoßen von Kirchenvorsteherinnen oder anderen Gemeindemitgliedern, die Einkaufshilfen organisieren oder diejenigen anrufen, die unter Einsamkeit leiden. All das ist kirchliches Handeln und es ist Verkündigung, die derzeit flächendeckend geschieht, gleichwohl ohne dass sie sich inszenieren lässt.

Mittlerweile ist es gottlob ruhiger geworden, die Filmchen werden weniger. Am Ende sind es zum Teil sicher auch einfach Kinderkrankheiten einer mit Macht ins Digitale gestoßenen Kirche. Und all diese Suchbewegungen versprechen auch Innovationen für die Zukunft. Es ist ein Experimentiergeist entstanden, der gezeigt hat, welche kreativen Kräfte in der Kirche pulsieren.

Dennoch ist es gut, dass das Dauersenden nach einer Woche des Schocks jetzt endlich weniger wird. Das Abnehmen der Aktivitäten schafft Luft, die Situation in Ruhe wahrzunehmen. Es kann hörbar werden, was wirklich gebraucht wird. Und es wird Einiges gebraucht. Es beginnt, dass Menschen in den Pfarrämtern ganz konkret um Alltagshilfe bitten oder um seelsorgliche Zuwendung. Das wird vermutlich mehr werden in den kommenden Wochen. Pastorales Handeln verlagert sich wieder in den Nahbereich. Dabei wird das Telefon eine große Rolle spielen.

Weil ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen solche Begleitung schon sorgsam und liebevoll tun, mache ich mir keine Sorgen um die Relevanz der Kirche, weder jetzt noch früher noch zukünftig. Es wird aktuell deutlich, wie wichtig Networking für kirchliche Arbeit ist, nicht allein in den eigenen Reihen, sondern auch im Hinblick auf nichtkirchliche Partner. Diejenigen, die in diese Richtung bislang aktiv waren, konnten sich wesentlich besser auf die aktuelle Situation einstellen. Selbstverständlich stellt die Kirche in der aktuellen Situation ihren Dienst nicht ein, aber ihr Dienst ist eben in weiten Teilen derselbe, wie ihn andere zivilgesellschaftliche Initiativen oder Privatpersonen leisten und das ist gut.

Allerdings bleibt die Frage, ob wir uns in dieser Krise und über sie hinaus als öffentliche Institution bewähren können. Als öffentliche Institution ist es selbstverständlich, durch das Einstellen von Veranstaltungen gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Vieles hat in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der sich überschlagenden Ereignisse gut geklappt. Anderes lässt mich ratlos zurück, beispielsweise wenn der katholische Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Elz die staatlichen Entscheidungen im ZEIT-Interview öffentlich problematisiert und kurzerhand am ersten Sonntag des Verbotes von religiösen Veranstaltungen mit einer Gruppe von Geladenen in der „Wahlkapelle“ im Frankfurter Dom eine private Liturgie feiert. Viel deutlicher kann man sich für den Moment nicht von der öffentlichen Dimension der Kirche verabschieden. Reaktionen dieser Art waren auf katholischer wie evangelischer Seite gleichermaßen zu beobachten. Sie blieben aber, Gott sei Dank, Einzelimpulse, die der großen Mehrheit eines kollektiv geteilten öffentlichen Verantwortungsbewusstseins in den Kirchen gegenüberstehen.

Durch die jüngsten Ereignisse hat sich etwas in Rekordgeschwindigkeit eingelöst, wohin wir als Institution schon länger auf dem Weg sind. Die flächendeckenden Maßnahmen haben die Kirche in eine Reihe gestellt mit allen anderen gesellschaftlichen Playern. Im Grunde ist das schon länger die Realität, in der wir als Kirche agieren, aber es wird durch die Ereignisse der vergangenen Tage vielen Aktiven in der Kirche bewusst.

Kirche ist Teil gesellschaftlicher Prozesse und nicht ihr Gegenüber. Die Dichotomie von Kirche und Welt war vorher schon theologisch wenig überzeugend und sie wird es nach der Krise umso weniger sein. Das ist etwas, was ich mir immer gewünscht hatte und woran ich arbeite, seitdem ich mich professionell mit Kirche beschäftige. Dass es auf diese Weise passiert, hatte ich mir nicht gewünscht.

Es wird in Zukunft darum gehen, diese Entwicklung auch innerlich nachzuvollziehen und zum kollektiv geteilten Selbstverständnis einer Institution werden zu lassen. Dazu braucht es eine produktive Konfliktkultur innerhalb der Kirche, kluges und besonnenes kirchenleitendes Handeln und vor allem einen langen Atem. Zumindest für die kommenden Wochen wird der Kontakt des einzelnen Pfarrers mit den hochverbundenen Gemeindegliedern eng werden, und das akzentuiert die parochiale Struktur von Kirche. Ihre erneuerte Rolle durch diesen epochalen Einschnitt wird aber im Gegenteil gerade noch mehr Loslösung von diesen Strukturen erfordern. Diese Spannung gilt es auszuhalten und zu bearbeiten, damit Kirche sich gesellschaftlich neu verorten kann.

„Is there anybody out there?“ Das ist auch das Ringen einer Institution um ihren gegenwärtigen Auftrag. Gerade jetzt müsste unsere Kirche doch zu den Menschen gehen. Gerade jetzt müsste ihre tröstende Botschaft doch hörbar werden. So habe ich es in den vergangenen Tagen oft gehört. Aber wie wäre es denn, wenn der Auftrag der Kirche aktuell gerade darin besteht keinen zu haben und genau das auszuhalten? Zumindest hat sie keinen Auftrag, der sich von dem aller Anderen unterscheidet, der da lautet: Sorgsam und liebevoll vor Ort zu helfen und zu entlasten.

Die Kirche kann sich angesichts der Krise getrost dem widmen, dem sich alle widmen. Drosten, Kekulé und Co ventilieren die Sinnfragen, stellen die Schuldfrage und trösten. Sie machen das für den Moment ziemlich gut. Trotzdem wird eines Tages der Moment kommen, in dem sie erschöpft auf die Couch sinken und wir wieder am Zug sind. Ich habe den Wunsch, dass wir dann situationssensibel religiös reden können.

Meiner Wahrnehmung nach geht das nur, wenn wir jetzt mal eine Zeit lang beobachten, selber in der Situation ankommen, spüren was all diese einschneidenden Ereignisse für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen persönlich bedeuten. Es scheint mir so, als seien die Beschränkungen nicht nur äußerlich auferlegte zu sein, sondern auch ein Innehalten, das unsere Kirche selbst gut gebrauchen kann.Vielleicht sind Transformationen wie diese so weitreichend, dass auch die Kirche gut daran tut einen Moment inne zu halten. Die notwendigen Ressourcen dazu sind tief in ihrer eigenen Tradition verankert. Immerhin kennt sie nicht nur das Predigen, sondern auch das Schweigen als religiöse Grundhaltung. Als ich Pfarrerin wurde, begann meine Ordinationsverpflichtung nicht mit den Worten „Verkündige und streame für den Schöpfer“, sondern sie begann mit den Worten: „Unser Dienst besteht darin zu hören und zu beten ...“ Ich glaube fest, dass jetzt mal eine Zeit des längeren Hörens ist.„Kirche verstummt nicht!“ So höre ich es aus vielen Mündern dieser Tage. Ich glaube nicht, dass es stimmt. Kirche verstummt in großen Teilen. Und genau darin ist sie Kirche. Das ist neu. Aber das ist jetzt.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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