Retter, Charismatiker, Propheten

Warum sich der Glaube und Borussia Dortmund so besonders nahe sind
Die Standarte des BVB wird von einem Pfarrer ins Stadion getragen.
Foto: dpa/firo Sportphoto
Die Standarte des BVB wird von einem Pfarrer ins Stadion getragen.

Mag sein, dass Dortmund mit seiner Borussia ein ganz schwerer Sonderfall im weiten Feld der besonderen Beziehung zwischen Religion und Fußball ist. Das erlebt nicht nur, aber auch, wer in die regelmäßigen BVB-Gottesdienste in der Dortmunder Dreifaltigkeitskirche geht. Und das ist noch lange nicht alles, erklärt der Theologe und Autor Udo Feist.

Der Gottesdienst ist ein Fest, schreibt der Theologe Friedrich Schleiermacher, und eine Unterbrechung des übrigen Lebens! Fußballfans spüren die Analogie. Und auch hier können sie ihm folgen: Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion, so der Gottesgelehrte 1799 in den Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 110 Jahre später gründen junge Männer der katholischen Dreifaltigkeitsgemeinde in Dortmund den Ballspielverein Borussia, den BVB 09, Borussia Dortmund. Das ist nun schon mehr als 110 Jahre her, und die religiös anmutende Leidenschaft der BVB-Anhänger hat sich seither verfestigt.

Schlimm, wenn sie sonst nichts haben, mag mancher hier sublimatkritisch einwenden und anfügen, das sei bei allen Fußballfans so. Das trifft insofern zu, als dass dies zuerst allgemein ins Sichtfeld kam im Kontext des „theologischen Popdiskurses“ seit Mitte der 1990er-Jahre: Wie Feuilletons zuvor nahmen junge Theologinnen und Theologen nun Popkulturphänomene in den Fokus ihrer Deutungsmittel, ob Musik, Film oder die sich zunehmend verbreitenden Tattoos. Das war spannend, oft erkenntnisreich und sexy: Es verschaffte der Theologie neue Reichweite, und Fußball durfte da nicht fehlen.

Exemplarisch ist Joachim von Soostens Aufsatz Die Tränen des Andreas Möller. Sportwelten, Leibesübungen und religiöse Körperpolitik aus dem Jahr 1997. Theoretische Fallhöhe nahm er beim Religionssoziologen Franz-Xaver Kaufmann auf. Ob Kulturphänomene als religiös zu bewerten sind, hänge demnach daran, ob sie gleich mehrere Funktionen von Religion erfüllten – Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontingenzbewältigung, Kosmisierung, Sozialintegration und Weltdistanzierung etwa. Von Soosten konstatiert lapidar und noch Sport-allgemein: Diese Religion kennt Tempel, Kulte und Gemeinden, Heilige, Ikonen und Riten. Dann geht er süffisant ins Detail – und zum Fußball.

BVB-Fans, die jeden Liga-Heimspieltag das 81 000 Zuschauer fassende Dortmunder Stadion komplett füllen, verstehen den Satz intuitiv sofort. Ob sie die folgenden Spielzüge, die intellektuell recht tricky sind, ebenfalls goutieren, steht auf einem anderen Blatt. Das gilt auch für ritualtheoretische Deutungen, in denen von Soosten es in der Folge zu publizistischem Expertentum brachte (kurz gefasst: Aus dem Alltag über die Schwelle in den Ritualraum und zurück).

Sie vermissten vermutlich den Zug zum Tor, fänden es zu sublim, schließlich erleben sie das konkret, beschreiben den üblichen Stadiongang indes ähnlich: Man fährt zur gleichen Zeit los, kommt zur gleichen Zeit an, hat eigentlich fast immer den gleichen Parkplatz, trifft die gleichen Leute. Immer das Gleiche, und im Stadion setzt es sich fort. Die Rituale, wenn ein Tor fällt, ein Strafstoß geschossen wird, die Mannschaft gewinnt oder eben auch verliert. Immer die gleichen Rituale. Rituale, die Cornelia Weigandt aber liebt, denn sie rahmen das Außergewöhnliche. Neunzig Minuten ist die Welt grautonfrei eindeutig, nur Schwarz und Weiß, der Schiri sowieso eine Pfeife. Den anderen 81 000 geht es genauso.

Ja, der Tempel und das Dahinpilgern zum Westfalenstadion. Weigandt ist Pressesprecherin der Dortmunder Polizei und wie viele ihrer Kollegen eine BVB-Anhängerin. In den Social-Media-Tweets der Behörde schrieben sie lange auch vom Tempel. Tweets sollen nun mal Nähe zum Zielpublikum schaffen, und weil sie das so empfanden. In anderen Liga-Orten mag das ähnlich sein, doch Dortmund mit seiner Borussia ist wohl ein Sonderfall, vermutlich sogar ein ganz schwerer.

Aus dem kirchlichen Milieu

Das hat mit dem Ruhrgebiet zu tun, der seit 1870 rasant gewachsenen Industrie- und Schwerarbeiterregion mit vielen Identität-suchenden Zuwanderern, die in dem dann aufkommenden Kick-Sport aus England ein Abbild dafür sahen, wie sie auch in den gefährlichen Jobs beim Hochofenabstich und im Kohleabbau zu sein hatten: verlässlich, schmerzbereit und geradeheraus. Sie fanden sich darin wieder, identifizierten sich, und auf dem Platz waren alle gleich. Spaß machte es obendrein.

Zum andern entstammt der Club dem kirchlichen Milieu, was gar nicht so ungewöhnlich ist. Um die jungen Arbeiter von Trunksucht und Wettleidenschaft fernzuhalten, boten viele Gemeinden Sport an, auch die Dreifaltigkeitsgemeinde in den Arbeiterquartieren der Dortmunder Nordstadt am Borsigplatz. Die Bolzer der „Jünglingssodalität“ bekamen aber Streit mit dem zuständigen Geistlichen: Er fand Kicken roh, sah Sonntagsspiele in verdammungswürdiger Konkurrenz zum Gottesdienstbesuch und als besinnlichkeitsschädlich.

Einige Dutzend Dissidenten gaben nicht nach und gründeten am 19. Dezember 1909 in einer Gaststätte den BVB, und dem Kaplan samt Getreuen wurde handgreiflich der Zugang verwehrt. Später versöhnte man sich wieder, die bolzende Fraktion hielt sich überwiegend weiter an die Gemeinde. Doch die Formierung einer quasi neuen, ökumenischen Religion hatte damit begonnen. Dort zählten Zugehörigkeit zur „BVB-Familie“, Anhänger-Sein und Herzensbindung.

Heute ist der BVB indes doch gleichsam in die Kirche zurückgekehrt. Seit dem 100-jährigen Vereinsjubiläum gibt es regelmäßig BVB-Gottesdienste in der Dreifaltigkeitskirche zu Saisonbeginn und -abschluss, vor Finalspielen und eben zum BVB-Geburtstag. Mit vierhundert Leuten ist das Gotteshaus dann voll und von den Vereinsfarben schwarzgelb geprägt. Viele kommen in Trikots und mit Schals, die sie nach dem Schlusssegen ergriffen in die Höhe recken, wenn die Orgel von der Empore das Stadionlied „You’ll never walk alone“ anstimmt. Und alle singen sie mit. Zu manchen Anlässen gibt es dann noch eine Prozession die zweihundert Meter rüber bis zum Borsigplatz, wo sie gemeinsam das Vereinslied singen.

Andere Clubs haben das nicht. Als bekennender Fan hielt Pastor Ansbert Junk hier den ersten BVB-Gottesdienst: Ja, ein Unikum, aber auch, weil es zur Vereinsgeschichte gehört. Die Gründungsväter sind aus einer Jugendgruppe dieser Gemeinde hervorgegangen und waren katholisch kirchlich geprägt, bis sie sich von der Kirche abgespalten und Borussia gegründet haben. Und in den Kirchenmauern ist die Geschichte des Vereines direkt erfahrbar. Vitrinen, alte Fotos an den Säulen und Schaubilder erzählen auch abseits der Gottesdienste davon.

Die Beliebtheit dieser Gottesdienste erklärt der Gemeindereferent Karsten Haug mit der einmaligen Atmosphäre: Dass BVB-Lieder in einer Kirche erklingen, dass in der Predigt versucht wird, auf die Bedürfnisse, Sorgen, Ängste, die Hoffnungen von Fußballfans und insbesondere von Borussia Dortmund Bezug zu nehmen. Stets wird auch ein BVB-Gebet gesprochen, doch das betont stets das Verbindende am Fußball, Fairness und Respekt für die Verlierer. Dass so ziemlich jeder dennoch für den Erfolg des eigenen Vereins betet, ist Haug klar: Was die einzelnen Fans hier im Kirchraum Gott anvertrauen, da kann ich nicht hinterschauen, will ich auch nicht. Da werden auch Gebete dabei sein: ‚Lieber Gott, mach ...‘ – aber in offiziellen Gebeten wird es nie darum gehen, dass wir um den Sieg bitten. Denn das muss die Mannschaft schon selber erledigen.

Ein Tor aus dem Nichts

Nur vor dem (dann verlorenen) Pokalfinale 2015 gegen Wolfsburg war es Herr Yilmaz, der Imam von der benachbarten Moschee, der mit einem „Dass der Erfolg zu uns komme“ eine Ausnahme machte – und prompt Beifall bekam. Ein Tor aus dem Nichts, hätte man da im Tempel geraunt. Fußball ist nun mal auch für Überraschungen gut und insgesamt eben für den Ausbruch aus dem Alltag, was mitunter sonst Verschüttetes zum Vorschein bringt, wenn nicht offenbart.

Ulf Schlüter etwa, in der Wolle schwarzgelb gefärbt, jedoch als Theologischer Vizepräsident der evangelischen Kirche von Westfalen im Landeskirchenamt in Bielefeld nun unrühmlich weit vom Schuss, gab als Dortmunder Superintendent nach dem Pokal-Gottesdienst 2017 dies dazu preis: Meine Frau sagt immer, wenn ich Fußball gucke, ob im Stadion oder vorm Fernseher, bin ich ein anderer Mensch. Auch das gehört dazu, dass man seine ganzen Emotionen beim Fußball mal richtig rauslassen kann – Begeisterung genauso wie Frust und Trauer und Wut und Ärger. Das kommt beim Fußball besser raus als in der Kirche.

Die Besucher der BVB-Gottesdienste kommen aus Dortmund und aus den Nachbarstädten, manche aus dem nahen Sauerland. Vereins-Legende Siggi Held ist fast immer dabei, aber auch Leute aus dem Management des nun schon lange börsennotierten Vereins mit 500 Millionen Euro Jahresumsatz derzeit – darunter oft Geschäftsführer Aki Watzke, wenn das dessen Terminkalender zulässt.

Diese Gemeinde umfasst dann also Millionenverdiener ebenso wie jene, die Hartz IV nicht bloß vom Hörensagen kennen. Wie im Stadion, bloß trauter. Doch es wirkt nie ranschmeißerisch, was angesichts der Tatsache, dass der Club in Dortmund alles dominiert und allein in Deutschland zehn Millionen Anhänger hat, von Seiten der Kirche vielleicht vermutbar wäre. Von Seiten des Vereins wirkt das ähnlich selbstverständlich, ganz nach dem Motto: Vergiss nie, wo du herkommst – was bieder wirkt, aber zum bodenständigen Ruhrgebiet passt.

Die Prediger sind oft, aber nicht immer prominent: Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen oder Kirchentagspräsident Hans Leyendecker sprachen schon hier. Nur Schwarzgelb müssen sie sein. Die Gunst der Gemeinde ist ihnen gewiss. Beim unlängst verstorbenen Satiriker Wiglaf Droste fiel das jedoch spürbar schwer. Das begnadet spitzzüngige Lästermaul, ein treuer Fan und von Krankheit schon sichtlich gezeichnet, war zum Vereinsgeburtstag 2018 hier.

Droste sprach zum Thema „Kollege Jesus, der BVB und ich“, in einer Weise, wie man das erwarten konnte. Er sparte nicht mit Seitenhieben auf die Kirche, nahm die nachhaltig fassungslos machenden „Die Würde des Menschen ist unantastbar“-Entgleisungen der Herren Hoeneß und Rummenige vom Liga-Dominator aus München triftig aufs Korn und machte auch Leiden am eignen Verein deutlich Luft. Dass FDP-Chef Christian Lindner in dessen Wirtschaftsrat sitzt, zählte da noch zu den lässlichen Sünden.

Ausgebeutete Gefühle

Den Propheten gab der Satiriker an anderer Stelle: Dass es wahre Liebe gibt, fühlen wir. Dass aus wahrer Liebe eine Ware wird, ein Verkaufs- und Konsumartikel, wissen wir. Selbst im abgestumpftesten Hooligan oder Ultra gärt noch das Wissen darum, dass er betrogen und ausgenommen wird, dass seine Gefühle kommerziell ausgebeutet und vermarktet werden, denn der Markt, zu dem man seine Haut trägt, ist unantastbar. In der Folge dessen ist „Echte Liebe“ nichts als eine Marke, ein Brand.

Dass manche sich vor dem Hintergrund als einzig wahre Fans gerieren, erledigte Droste quasi nebenbei – als Abziehbilder einer Welt, in der sie eine Heldenrolle rückwärts nach der anderen vorführen, die ungut nach Heldenfriedhof mieft. Ihnen bedeutet es nichts, das Stadion, also den Tempel, aus dem man sie ganz jesusmäßig verjagen müsste, mit sich und ihrem verbalen oder auch körpersprachlichen Auswurf zu besudeln; sie sind die Kehrseite derer, gegen die sie angeblich protestieren.

Der Dreh- und Angelpunkt des Satirikers war indes die „Echte Liebe“, die der BVB vor ein paar Jahren mit Hilfe einer gewieften Werbeagentur als seinen Markenkern identifizierte – was diffus stimmen mag, andererseits aber genau das ist, worüber Droste klagte: knallharte Vermarktung, Ausverkauf. Bloß weiß jeder, der auch nur einigermaßen mit dem ultrakapitalistischen Fußballgeschäft vertraut ist, in dem Spielergehälter, vor allem aber Erlöse und Ablösesummen durch die Decke gehen, dass dies offenbar unverzichtbar ist, wenn man weiter oben in der Liga und international mitmischen will.

BVB-Boss Hans-Joachim „Aki“ Watzke kennt die Widersprüche und versucht, sie zu moderieren. Seit er 2005 der Geschäftsführer wurde, tut er das wirtschaftlich höchst erfolgreich. Der Verein war überschuldet und stand vor der Pleite. Ihm gelang in den ersten Amtsjahren Unglaubliches. Er relativiert das aber nahezu demütig, wenn er sagt: In diesen Jahren hat der liebe Gott das komplette Füllhorn des Glücks über dem BVB und mir ausgeschüttet.

Mit spannenden Details ist das nachzulesen in Watzkes Biographie Echte Liebe. Ein Leben mit dem BVB. Zu der Premiere war jüngst aus Liverpool auch Jürgen Klopp eingeflogen, jener charismatische Trainer, der den Fans und dem Verein von 2008 bis 2015 tolle Jahre und große Erfolge bescherte.

Wie die Dortmunder ihren Kloppo empfingen, grenzte an Heiligenverehrung. Dass die Zeit mit ihm auch Basis für weitere Kommerzialisierung war, ist die andere Seite der Medaille. Ist im Fußball nun mal so. Oder wie Watzke schreibt: „Ein Argument ist für mich, wenn ein Fan sagt: ‚Ich lehne das gesamte Profisystem ab.‘ Das akzeptiere ich.“

Austritt also, aber welcher Fan (oder auch Gläubige) bringt das schon über sich? Wenn der Verein doch Heimat ist: Du hast ein BVB-Herz, oder du hast es nicht. Schleiermacher lässt grüßen.

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