Zehn Jahre nach Sarrazin

Warum wir eine verantwortungssensible Sprache brauchen
Thilo Sarrazin im August 2010 bei der Vorstellung seines Buches „Deutschland schafft sich ab“.
Foto: dpa/Rainer Jensen
Thilo Sarrazin im August 2010 bei der Vorstellung seines Buches „Deutschland schafft sich ab“.

Als vor zehn Jahren Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab erschien, begann eine Ära der Tabubrüche durch unverantwortliche Sprache aus der scheinbaren „Mitte der Gesellschaft“ heraus. Sie hat die heutige schwierige politische Situation wesentlich mit ermöglicht. Nötig ist dagegen eine verantwortungssensible „Ethik der Sprache“, fordert der Studienleiter für Religion und Politik der Evangelischen Akademie Frankfurt am Main, Eberhard Pausch.

Verantwortungsethisches Denken nimmt die möglichen Konsequenzen, Risiken und Nebenwirkungen menschlichen Handelns vorab in den Blick – soweit uns Menschen dies möglich ist. Ob Thilo Sarrazin die Folgen seines Handelns bedachte, als er im Jahr 2010 sein Buch Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen veröffentlichte, können wir nicht wissen.

Wir wissen aber, dass dieses Buch und die in ihm vertretenen Thesen eine außerordentlich breite Rezeption erfuhren; schon nach einigen Monaten waren 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Sarrazin, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und in dieser Funktion von 2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin, danach von 2009 bis September 2010 im Vorstand der Deutschen Bundesbank tätig, hatte einen Bestseller verfasst. Zwar werden nicht alle, die das Buch kauften, es gelesen haben. Aber die Verbreitung seiner Thesen erfolgte ja auch durch Fernsehen, Internet und vor allem die wuchernden, mäandernden „sozialen Medien“. Der Autor legte zudem mit ähnlichen Büchern nach, zuletzt mit Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018).

Diese und andere öffentliche Äußerungen haben Sarrazin mehrfache – bis heute noch nicht ganz abgeschlossene – Parteiausschlussverfahren eingebracht. Aus der Sicht der SPD hat Sarrazin seiner Partei schwer geschadet, vor allem aber den Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen begünstigt, die die bundesdeutsche Demokratie insgesamt gefährden. Da er noch im Januar 2020 in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung seinen Kampf um den Verbleib in der SPD als einen „Dienst“ an dieser Partei bezeichnete, muss man ihn wohl ernstlich fragen, ob dieser „Dienst“ nicht in Wahrheit einen „Bärendienst“ an unserer Demokratie darstellt.

Unterzieht man Deutschland schafft sich ab nämlich nach zehn Jahren einer kritischen Re-Lektüre, so fällt auf: Der Autor suggeriert eine hohe Wissenschaftlichkeit durch eine Fülle von Zahlen und Statistiken, mit denen er seine Thesen zu belegen sucht. Nun ist Sarrazin offenbar ein Mensch der Zahlen, was ihm nicht vorzuwerfen ist. Jede einzelne Statistik ist aber immer vielseitig interpretierbar, so dass Vexierbilder und auch falsche Bilder der Wirklichkeit entstehen können, was Sarrazin unterschlägt. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit seiner Untersuchung ist daher von verschiedenen Seiten immer wieder angegriffen und seine vermeintliche Objektivität vielfach entlarvt worden. Hinter der glitzernden Zahlenfassade steckt eine rechtsnationale Ideologie. Woran lässt sich das erkennen?

„Zähe Volksstrukturen“

Die Inhalte und Aussagen sprechen für sich. Den Entwicklungsvorsprung Europas und Nordamerikas gegenüber anderen Kontinenten führt Sarrazin auf die technologische Revolution zurück, die den Erfolg beider Erdteile im Vergleich mit anderen ermöglicht habe. Dass dem aber eine jahrhundertelange Ausbeutung etwa des Kontinents Afrika durch Sklaverei und Kolonialismus vorangegangen waren, die die Innovationsschübe im 19./20. Jahrhundert zuallererst ermöglichten, davon ist an keiner Stelle die Rede. Sarrazin geht ferner davon aus, es gebe in der Welt „zähe Völkerstrukturen“, daher werde es auch in hundert Jahren in Europa noch Nationalstaaten geben. Es ist zumindest fraglich, ob diese These mit einer menschenfreundlichen Friedensvision für den Kontinent Europa zusammenpasst.

Viel Kritik hat sodann die These von der überwiegenden Erblichkeit von Intelligenz auf sich gezogen, die Sarrazin auf „sechzig:vierzig“ beziffert. Er attestiert auf dieser (wie an anderen Stellen, so auch hier) recht groben Zahlengrundlage Migrantinnen und Migranten überwiegend eine unaufhebbare „Dummheit“, die sich wegen derer großer „Fertilität“ negativ auf die Gesellschaftsstruktur auswirke.

Da ist schließlich und vor allem auch eine lieblose und verächtliche Sprache, die Sarrazin immer wieder verwendet, um Menschen und Menschengruppen zu kennzeichnen. So redet er beispielsweise undifferenziert von „den Deutschen“, „den Juden“ und „den Fremden“, als ob die einen oder die anderen distinkte, homogene Gruppen wären. Ferner pauschaliert er, indem er sagt: „Das geschieht millionenfach“ beziehungsweise „Millionen sind so“, wenn er von Sozialhilfe- beziehungsweise „Hartz IV“-Missbrauch spricht. Er kontrastiert sodann „intelligente“ Menschen mit den „Dümmeren“: x, y z sind seines Erachtens „dümmer als …“. Das ist keine wissenschaftliche und erst recht keine vornehme Sprache. Dass er von der „Fertilität“ von „Deutschen“ und „Muslimen“ redet, könnte man für dürres Soziologendeutsch halten. Aber es klingt zugleich biologistisch und sozialdarwinistisch.

Seine an anderer Stelle flankierend geäußerte Rede von der „Produktion von Kopftuchmädchen“ (Lettre International, 2009) ist dagegen schon sehr diffamierend gegenüber Muslimen und wird dann allenfalls noch von der AfD-Bundestagsabgeordneten Alice Weidel überboten, die den „Kopftuchmädchen“ im Jahr 2018 die „alimentierten Messermänner“ zur Seite stellte. Die heutige Verrohung der öffentlichen und politischen Sprache hat von derartigen Begriffen und Äußerungen starke Impulse bekommen.

Pullover gegen Winterkälte

Als Berliner Finanzsenator hatte Thilo Sarrazin kurz nach Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze gegenüber einer Tageszeitung geäußert, die rechtlich neu fixierte „Grundsicherung“ sei doch mehr als ausreichend. Er habe – so Sarrazin – den „detaillierten Nachweis“ geführt, dass man sich mit dem Betrag für Essen und Getränke, der in der Grundsicherung vorgesehen sei, „gesund und abwechslungsreich“ ernähren könne. Auch helfe das Tragen von Pullovern im Winter, Energiekosten zu sparen, da man so weniger heizen müsste. Das musste in den Ohren von sozial schwachen Personen wie Hohn klingen – umso mehr, da es von einem Vertreter der Sozialdemokratie geäußert wurde.

Die Beschwerden, die seinerzeit in Form von E-Mails und Briefen bei ihm eingingen, nahm er in seinem Buch einige Jahre später (2010) zum Anlass, die getätigten Aussagen zu bekräftigen. Kein Wort des Bedauerns, kein Schritt zurück, kein Millimeter an Einsicht!

Nimmt man alle diese Beobachtungen zusammen, so spricht manches dafür, dass Sarrazins Buch eine Zeitenwende für die Bundesrepublik Deutschland markiert. Seitdem sind eine rechtspopulistische Bewegung („Pegida“) und eine im Bundestag sowie in allen Länderparlamenten vertretene rechtspopulistische, demokratiefeindliche Partei (AfD) entstanden, mit deren Vertreterinnen und Vertretern Sarrazin offenbar bedenkenlos Kontakte pflegt, wie nicht nur sein Auftritt beim sogenannten Neuen Hambacher Fest der nationalen Rechten im Jahr 2018 eindeutig bewiesen hat.

Im vergangenen Jahrzehnt haben die großen demokratischen Parteien, die das Leben unserer Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt haben, viele Wählerstimmen verloren. Diese Stimmen gingen in nicht unerheblichem Umfang an die AfD. Das demokratische Gemeinwesen trägt Kratzer und Wunden im Gesicht. Dafür gibt es sicherlich eine Reihe von Ursachen, und man würde Sarrazins Äußerungen wohl überbewerten, wenn man all diese Entwicklungen auf sie zurückführte. Monokausale Deutungen verbieten sich nicht nur in diesem Zusammenhang. Und was wäre Sarrazin ohne den in der Gesellschaft ja offenbar vorhandenen Resonanzboden gewesen, in dem seine Thesen zu allererst fruchtbar wurden?

Und doch: Ohne ihn, ohne das Buch eines SPD-Mitglieds, das sich Lichtjahre von den Grundwerten dieser Partei entfernt hat und eben deswegen Aufmerksamkeit auf sich zog, wäre die Geschichte der Bundesrepublik in der letzten Dekade vermutlich anders verlaufen.

Der Autor von Deutschland schafft sich ab beteuert wiederholt, er kämpfe ja bloß gegen die „Political Correctness“ an, die sich in unserer Gesellschaft ausgebreitet habe. Ja, er decke „Tabus“ auf und enthülle so die eigentliche Wahrheit über unsere gesellschaftliche Situation, die von anderen verschwiegen werde. Dieses Versatzstück wurde seit 2010 ein Klassiker im Argumentationsschatz der Rechtspopulisten und wird vielfach geglaubt. Sarrazin hat natürlich nicht mit allem, was er sagt, Unrecht. In Deutschland schafft sich ab gibt es beispielsweise Passagen, in denen er die Politik des damaligen und heutigen türkischen Präsidenten Erdogan kritisch bewertet und eine problematische Fortentwicklung dieser Politik prognostiziert.

Damit hat er zweifellos Recht behalten. Auch wertet er nicht „den Islam“ als solchen ab – er kennt und nennt ja durchaus liberale Muslime wie Navid Kermani und Bassam Tibi. Aber in der Summe sieht er im Islam vor allem die Gefahr des Islamismus, die Bedrohung durch eine angeblich im Erbgut fixierte „Dummheit“ und eine verderbliche „Sozialschmarotzerei“ in den Kreisen von (überwiegend muslimischen) Migrantinnen und Migranten. Die Ideologen der „Neuen Rechten“ um Götz Kubitschek erkannten bereits sehr früh, welche Chance sich ihnen mit der Büchse der Pandora bot, die Sarrazin geöffnet hatte.

Grundsicherung verspottet

Aus der Perspektive einer verantwortungsethisch argumentierenden evangelischen Sozialethik bewerte ich Thilo Sarrazins Reden und Handeln im Rückblick als höchst problematisch. Denn, erstens: Wer nicht den „Clash of Civilizations“ in der Mitte unserer Gesellschaft befördern will, der muss einen fairen und menschenfreundlichen Dialog mit den Vertreterinnen und Vertretern des Islam führen. Sozialdarwinistische Thesen haben in diesem Dialog keinen Platz. Zweitens: Wer den Sozialstaat weiterentwickeln will, der darf weder die Empfänger sozialer Grundsicherung verspotten, noch soziale Hierarchien genetisch festschreiben, sondern muss alles dafür tun, Menschen in prekären Verhältnissen durch eine angemessene Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken. Drittens: Wer nicht will, dass demokratische Parteien erodieren und Mehrheitsbildungen durch die Zersplitterung von Parlamenten wie zuletzt in Thüringen (man denke an das Wahlergebnis vom Oktober 2019 und die daraus folgenden außerordentlich problematischen Entwicklungen) immer schwieriger werden, der sollte mit seinen öffentlichen Äußerungen die bewährten Wege und Instrumente politischer Willensbildung nicht beschädigen.

Alle drei Anliegen überschneiden sich in der Forderung, in öffentlicher Rede eine differenziert argumentierende, empathische, mindestens aber respektvolle Sprache zu verwenden. Es wäre hilfreich, um ein zentrales Anliegen des emeritierten Heidelberger Theologen Wilfried Härle aufzunehmen, von einer zeitgemäßen „Ethik der Sprache“ aus zu denken. Eine verantwortungssensible Sprache tut dem demokratischen Gemeinwesen gut. Sie gehört daher zu den grundlegenden „Tugenden“, derer die Demokratie nach christlicher Einsicht bedarf, um krisenfest und zukunftsfähig zu sein.

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