Selbstwiderspruch der Selbstbestimmung

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stellt bei der Suizidhilfe die Weichen falsch
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes verkündet am 26. Februar das Urteil zur Suizidbeihilfe.
Foto: dpa/Uli Deck
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes verkündet am 26. Februar das Urteil zur Suizidbeihilfe.

Weniger das Urteil an sich als die Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Thema Suizidbeihilfe war für viele eine große Überraschung und für manche durchaus ein Schock. Dietrich Korsch, emeritierter Professor für Systematische Theologie in Marburg, unterzieht die Urteilsbegründung scharfer Kritik.

Urteile der obersten Gerichte, des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zumal, bestimmen nicht nur die Rechtsprechung und Rechtssetzung. Sie greifen auch in die öffentlichen Diskurse über Grundbegriffe des individuellen und sozialen Lebens ein. Sie beziehen sich dabei auf Hintergründe aus der Tradition bisheriger Rechtsprechung, die zugleich in momentane Diskurslagen eingebettet werden, und das kann durchaus zu einer Veränderung herkömmlichen Urteilens führen.

In diesem Geflecht nimmt das jüngste umfassende Urteil des BVerfG vom 26. Februar 2020 über die Suizidbeihilfe eine herausragende Stellung ein. Es geht von aktuellen Plausibilitäten über Selbstbestimmung und Autonomie aus und lässt eine anthropologisch fundierte und begrifflich ausgewiesene Entscheidungsbasis streitiger Rechtsfragen vermissen. Auf dieses Defizit hinzuweisen und zugleich die langfristigen Folgen für eine rechtliche Beurteilung humaner Grundfragen abzuschätzen, ist die Absicht der folgenden Überlegungen.

Den Anlass zum Urteil gaben sechs Verfassungsbeschwerden gegen den Paragraphen 217 des Strafgesetzbuches über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015. Die Beschwerdeführer sahen sich vor allem in ihrem Grundrecht auf Persönlichkeitsentfaltung nach Artikel 2 Grundgesetz beeinträchtigt. Das BVerfG hat diesen Einsprüchen Recht gegeben und Paragraph 217 für verfassungswidrig erklärt. Die Sachlage bedingt, dass sich das Gericht zentral mit dem Begriff der Persönlichkeitsentfaltung im Zusammenhang der Selbsttötung beschäftigt hat.

Strenge Vorgaben

Dabei hat das Gericht den Gedanken der Persönlichkeitsentfaltung im Leitsatz 1 entschlossen mit dem Autonomiebegriff verbunden: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1
Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“ Die daraus abgeleitete „Freiheit, sich das Leben zu nehmen“, gilt dem Gericht „im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung“. Selbsttötung ist damit als Fall von Selbstbestimmung behauptet. Im gleichen Sinne ist es dann als Ausdruck der Selbstbestimmung zu bewerten, sich für den autonomen Akt der Selbsttötung Beihilfe zu suchen, die folglich auch angeboten und gewährt werden darf. Weil der Selbsttötung dieser hohe Rang eines autonomen Entschlusses beigemessen wird, ist sie grundsätzlich auch zu keinem Lebenszeitpunkt vom Vorliegen äußerer Bedingungen wie Leiden oder Krankheit abhängig. Nachdem das Gericht so weit zu gehen bereit ist, wird es nötig, dem ebenfalls grundrechtlich zugesicherten Schutz des Lebens durch nachgelagerte Bestimmungen Genüge zu tun. Erst hier kommen „Interessen des Gemeinwohls“ ins Spiel, die zu einer verfahrensmäßigen Regelung der Suizidhilfe Anlass geben können. Diese wird freilich unter strenge Vorgaben gestellt und greift erst dort, wo „der Einzelne Einflüssen ausgeliefert ist, die die Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden. Diesen Einflüssen darf die Rechtsordnung durch Vorsorge und durch Sicherungsinstrumente entgegentreten. Jenseits dessen ist die Entscheidung des Einzelnen, entsprechend seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz dem Leben ein Ende zu setzen, hingegen als Akt autonomer Selbstbestimmung anzuerkennen.“ Immerhin bleibt die Autonomie derer erhalten, die um Suizidbeihilfe ersucht werden: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.“ Das ist eine insgesamt konsequente, aber gerade darum problematische, weil im Entscheidenden nicht zureichend begründbare Argumentation. Darum sind die Grundlagen des Urteils der Kritik zu unterziehen.

Was ist Selbstbestimmung? Die Antwort auf diese Frage macht keine philosophische Vorbildung, keine theologische Voraussetzung nötig. Sie ergibt sich aus dem Phänomen menschlichen Lebens selbst. Denn im Zusammenhang organismischen Lebens auf der Welt ist das menschliche Leben dadurch ausgezeichnet, zur Selbstbestimmung bestimmt zu sein. Selbstbestimmung kann nicht als – quasi selbstverständliches – Vorliegen eines Vermögens gedacht werden. Sie ist kein Faktum der Natur. Vielmehr muss Selbstbestimmung als Bestimmung verstanden werden, als Aufgabe, der Menschen in der Führung ihres leiblichen Lebens nachkommen müssen.

Sich selbst zu bestimmen, mutet uns daher zu, uns nicht einfach den Vorgängen natürlichen Lebens zu überlassen. Wir müssen uns vielmehr von ihnen unterscheiden, um uns auf sie zu beziehen. Erst aufgrund dieser Unterscheidung können wir uns selbst bestimmen, also den eigenen Zielsetzungen unter den gegebenen Umständen leiblichen Lebens folgen. Zu diesen Umständen gehört einmal, dass sich unser Leben im Zusammenhang der natürlichen Umwelt bewegt. Sodann, dass wir unsere Selbstbestimmung stets nur im sozialen Kontext von Menschen vornehmen können, die so wie wir der Bestimmung zur Selbstbestimmung folgen und deren Selbstbestimmung von uns zu beachten ist. Selbstbestimmung als Autonomie ist Selbstgesetzgebung.

Der konkrete Begriff der Selbstbestimmung enthält daher zwei Aspekte notwendig in sich: erstens die Tatsache, dass eine Selbstbestimmung immer nur von einem individuellen Menschen vollzogen wird – zweitens die Tatsache, dass er damit sein Dasein als „Selbst“ regelhaft inmitten eines sowohl natürlichen als auch sozialen Zusammenhangs bestimmt. Man könnte sagen: Selbstbestimmung vollzieht sich als subjektive Aktion, und sie besitzt eine objektive Ausrichtung. Oder, ganz einfach ausgedrückt: Selbstbestimmung bezieht sich auf den nächsten Schritt eines freien Handelns im Umfeld von Natur und Gesellschaft.

Der Akt der Selbsttötung fällt nicht unter den konkreten Begriff der Selbstbestimmung. Es handelt sich bei der Selbsttötung zwar um einen selbst vollzogenen Akt. Auch zieht er spezifische Folgen für andere Menschen nach sich. Er ist aber darin von Selbstbestimmung unterschieden, dass es in diesem Akt kein „Selbst“ mehr gibt, das zu bestimmen wäre. Es liegt hier ganz offensichtlich ein Selbstwiderspruch von Selbstbestimmung vor: Selbstbestimmung zu vollziehen und damit zugleich zu negieren. Aus dieser Beobachtung folgt, dass die Selbsttötung eine zwar mögliche Handlung ist, die sich aber der moralischen Beurteilung – ob gut oder schlecht, ob berechtigt oder unberechtigt – entzieht. Auf keinen Fall stellt sie den Ausgangspunkt oder gar den Inbegriff der Selbstbestimmung dar. Sie kommt nicht als Regel-, sondern als selbstwidersprüchlicher Grenzfall in Betracht.

Das bedeutet nicht, wie das BVerfG zu Unrecht unterstellt, dass mit dieser Einschätzung behauptet würde, der Suizident begebe sich seiner Würde – im Gegenteil. Denn die Würde des Menschen besteht in nichts anderem als in seiner Bestimmung zur Selbstbestimmung – unabhängig davon, ob und in welcher Gestalt diese Selbstbestimmung tatsächlich ausgeübt wird (oder, aus welchen Gründen auch immer – etwa krankheitsbedingt –, nicht ausgeübt werden kann). Die Menschenwürde ist insofern nicht nur, wie für staatliches Handeln grundlegend, unantastbar, sie ist auch unverlierbar.

Das gilt nun insbesondere für den Suizid, bei dem die leibliche, als solche bestimmungsbedürftige Existenz negiert wird. Als Hintergrund dafür kommt – wie alle seriösen Forschungen zum empirischen Geschehen suizidaler Handlungen belegen – vor allem die Aussicht in Betracht, mit einer selbstbestimmt verantwortbaren Zukunft, etwa einem Leben auch unter eingeschränkten Bedingungen, nicht mehr zu rechnen. Der Suizid ist daher möglich, aber nur als Selbstbestimmung im Selbstwiderspruch zu denken. Als Grundlage eines Modells von Selbstbestimmung eignet er sich kategorisch nicht.

Abschied vom Naturrecht

Genau diese Umwertung freilich hat das BVerfG vorgenommen. Die Handlung, mit der das Subjekt des Handelns sich selbst negiert, wird als höchster Ausdruck von Selbstbestimmung unterstellt. Der Weg zu einer Auszeichnung der Selbsttötung als vorbildlicher – und damit vorzugswürdiger – Vollzug von Selbstbestimmung lässt sich von dort aus kaum aufhalten. Damit werden, wenn man die Konsequenzen bedenkt, nicht nur alle Formen des Naturrechts verabschiedet, die, in welcher Fassung auch immer, von einem Untergebracht-Sein des Menschen in unserer Welt ausgehen.

Auch die Grundlagen einer Pflicht-ethik, die mit der Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung, also einer Selbstunterscheidung des sittlichen Subjekts im Zusammenhang der natürlichen Welt rechnet, werden negiert. Alles, was die abstrakte Fassung von „Selbstbestimmung“, wie sie das Gericht verwendet, zu beeinträchtigen scheint, muss dann unter „Heteronomie“ verbucht werden. Die Tatsache, dass Lebensschutz und Gemeinwohl so entschieden der „Autonomie“ nachgeordnet werden, bringt diese Konsequenz bereits in dem vorliegenden Urteil zum Ausdruck.

Was eine kommerziell organisierte Suizidhilfe angeht, so geraten die Handlungsmaximen der darin tätigen Suizidhelfer, nämlich den Selbsttötungswunsch anderer Menschen für ein eigenes Konzept der Selbst- und Lebenserhaltung zu verwerten, mit dem individuellen Bestreben nach Ende der Selbstbestimmung ihrer „Kunden“ in einen geradezu grotesken Widerspruch. Das kann sich im Falle des auf selbstbestimmtes Leben ausgerichteten ärztlichen Handelns anders, nämlich als individueller Beistand, darstellen.

Was bleibt – wenn man dem abstrakten Konzept des BVerfGs widerspricht – für Menschen, die mit dem Gedanken umgehen, sich selbst zu töten? Der erste Gesichtspunkt ist die stets vorhandene Menschenwürde. Grundsätzlich ist keiner von uns davor gefeit, der Bestimmung zur Selbstbestimmung nur noch so nachkommen zu wollen, dass wir unserem Leben ein Ende setzen.

Das bewegt aber, zweitens, dazu, denen, die von solchen Regungen betroffen sind, solidarisch beizustehen in der Mobilisierung von Ressourcen der Selbstbestimmung unter empirischen Beschränkungen. Also vor allem sich zu den Einschränkungen des seelischen und leiblichen Lebens zu verhalten, zuerst die Schmerzen zu lindern, durchaus im Bewusstsein eines zu Ende gehenden Lebens. Und, wenn nötig, auch Menschen zu begleiten, die auf ein Ende ihres leiblichen Lebens zugehen und auf selbstbestimmte Selbsterhaltung, also auf Essen und Trinken, verzichten.

Der Gesetzgeber könnte, in den engen Grenzen, die das Gericht gezogen hat, auf Regelungen ausgehen, die eine konkrete Selbstbestimmung auch am Lebensende fördern. Er braucht dafür den abstrakten Vorgaben des Gerichts im Begriff der Selbstbestimmung nicht zu folgen, und er sollte das auch nicht tun.

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