Reli in der Krise

Warum auch das Hamburger Modell des Religionsunterrichts unbefriedigend bleibt
Viele Schülerinnen und Schüler lernen erst in der Schule ihre Religion kennen.
Foto: epd/Uwe Moeller
Viele Schülerinnen und Schüler lernen erst in der Schule ihre Religion kennen.

In der Märzausgabe der zeitzeichen stellte der emeritierte Heidelberger Theologieprofessor Wilfried Härle das Modell des Hamburger Religionsunterrichts vor. Ihm antwortet Hartmut Kreß, Professor für Systematische Theologie in Bonn.

Der konfessionelle Religionsunterricht befindet sich in einer Strukturkrise. Weil der Anteil konfessionell gebundener Schüler abnimmt, lässt er sich vielerorts in herkömmlicher Form nicht mehr durchführen. Der bekenntnisorientierte Islamunterricht, den mehrere Bundesländer nach dem Vorbild der christlichen Religionslehre eingeführt haben, ist schon allein aufgrund des Beiratsmodells zusätzlich zu einem Dauerproblem geworden.

Im Stadtstaat Hamburg erfolgte frühzeitig eine Weichenstellung, die vielversprechend schien. Man erkannte, dass die kirchlich gebundene Bevölkerung quantitativ schmolz und dass das religiöse Spektrum plural wurde. Als Reaktion entstand ein „Religionsunterricht für alle“, der die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in konfessionelle Gruppen separierte, sondern durch gemeinsames Lernen die Praxis gelebter Toleranz einüben wollte. Die Initiative ging von der evangelischen Kirche aus. Sie hatte Sorge, Einfluss zu verlieren, weil ihre herkömmliche Religionslehre leerlief. Für sie selbst bedeutete das Projekt einen Sprung in die Moderne. Denn sie musste sich nun auf interreligiösen Dialog und auf Toleranz einlassen.

Dies ist bemerkenswert. Noch im 20. Jahrhundert hat der einflussreiche evangelische Dogmatiker Karl Barth andere Religionen pauschal als „Unglaube“ und als „unwahr“ abgewertet. In jüngster Zeit nahmen evangelische Kirchen nur zögerlich vom Gedanken der Judenmission Abschied. Die Akzeptanz anderer Religionen und erst recht nichtreligiöser Weltanschauungen fiel und fällt dem evangelischen Christentum schwer.

Auf Akzeptanz und Toleranz hat sich trotz ihrer damaligen Initiative zum Religionsunterricht sogar die für Hamburg zuständige Nordkirche theologisch nur schleppend eingelassen. Das Anliegen des „Gesprächs“ mit anderen schrieb sie 2012 in die Präambel ihrer Kirchenverfassung lediglich als blasse Absichtserklärung hinein. Insofern ist der interreligiöse dialogische Religionsunterricht, den die Kirche in Hamburg seit Jahrzehnten organisiert, sogar in ihrer eigenen Verfassung nur recht schwach verankert. Dies steht in Spannung dazu, dass das Grundgesetz in Artikel 7 Absatz 3 von einer Religionsgesellschaft, die Religionsunterricht erteilt, hierfür die Rückbindung an ihre „Grundsätze“ verlangt.

Unklarheiten der Debatte

Davon abgesehen griff es von vornherein zu kurz, dass ein Religionsunterricht, der verbal „an alle“ adressiert war, allein von der evangelischen Kirche getragen wurde. Auf politischer Ebene sah man den Korrekturbedarf. Die Hamburger Schulbehörde hat kürzlich erneut erklärt, der Religionsunterricht werde „weiterentwickelt“, so dass er künftig „gleichberechtigt von mehreren Hamburger Religionsgemeinschaften verantwortet und von Religionslehrkräften unterschiedlichen Bekenntnisses unterrichtet“ wird. Konkret ist jüdische, muslimische und alevitische Mitträgerschaft gemeint. Im Unterricht sollen die Schülerinnen und Schüler abwechselnd auf christliche oder auf andersreligiöse Lehrkräfte treffen. Eine derartige Konstruktion bewegt sich laut Schulbehörde noch im Rahmen des Religionsunterrichts gemäß Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz.

Dies Letztere ist aber mehr als zweifelhaft. Im juristischen Schrifttum wird die Kompatibilität des früheren und erst recht des jetzt angestrebten „weiterentwickelten“ Hamburger Modells mit Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz durchgängig verneint. Dasselbe besagt ein Gutachten, das hierzu von dem Juristen Hinnerk Wißmann erbeten worden war und 2019 publiziert wurde. Ihm zufolge ist ein „religionsübergreifender, trägerpluraler Religionsunterricht im Bereich des Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz nicht möglich“; er ist „verfassungswidrig“. Andererseits schlug Wißmanns Gutachten dann eine Volte. Im Vertrauen auf die Religionsfreundlichkeit des Grundgesetzes könne man einfach Fakten schaffen. Vielleicht sei der fortentwickelte gemeinsame Religionsunterricht verfassungsrechtlich irgendwie vertretbar, sofern man das Grundgesetz nicht „linear“ auslege – was immer diese methodologisch unklare Auskunft des Gutachters heißen mag.

Ein weiteres Gutachten hat der Theologe Wilfried Härle angefertigt. Es wurde 2019 unter dem Titel „Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen. Eine kritische Sichtung des Hamburger Modells“ veröffentlicht. Zutreffend analysierte es die Unschärfen von Wißmanns Gutachten. Seinerseits wandte es sich dagegen, das Hamburger Projekt ungebrochen fortzuführen. Härle schlug vielmehr ein Phasenmodell vor. Weil evangelische Schülerinnen und Schüler nicht mehr wie früher familiär religiös sozialisiert seien, solle ihnen in der Schule erst ihre nominell eigene Religion vermittelt werden. Anschließend könnten sie andere Religionen zur Kenntnis nehmen, wobei eine Lehrkraft aus einer anderen Religion im Unterricht „anwesend“ sein könne. Ihr sei „gastweise Beteiligung mit Rederecht“ einzuräumen. Insofern bejahte Härle das Kennenlernen anderer Glaubensrichtungen. Aber dies ist für ihn offenbar kein echter inhaltlicher Dialog auf Augenhöhe bis hin zur Bereitschaft, eigene Standpunkte zu revidieren. Begrifflich stellte Härle dies dadurch klar, dass er für eine „Respektierung“ anderer Religionen votierte, die von „Akzeptanz“ zu unterscheiden sei. In seinem für die Nordkirche verfassten Gutachten hat er neue Grenzzäune errichtet. Äußerst schroff erklärte er das bisherige Hamburger Modell in seinem Bemühen, Toleranz in der Schule zu fördern, sogar für „gescheitert“.

Zwischen solchen theologisch-kirchlichen Darlegungen und dem Willen der Hamburger Politik, eben diesen Religionsunterricht auszubauen, bestehen Diskrepanzen, die der Aufklärung bedürfen. Sodann sind weitere Sachprobleme aufzuarbeiten, die nachfolgend angedeutet werden.

Die Mehrheit der Hamburger Bevölkerung gehört keiner Religion an. Insofern verwundert es, dass die Hamburger Politik noch immer keinen Ethikunterricht komplementär zum Fach Religion für sämtliche Jahrgangsstufen eingerichtet hat. Aus Hamburg ist zu hören, in den Schulen werde oft der Eindruck erzeugt, die Teilnahme am Religionsunterricht sei quasi selbstverständlich. Irreführend wird er ja auch als Unterricht „für alle“ bezeichnet. Rechtlich korrekt ist die Teilnahme jedoch freiwillig. Überraschend ist, dass die Vorstöße humanistischer Organisationen, an einem allen gemeinsamen Unterricht beteiligt zu werden, bisher kaum Resonanz gefunden haben, auch nicht in den beiden Gutachten. Endet hier die Toleranz, zu der die Kirche bereit ist?

Auf einen anderen Punkt legen die Gutachten von Wißmann und Härle übereinstimmend großen Wert. Die Konfessionalität des Hamburger Religionsunterrichts soll am Lehrpersonal festgemacht werden. Offen ist, ob die Schülerorientierung, die in Hamburg bislang ein Angelpunkt war, damit durch eine Fokussierung auf die Lehrpersonen überlagert wird. Die Lehrkräfte selbst sollen an ihre Religionsgesellschaften jedenfalls sehr viel deutlicher angebunden werden als bislang.

Ungelöste Probleme

Diese Idee hat ihre Schattenseiten, wenn man etwa an manche Fundamentalismen in den Kirchen und den Religionen denkt. Konkret ist dokumentiert, dass muslimische Organisationen von Personen, die die Lehrerlaubnis erhalten möchten, eine bestimmte Rechtgläubigkeit verlangen und dass sie sich für ihr Privatleben interessieren.

Zurzeit heißt es, in Hamburg wolle sich künftig auch die katholische Kirche am Religionsunterricht in staatlichen Schulen beteiligen. Hier stellt sich das gleiche Problem. Erinnert sei nur an die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Lebensformen durch das katholische Lehramt, die gegebenenfalls auch das Privatleben katholischer Religionslehrkräfte betrifft. Als Anstellungsträger des Lehrpersonals fungiert der Staat. Er wird die Persönlichkeitsrechte von Lehrkräften, die Religion unterrichten oder sich hierfür bewerben, gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften künftig nachdrücklicher schützen müssen als bislang. Dies betrifft nicht nur Hamburg.

Die von den Gutachten und von der Kirche verlangte Konfessionalität der Lehrkräfte wirft noch anderweitige Fragen auf. Für die beiden Gutachten ist es essenziell, dass die Kirche ihnen eine Vokation erteilt. Dies unterstreiche die Bekenntnisgebundenheit des Unterrichts. Hiermit wird den Lehrenden für ihre schulische Tätigkeit allerdings eine konfessorische Bringschuld aufgebürdet, die sich nur schwer einlösen lässt und die sie zu überfordern droht. Außerdem variieren Härle und die Nordkirche den Gedanken dahingehend, dass sie den Lehrkräften mehrere Rollen zuschreiben. Zeitweise hätten sie gläubige „Repräsentanten der eigenen Religionsgemeinschaft“, je nach Unterrichtsgeschehen zeitweise indessen neutrale „Referenten fremder Glaubensüberzeugungen“ zu sein.

Im Ergebnis besagt dies: Den Schülerinnen und Schülern sollen in Hamburg mehrere Religionen nach- oder nebeneinander oder abwechselnd präsentiert werden, sei es von derselben Lehrkraft, die dabei ihre Rollen wechselt, oder von verschiedenen Lehrkräften unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Faktisch werden hiermit mehrere Religionen – im Plural – vergleichend unterrichtet. Damit ist strukturell und inhaltlich materiell der Überschritt zum religionsvergleichenden Unterricht vollzogen, der verfassungsrechtlich als Religionskunde bezeichnet wird. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge sind konfessioneller Religionsunterricht gemäß Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz einerseits, Religionsvergleich beziehungsweise Religionskunde andererseits präzis auseinanderzuhalten. Insofern lässt sich der Unterricht nach dem Hamburger Modell nicht mehr unter den Religionsunterricht fassen, von dem im einschlägigen Grundgesetzartikel die Rede ist. Dasselbe Resümee las man 2019 ausgerechnet in der Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht. Dort wurde das Bemühen, den Hamburger Unterricht irgendwie noch mit Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz zu harmonisieren, als „Quadratur des Kreises“ kritisiert und zutreffend die Frage nach der „Ehrlichkeit“ der Konzeption gestellt.

Welche Konsequenzen sind zu ziehen? Es ist überfällig, die Rechtsunsicherheiten zu beenden. Zur Frage, ob der Hamburger „Religionsunterricht für alle“ mit Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz noch vereinbar ist, sollte eine verfassungsrechtliche Überprüfung, das heißt also ein Normenkontrollverfahren in Gang gebracht werden. Darüber hinaus bedarf es bildungspolitisch der Korrektur, dass Religion und Ethik bundesweit zu Alternativfächern geworden sind.

Einer der Schwachpunkte besteht darin, dass hiermit den Schülerinnen und Schülern des Religionsunterrichts Ethik „vorenthalten“ wird. Es liegt auf der Linie prominenter Vordenker des Protestantismus wie Friedrich Schleiermacher oder Ernst Troeltsch, rechts- und bildungspolitisch jetzt einen Schritt nach vorne zu gehen und Religion in ein übergreifendes Fach Ethik/Religionskunde zu integrieren. Die Erörterung religiöser Themen in der Schule würde hiermit stabilisiert und sogar aufgewertet.

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