Eine Steffi für die Gemeinde
In Vorpommern organisiert Stefanie Brühning seit drei Jahren Fahrdienste im ländlichen Raum, berät bei Fragen in der äuslichen Pflege und im Alltag. Ein kirchlich-diakonisches Projekt auf Zeit, wie zeitzeichen-Redakteurin Kathrin Jütte bei einem Besuch in Jarmen erfährt.
Die Reise nach Jarmen führt über die Peenebrücke. Den „Amazonas des Nordens“, wie Einheimische die Peene bezeichnen. Ruhig windet sich der Fluss und gibt den Blick frei auf Mühle, Getreidesilos und die neugotische St. Marienkirche. Die Peene gibt der Stadt ihren Namen und hält die Menschen hier zusammen. Jarmen, ein touristisch unbeschriebenes Blatt in Vorpommern, nur zwanzig Kilometer bis Greifswald vor der Ostseeküste. In der 2 300 Einwohner zählenden Stadt ist viel renoviert und restauriert, die schmucken Häuserfassaden glänzen in der Wintersonne. Es ist menschenleer an diesem Tag. Jäh unterbrochen wird die Ruhe der Stadt von einem donnernden Eurofighter aus Rostock.
Michael Schleede hat heute schon einen „Lagentermin“ hinter sich. So nennt der 66-Jährige seine regelmäßigen Friseurfahrten. Mehrmals im Monat fährt er ältere Menschen aus Jarmen und den umliegenden Dörfern zum Friseur, ins Nagelstudio, zum Augenarzt nach Demmin, zum Orthopäden nach Stavenhagen oder zum Neurologen nach Greifswald. Ehrenamtlich. Aufmerksam geworden ist der Ruheständler durch eine Anzeige im Kirchenboten, dem Gemeindebrief der Evangelischen Kirchengemeinde Jarmen-Tutow. Fragt man ihn, warum er das tut, dann sagt er: „Das Schöne ist, die Dankbarkeit zu spüren.“
Michael Schleede ist einer der Ehrenamtlichen, die die neue Ehrenamtskoordinatorin Stefanie Brühning gewinnen konnte. Die Kirchengemeinde Jarmen-Tutow gehört zu ihrem Revier. Brühning, die hier alle nur Steffi nennen, arbeitet seit 2017 in dieser Funktion. 36 Jahre alt, in Jeansrock, Wollstrumpfhose, selbstgestricktem Schal empfängt sie die Besucherin im evangelischen Gemeindezentrum Jarmen-Tutow.
Wie wird man Ehrenamtskoordinatorin im Peeneland, wo es heißt, dass man die Stille in Flaschen füllen kann? Stefanie Brühning hat als Krankenschwester zehn Jahre in Berlin-Weißensee in der Akutpsychiatrie gearbeitet. Sie kann mit Menschen, hört zu, erfasst schnell. Eine Stellenanzeige der Diakonie Peene im Nordkurier ließ sie neugierig werden. Das Besondere an dieser Stelle: Eine Ehrenamtskoordinatorin oder auch Alltagsbegleiterin für Menschen auf dem Land wurde gesucht, die zum einen „ehrenamtliche Netzwerke aufbauen“, zum anderen aber auch Menschen im Peeneland in ihrem Alltag unterstützen sollte. Die Stelle war von der Diakonie-Sozialstationen Peene gGmbH ausgeschrieben, die Lohnkosten kamen von der Deutschen Fernsehlotterie, die Sachkosten übernahm die Diakonie.
Was abstrakt in der Anzeige formuliert war, galt es nun mit Leben zu füllen, erzählt sie heute, drei Jahre später. Jetzt weiß sie: Es gibt auf den Dörfern und Städten schon sehr viel funktionierendes Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe, auch in Kirche und Diakonie. Doch: Der Pommer ist in sich gekehrt, verschlossen, Beziehungsaufbau braucht Zeit.
Nachdem sie als Grundlagenarbeit die Richtlinien zum Ehrenamt recherchiert und vorhandene Strukturen evaluiert hatte, galt es nun, das soziale Leben in den vier Kirchengemeinden kennenzulernen, die Gesellschafter in der Peene gGmbh sind. Schnell war klar, die Wege sind enorm lang, das Gebiet so dünn besiedelt, und gleich einem Flickenteppich zersiedelt, dass nur die Kirchengemeinden von Jarmen-Tutow und Gützkow in Frage kamen. Brühning schreibt Artikel für die Gemeindebriefe und die Lokalzeitung, gestaltet Anzeigen, in denen sie um Ehrenamtliche wirbt, entwirft Flyer und organsiert Fortbildungsveranstaltungen mit der Ehrenamtskoordinatorin des Kirchenkreises. Mit einem Info-Stand nimmt sie an Gemeindefesten teil und knüpft Kontakte. Das ist nicht immer leicht, hier auf dem Land. Die Leute sind oftmals misstrauisch, wollen keine Hilfe annehmen, auch wenn Vereinsamung droht, der Ehepartner gestorben ist und die Kinder weit weg in die Stadt gezogen sind.
Drohende Vereinsamung
Doch Stefanie Brühning ist das, was man einen Kümmerer nennt. Ihre Erfahrungen aus der Psychiatrie kommen ihr dabei zugute. Sie gibt nicht auf und kann sich auf die „Befindlichkeiten“, wie sie es nennt, und auf die Krankheiten der Menschen einstellen.
Ein Besuch bei Rita Preußentanz, einer 78 Jahre alten Rentnerin, die allein in ihrem Haus in Jarmen lebt. Kaffee und Kuchen stehen wie immer für Steffi Brühning bereit, das Kätzchen Mohrle hockt lauernd hinter der Gardine. Die verwitwete Seniorin, seit fünfzig Jahren wohnhaft in Jarmen, weiß, was sie an der jungen Frau hat: Steffi weiß immer Rat, wie teuer ein Pflegeplatz ist, was es mit der Grundrente auf sich hat, oder beruhigt, wenn Artikel in der hiesigen Tageszeitung über die Pflegeversicherung mal wieder für Aufruhr in der Nachbarschaft sorgen. Ein Anruf genügt. Überhaupt ist die Hand am Ohr ein typisches Handzeichen, begleitet man Steffi Brühning auf ihrer Tour; „wir telefonieren“ heißt es beim Abschied. Da kommt einem die alte Gemeindeschwester von früher in den Sinn. Zwar versorgt Brühning ihre Klienten nicht medizinisch, doch sie besucht sie zuhause, berät je nach Bedarf, organisiert soziale Kontakte über die Kirchen- und Ortsgemeinden und versucht, die Senioren darin zu unterstützen, so lange wie möglich in ihrem Haus wohnen zu bleiben. Sie weiß genau, welche Unterstützung die Seniorin in ihrer Nachbarschaft erfährt, wo aber auch weiteres ehrenamtliches Engagement den Alltag von Rita Preußentanz deutlich erleichtern könnte. Die Arztfahrten für sie übernimmt inzwischen der ehrenamtliche Fahrer Michael Schleede.
Wer mit Stefanie Brühning unterwegs ist, fährt durch kleine Orte inmitten ursprünglicher Natur, immer wieder taucht zwischen den blattlosen Bäumen die Peene auf. Messen lässt sich die Arbeit einer Ehrenamtskoordinatorin nicht. Wer will schon Beziehungspflege numerisch fassen? Doch die Arbeit fischt Menschen. Wie zum Beispiel Sybille Buske.
Nein, getauft ist Sybille Buske nicht. Aber wenn sie jeden Morgen in die Peene steigt, um ein Bad zu nehmen, und von Ferne den Kirchturm sieht, sagt sie: „Pass schön auf mich auf.“ Buske, 56 Jahre, ist früher zur See gefahren. Sie ist ein Gemeinschaftsmensch durch und durch. Als im Frühjahr 2018 ihre fast 25-jährige Tochter stirbt, die bis zuletzt ein Intensivpflegefall war, ist die agile Frau hochgradig isoliert. Da kam ihr der Ehrenamtsflyer in der Apotheke, in dem Stefanie Brühning um Menschen warb, gerade recht.
Der Kontakt war schnell hergestellt; in Loitz, einer kleinen Nachbarstadt, betreute Sybille Buske fortan zwei Damen aus einer diakonischen Seniorenwohngruppe, ging mit der einen einkaufen oder über den Friedhof, erzählte mit der anderen oder las vor. „Ich muss jetzt nach vorne schauen, es ist eine Chance“, sagte sie sich damals, vor zwei Jahren. Gesagt, getan. Aus dem Ehrenamt wurde schnell eine vollständige Beschäftigung, heute arbeitet die 56-Jährige als Pflegehelferin bei der Diakoniestation in Loitz. Und auch bald zwei Jahre später kann sie ihr Glück kaum fassen: „Ich bin der glücklichste Arbeitnehmer.“ Aus der Isolierung zu kommen und auf einmal im Kreis von Arbeitskolleginnen zu arbeiten, bei dem Gedanken daran treten ihr noch heute Tränen in die Augen. Ihr Ehrenamt hat sie nicht aufgegeben, die zwei alten Damen werden weiter besucht und sei es in der Mittagspause.
Zurück nach Jarmen ins evangelische Gemeindehaus. Dort wartet Pastor Arnold Pett an seinem Arbeitsplatz in einem renovierten Fachwerkhaus unter dem Dach. Pett, Jahrgang 1974, ist seit fünf Jahren Pastor in der evangelischen Gemeinde Jarmen-Tutow. Fragt man ihn nach seiner Gemeinde, antwortet er: „1 300 Gemeindeglieder in vierzehn Dörfern mit acht Kirchtürmen.“ Um gleich zu relativieren, das sei nicht so viel, es gebe Kollegen mit mehr Kirchtürmen. Und die Zukunft sieht nicht rosig aus: In den kommenden zehn Jahren wird jeder dritte Pastor in Pommern in den Ruhestand gehen. Auch deshalb arbeitet seine Kirchengemeinde eng mit Stefanie Brühning zusammen, die in seinem Pfarrbereich wohnt, sich in der Kinderkirche ehrenamtlich engagiert und selbst Mitglied des Kirchengemeinderates ist.
Melancholische Schwere
Pett erzählt von der besonderen Situation im Nordosten, von Entkirchlichung und Glaubensabfall, von den Schwierigkeiten, als Kirche in der Kommune Fuß zu fassen, und davon, dass sich die evangelische Kirche mit ihrem Angebot auf dem Markt der Konkurrenz stellen muss. Und von der melancholischen Schwere der Pommern, die auch aus der Wendezeit herrührt. Goldener Westen? Von wegen. Jarmen war zu Ostzeiten eine florierende Stadt, mit Zuckerfabrik, Kleiderwerken, Möbelindustrie und Molkerei. Jetzt droht auch dem letzten Großbetrieb, der Mühle, das Aus. Eine Symbolik des Negativen nennt er das.
Wer so viel über Land fährt, wie Pastor Pett, weiß: „Komm-Strukturen“ kann sich hier keiner mehr leisten, „hier musst Du Klinken putzen“, sagt er. Und während die Gottesdienste spärlich besucht sind, besteht nach den diakonischen Dienstleistungen große Nachfrage. „Die Diakonie ist der praktisch-sichtbare Teil, den man vor Ort zeigen kann“, erläutert Pett. Mit Andachten und Seelsorge hält er den engen Kontakt.
„Die Zukunft wird nicht mehr am Pastor kleben, auch wenn das parochiale Denken noch vorherrscht“, sagt er. Wegen der starken Regionalisierungen gehen die pastoralen Aufgaben in Pommern immer weiter zurück. Da braucht es weitere Ehrenamtliche. Sicher, der Pastor hat die Präsenzkraft im Ort, aber die Arbeit muss seiner Meinung nach auf breite Schultern verteilt werden. Und dazu braucht es Menschen wie Stefanie Brühning. Sie sei eine Botschafterin, stehe für eine klare Haltung und kommuniziere die christlichen Grundsätze: „Jede Kirchengemeinde braucht eine Stefanie Brühning.“ Das ist sein Traum. Damit aus dem Flickenteppich ein Netzwerk wird.
Und die Ehrenamtskoordinatorin? Ihre Stelle läuft Ende Mai aus, für eine Weiterbeschäftigung fehlt leider das Geld. Brühning tritt zum 1. Juni in den Dienst der Sozialstation in Gützkow. Mit fünf Stunden in der Woche wird sie aber weiter Lebensberatung im Nachbardorf Tutow anbieten. Welche Erfahrungen hat Stefanie Brühning gesammelt? „Mit mir zusammen kann sich die Kirchengemeinde noch stärker in die kommunale Gemeinde integrieren und vernetzen.“ Und somit könnten Kirche und Diakonie ein noch stärkerer Faktor in Kommune und Zivilgesellschaft sein. Keine Frage, die engagierte Frau ist im Außendienst der Kirche.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.
Hans-Jürgen Krackher
Hans-Jürgen Krackher ist freier Fotograf. Er lebt in Potsdam.