Nötige Vernetzung

Zwischen Kirche und Diakonie

Wie lässt sich das spannungsreiche Verhältnis von Kirche und Diakonie beschreiben? Als Baum und Früchte, Mutter und Tochter, David und Goliath oder als zwei Seiten einer Münze? Matthias Fichtmüller ist Vorstand eines großen diakonischen Unternehmens in Brandenburg. Mit Diakonie ist Kirche legt er eine unbedingt lesenswerte diakoniewissenschaftliche Dissertation vor. Ausgangspunkt ist die Situation der Landeskirchen sowie der Unternehmensdiakonie (nicht nur, aber besonders) in Ostdeutschland: Während die Landeskirchen immer weiter an Bedeutung verlieren, wächst die gesellschaftliche Relevanz der Unternehmensdiakonie, nicht nur als Arbeitgeberin und Dienstleisterin, sondern auch als Erfahrungsort christlicher Tradition. Es besteht ein offensichtlicher Klärungsbedarf, in welchem Verhältnis Kirche und Diakonie künftig stehen sollen. Insbesondere angesichts dessen, dass immer mehr Mitarbeitende der Diakonie keinen direkten Bezug zur Kirche haben, dass die von der Kirche proklamierte Deutungshoheit nicht mehr plausibel wirkt und dass viele Menschen – Kirchenmitglieder wie Konfessionslose – im diakonischen Handeln die Kirche im eigentlichen Sinne verorten.

Als Antwortangebot entwirft Fichtmüller das Modell einer landeskirchenunabhängigen „Diakoniekirche“. Darunter versteht er diakonische Unternehmen als eigenständige Ausprägung einer Kirche der Zukunft – nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu den herkömmlichen Kirchenformen. Alle Beschäftigten, die am gemeinsamen Auftrag mitarbeiten, sind Mitglieder, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis. Auf der Grundlage dieses inklusiven Kirchenverständnisses soll die Diakoniekirche eine Brücke zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Kirche und Gesellschaft schlagen und einen innovativen Kommunikationsraum für religiöse Fragen schaffen. Die Diakoniekirche übernimmt zwar in erster Linie diakonische Aufgaben, aber sie kann auch andere kirchliche Aufgaben dort übernehmen, wo sich volkskirchliche Strukturen bereits aufgelöst haben. Zur Erfüllung dieser Aufgaben (Gottesdienste und Sakramente) gehört zu einer Diakoniekirche immer auch so etwas wie eine Anstaltsgemeinde.

Der Autor knüpft explizit an Alfred Jägers Deutung von Diakonie als eigenständiger Gestalt von Kirche, an Jens Rannenbergs Konzept von diakonischen Unternehmen als Gemeinde sowie an Michael Bartels Verständnis von Diakonie als Bindeglied zwischen kirchlichem und kulturellem Christentum und entwickelt diese Ansätze sinnvoll weiter. Im Blick auf die systematisch-theologische Begründung des Modells wäre noch Luft nach oben gewesen. Häufig kommt es zur Vermischung der Ebenen von verborgener und sichtbarer Kirche. Nur weil der Autor zu Beginn definiert, dass er die sichtbare Kirche meint, wenn er von Kirche spricht, folgt daraus nicht, dass alle klassischen theologischen Texte, auf die er rekurriert, in dieser Weise gedeutet werden könnten. Es ist gut evangelisch, nicht von der Kirche als Institution, sondern von der Kirche als Gemeinschaft derer, die auf die Liebe vertrauen, her zu denken. Ebenso gut evangelisch ist es, die implizite Kommunikation der Liebesbotschaft mit Taten nicht gegenüber ihrer expliziten Kommunikation mit Worten abzuwerten. Hier nutzt Fichtmüller nicht alle theologischen Möglichkeiten, die er gehabt hätte, um seinen guten Ansatz zu untermauern.

Entsprechend hätte er sogar noch mutiger sein können, wenn es um Fragen der obligatorischen Kirchenmitgliedschaft für Führungskräfte, der inhaltlichen Bestimmung dessen, was Kirchlichkeit und Gemeinde ausmacht, oder der Rolle ordinierter Theologen sowie der EKD geht. Gleichwohl liefert der Band nicht nur eine ausgezeichnete Zusammenfassung der relevanten Aspekte zum Verhältnis von Kirche und Diakonie, sondern vor allem einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Zukunft der Diakonie zwischen christlichem Anspruch und interreligiöser Öffnung, zwischen überholten kirchlichen Strukturen und gesellschaftlicher Vernetzung.

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