Eine unselige Verquickung

Die autoritäre Versuchung ist tief in der Geschichte des Protestantismus verwurzelt
Anette Schultner
Foto: epd/ Christian Ditsch
Die ehemalige Vorsitzende vom Bundesverband Christen in der AfD, Anette Schultner (mittlerweile ausgetreten wegen der AfD-Radikalisierung), im Gespräch mit Landesbischof Markus Dröge auf dem Kirchentag 2017.

Christen sind durch die Botschaft von der Liebe Gottes nicht automatisch immun gegen völkisches, nationalistisches, autoritäres und menschenfeindliches Denken – im Gegenteil. Warum ist das so? Und was ist zu tun? Das untersucht der Buchautor und Journalist Arnd Henze.

Am Heiligabend 2010 lag unter dem Weihnachtsbaum meiner Mutter ein Buch. Es war festlich verpackt und sorgfältig ausgewählt – obwohl schon der Titel so gar nicht zur Weihnachtsbotschaft passte: „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin. Das Geschenk kam von einem nahen Verwandten, einem langjährigen SPD-Mitglied, engagierten Kirchenmitglied und großen Liebhaber protestantischer Kirchenmusik. Er hat das Buch nicht nur meiner Mutter geschenkt. Für ihn war und ist Sarrazin ein mutiger Aufklärer, der es gewagt habe, sich dem rot-grünen Zeitgeist mit seinen Denk- und Sprechverboten zu widersetzen. Denn obwohl der Autor damals mit seinen kruden Überfremdungsthesen durch alle Talkshows zog, gab es schon vor zehn Jahren die Opferinszenierung, dass unbequeme Wahrheiten tabuisiert würden.

Soweit ich weiß, hat meine Mutter das Buch nur in Auszügen gelesen. Aber „Deutschland schafft sich ab“ lag unter hunderttausenden Weihnachtsbäumen. In wenigen Monaten erreichte das Buch eine Auflage von 1,5 Millionen. Ein solcher Erfolg braucht eine Zielgruppe, und er braucht einen Resonanzraum. Und beides hatte Sarrazin. Zielgruppe war die bildungsbürgerliche Mitte der Gesellschaft. Den Resonanzraum bildete ein latenter Rassismus, der durch ihn im öffentlichen Raum wieder hoffähig wurde. Ich erinnere mich an viele Gespräche, in denen ein despektierliches Naserümpfen über den vulgären Biologismus nur die Rampe für die vermeintlich „differenzierte“ Zustimmung zu den rassistischen Thesen des Buches bildete.

Ressentiments geadelt

Der Erfolg von „Deutschland schafft sich ab“ hat wie kein anderes Ereignis die Schleusentore geöffnet und die Grenzen des Sagbaren verschoben. Die Ressentiments des Stammtischs wurden pseudoakademisch geadelt und in der bürgerlichen Mitte zum Testfall für die Meinungsfreiheit verbrämt. Mit dem pathetischen „Das muss man doch mal sagen dürfen“ wurde das Beharren auf einem antirassistischen Grundkonsens als vermeintliches Diktat einer Political Correctness denunziert und in die Defensive gebracht.

Dabei ist es nicht allein der Verbreitungsschub zum Weihnachtsfest, der die Verknüpfung zum protestantischen Milieu begründet. In anderem Zusammenhang sind Kirchenvertreter durchaus stolz darauf, wie stark das Bildungsbürgertum historisch durch die Kirchen der Reformation geprägt wurde. Umgekehrt sind viele Gemeinden heute Rückzugsorte, in denen dieses Milieu weitgehend selbstreferentiell unter sich bleibt.

Trotzdem blieben viele Kirchenvertreter lange überzeugt, Christen seien durch die Botschaft von der Liebe Gottes automatisch immun gegen völkisches, nationalistisches, autoritäres und menschenfeindliches Denken. Ein solcher Optimismus wurde gespeist durch die Eindeutigkeit kirchlicher Verlautbarungen und durch das vielfältige Engagement in Gemeinden und Diakonie. Trotzig verweigerte man sich deshalb empirischen Untersuchungen, die schon vor Jahren auf spezifische Anfälligkeiten im kirchlichen Milieu hinwiesen. Das gilt vor allem für die große internationale Untersuchung „Being Christian in Western Europe“ des Washingtoner Pew Research Center. Deren Stärke liegt darin, dass sie zwischen Kirchenmitgliedern und der Teilgruppe der regelmäßigen Kirchgänger differenziert und zudem Trends zeigt, die über Deutschland hinaus reichen.

Der Befund ist alarmierend: Viele problematische Einstellungen sind unter Kirchentreuen nämlich deutlich ausgeprägter als beim Durchschnitt der Befragten. So sagen 55 Prozent der regelmäßigen Kirchgänger, dass „der Islam grundsätzlich nicht mit der Kultur und den Werten unseres Landes vereinbar“ sei, bei den Konfessionslosen sind es nur 32 Prozent. Eine ähnliche Diskrepanz ergibt sich bei der Forderung nach einer „Reduzierung“ der Einwandererzahlen (48 zu 36 Prozent).

Ein Ergebnis schmerzt mich auch persönlich ganz besonders: Mehr als 70 Prozent der regelmäßigen evangelischen und katholischen Gottesdienstbesucher meinen, man müsse in Deutschland geboren sein und deutsche Vorfahren haben, „um wirklich Deutscher zu sein“. Dieser Wert liegt drastisch über dem der Gesamtbevölkerung (49 Prozent) und ist sogar mehr als doppelt so hoch wie bei den Konfessionslosen. Übersetzt bedeutet das: Meine in der Türkei geborene Frau mag zwar zur Präsidialversammlung des Kirchentags gehören und sich auch sonst in der Kirche prominent engagieren, würde aber von drei Vierteln der aktiven Christinnen und Christen niemals als „wirklich Deutsche“ anerkannt werden. Man kann es nett umschreiben oder drastisch beim Namen nennen: Dieses Denken ist auch dann völkisch-identitär, wenn es sich nicht aggressiv rechtsextrem, sondern freundlich in Watte verpackt äußert.

Wer nach einer Erklärung für diese Zahlen sucht, findet zumindest zwei Ansatzpunkte. Der eine ist die schon beschriebene Milieuverengung in vielen Gemeinden. Erst langsam erkennen einzelne Landeskirchen die interkulturelle Öffnung als Herausforderung. An manchen Orten wird sie bereits gelebt. An vielen Gemeinden prallt die gelebte Vielfalt der Gesellschaft aber bis heute ab.

Hinzu kommt, dass es im Mutterland der Reformation immer noch eine unselige Verquickung von Deutschsein, deutscher Kultur und Protestantismus gibt. In der Pew-Studie schlägt sich das auch in Zahlen nieder: Überdurchschnittlich viele Kirchgänger sind zum Beispiel überzeugt, „dass unser Volk nicht perfekt, aber seine Kultur anderen überlegen ist“.

Um nicht missverstanden zu werden: Wer solchen Aussagen zustimmt, ist deswegen kein Rechtsextremer. Und im notwendigen Gespräch in den Gemeinden sollten wir uns hüten, einander mit solchen Etiketten zu versehen. Auch wenn es keine wissenschaftlich eindeutige Definition gibt: Rechtsextremist ist nur, wer ein geschlossenes Weltbild mit antidemokratischen, nationalistischen und menschenfeindlichen Einstellungen vertritt, die zu einer aggressiven Ablehnung der demokratischen Verfassung führen. Davon gibt es im Raum der Kirche kaum welche.

Die Studie des Pew Centers ermittelt aus den Antworten auf 22 Fragen die „NIM-Skala“ – eine Abkürzung für „Nationalist, Anti-Immigration and Anti-Religious Minorities“. Auf dieser Skala kommen mehr als vier von zehn regelmäßigen Kirchgängern auf einen Wert zwischen fünf und zehn – das sind fast doppelt so viele wie bei den nicht praktizierenden Christen (24 Prozent) und noch deutlich mehr als bei den Konfessionslosen (18 Prozent). Das bedeutet: Es gibt bei einer erheblichen Minderheit Schnittmengen mit extremen Einstellungen und Ressentiments – ohne dass dies mit einer fundamental-aggressiven Ablehnung der Demokratie verbunden ist. Und diese Schnittmengen schwächen die Resilienz gegen das Vordringen rechter Ideologien.

Die Gemeinden stehen deshalb vor einer Alternative, die eine bewusste Pfadentscheidung braucht: Will sie ihren besonderen Reichtum in die Vielfalt unserer Gesellschaft einbringen und zum Lernort für den sozialen und kulturellen Wandel werden? Oder will sie sich von diesem Wandel abkoppeln und zum Rückzugsraum für jene werden, die sich an die vermeintliche Homogenität des vorigen Jahrhunderts klammern und mit Bach und Luther „richtig Deutsch“ bleiben wollen?

Überhöhte Obrigkeit

Neben der völkisch-identitären Anfälligkeit ist auch die autoritäre Versuchung tief in der Geschichte des Protestantismus verwurzelt. Die aus Martin Luthers pessimistischem Menschenbild abgeleitete Überbetonung des strafenden „Schwertamtes“ verband sich im 19.Jahrhundert mit einer triumphalistischen Überhöhung der Obrigkeit als „Schöpfungsordnung“. Bis weit in die Geschichte der Bundesrepublik hinein fremdelten deshalb erhebliche Teile der evangelischen Kirche mit der parlamentarischen Demokratie. Noch 1959 trauerte der damalige Ratsvorsitzende der EKD Otto Dibelius in seiner Schrift „Obrigkeit“ der Monarchie nach, der er im Unterschied zum demokratischen Staat des Grundgesetzes „Würde“ zusprach.

Das in Erinnerung zu rufen, bedeutet keine Nestbeschmutzung – im Gegenteil: Es macht nämlich deutlich, welche herausragende historische Leistung die evangelische Kirche in den Jahren nach 1960 mit der Annahme und Aneignung der parlamentarischen Demokratie vollzogen hat. Wenn wir heute nach Resourcen für die Verteidigung der gefährdeten Demokratie suchen, sollte der Protestantismus seinen Lernprozess sehr selbstbewusst in die Erinnerungskultur unserer Gesellschaft einbringen, lebendig machen und von diesem Fundament aus auf die heutigen Herausforderungen zugehen.

Doch so wie Eis auf einem See Zeit braucht, um tragfähig zu werden, bewegen wir uns auch als Protestanten nach dieser kurzen Zeitstrecke noch auf brüchigem Eis. Das Autoritäre und Dogmatische steckt immer noch in der DNA des Protestantismus. Da das ganze Land jüngst erschrocken nach Thüringen blickte, sei hier eine Zahl aus dem „Thüringen-Monitor“ genannt, der alljährlich von der Landesregierung erhoben wird. Da ging es um folgende Aussage: „Wer seine Kinder zu anständigen Menschen erziehen will, muss von ihnen vor allem Gehorsam und Disziplin verlangen.“ Die größte Zustimmung für diese autoritäre Erziehungsvorstellung fand sich mit 69 Prozent bei den thüringischen Katholiken, gefolgt von 62 Prozent der Protestanten. Bei den Konfessionslosen waren es „nur“ 52 Prozent. Die Sehnsucht nach „einer einzigen starken Partei“, die die Interessen aller Deutschen vertritt, zieht sich mit über 40 Prozent Zustimmung quer durch die Bevölkerung der gesamten Republik.

Man musste deshalb schon die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, um von den Wahlergebnissen in den ostdeutschen Bundesländern überrascht zu werden. In Sachsen stimmten 25 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder für die AfD – fast ebenso viele wie im Durchschnitt der Bevölkerung. In Thüringen waren es 21 Prozent. Nur in Brandenburg lag der AfD-Anteil bei den Protestanten mit 17 Prozent signifikant unter dem Landesschnitt von 23,5 Prozent. Es hat also offensichtlich Wirkung gezeigt, dass die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische-Oberlausitz die Herausforderungen durch AfD und Rechtsextremismus schon früh angenommen und eine konsequente Politik der Abgrenzung verfolgt hat – ganz im Gegensatz zur sächsischen Landeskirche, die unter ihrem inzwischen zurückgetretenen Bischof Carsten Rentzing auf Appeasement mit der AfD gesetzt hatte.

Umso mehr muss man der sächsischen Kirchenleitung dankbar sein, dass sie die Frage nach der fundamentalen Unterscheidung zwischen konservativ und rechtsextrem inzwischen gestellt hat. Dass eine solche Klärung nicht ohne schmerzhafte Debatten in den Gemeinden gelingen kann, sollten alle Beteiligten nüchtern einplanen. Denn in der Grauzone zwischen dem rechten Rand der Kirche und politisch extremen Strömungen formiert sich auch in Europa eine Religiöse Rechte, die ähnlich aggressiv auftritt, wie das seit langem in den USA zu beobachten ist.

Einen Vorgeschmack auf solche Auseinandersetzungen zeigte sich zum Jahreswechsel in Aue im Erzgebirge. Als es an Heiligabend bei einer Weihnachtsfeier für Bedürftige zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Geflüchteten kam, wurde ein ehrenamtlicher Helfer durch Messerstiche schwer verletzt. Während die Kirchengemeinde daraufhin zu einem Friedensgebet in die Kirche einlud, gelang es der örtlichen NPD im Bündnis mit anderen Rechtsextremen, nahezu zeitgleich zu einer Kundgebung mit über 2 000 Menschen zu mobilisieren.

Dort hielt der Sprecher von „Pro Chemnitz“, Martin Kohlmann, eine demonstrativ als „Predigt“ angekündigte Rede, in der er mit vielen Bibelzitaten und Verweisen auf die Religionsgeschichte einen völkischen Charakter des Christentums und ein Gebot der Ausgrenzung fremder Kulturen und Religionen behauptete. Videoaufnahmen zeigen dazu heftigen Beifall, zustimmende Zwischenrufe – aber keinerlei Hinweise auf Protest oder Distanzierung unter den Zuhörenden.

Dabei zielte die „Predigt“ klar auf Spaltung. Kohlmann reklamierte ausgerechnet das reformatorische „Priestertum aller Gläubigen“, um die kirchliche Basis gegen die „Amtskirche“ aufzuhetzen. Die von der Auseinandersetzung betroffene Kirchengemeinde wurde an den Pranger gestellt, weil sie ihre Türen nicht nur für „Deutsche“, sondern auch für Geflüchtete geöffnet hatte. Es war eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Die Kundgebung in Aue zeigt in extremer Form, wie es nur eines zufälligen Anlasses bedurfte, um alle Grenzen zwischen einer völkisch-ressentimentgeladenen Religiosität und dem organisierten Rechtsextremismus zu verwischen. Dabei werden viele (wenn auch längst nicht alle) der Kundgebungsteilnehmer vier Tage zuvor noch in ihrer Kirchengemeinde friedlich die Christvesper gefeiert haben.

Unvorbereiteter Protestantismus

Alle mir bekannten Reaktionen von Haupt- und Ehrenamtlichen auf Aue dokumentieren seitdem vor allem Sprach- und Hilflosigkeit. Auf die Auseinandersetzung mit einer noch diffusen, in Teilen schon Religiösen Rechten ist der Protestantismus in Deutschland politisch, theologisch und kommunikativ bisher kaum vorbereitet.

Dies ohne Vorwürfe in irgendeine Richtung einzugestehen, ist ein notwendiger erster Schritt, um die sich daraus ergebende Herausforderung annehmen zu können. Der nächste Schritt wäre, in einen großen Erfahrungsaustausch über den Umgang mit dem Rechtsextremismus zu treten. Denn das ist die gute Nachricht: An vielen Orten gibt es bereits vielfältige Beispiele für best practice, was das Eintreten für Menschlichkeit und Weltoffenheit, den explizit christlich begründeten Widerspruch gegenüber den Verächtern der Demokratie sowie das Zusammenwirken mit anderen Trägern der Zivilgesellschaft angeht. Nach der Schandwahl von Thüringen haben zum Beispiel auch Kirchenvertreter auf spontanen Kundgebungen gesprochen. Und manche Reden, wie die des Düsseldorfer Superintendenten Heinrich Fucks, waren herausragend.

Wo ist die gut moderierte Facebookgruppe, in denen Gemeinden ihre Erfahrungen austauschen, auf gelungene Beispiele zurückgreifen und sich in konkreten Stresssituationen in Realzeit Rat und Unterstützung holen können? Im großen Stresstest der Demokratie werden alle „Lessons Learned“ gebraucht, um eine Sprachfähigkeit zu erlernen, die innerhalb der Gemeinden genauso trägt wie auf dem öffentlichen Marktplatz.

Vor allem gehört das Thema regelmäßig auf die Tagesordnung von Pfarrkonventen, Gemeindeversammlungen und Synoden. Bis die EKD im Herbst 2021 endlich ihre eigene Studie vorlegt, sollten wir dafür die längst vorhanden empirischen Daten als Arbeitsgrundlage akzeptieren – auch wenn sie in Teilen schmerzhaft sind. Doch wenn die verdrängten Bruchstellen erst an einem konkreten – und nie planbaren – Anlass zum Konflikt führen, ist es meist zu spät. Denn dann entwickeln die Kontroversen in der digitalen Beschleunigung schnell eine Eigendynamik. Diese kommunikative Erfahrung verbindet die politischen Ereignisse in Thüringen mit dem kirchlichen Erdbeben in Sachsen. Es ist höchste Zeit, die Resilienz gegenüber solchen Erschütterungen zu stärken.


 

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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