„Warum hat der Papst geschwiegen?“

Gespräch mit dem Kirchenhistoriker Hubert Wolf über die Öffnung der vatikanischen Archive zum Pontifikat von Papst Pius XII. in Rom – und was man da wohl findet
Hubert Wolf
Foto: Heiner Witte
Hubert Wolf, geboren 1959, studierte in Tübingen und München katholische Theologie. 1985 erhielt er die Priesterweihe. Ab 1992 lehrte er an der Universität Frankfurt/ Main, 1999 wechselte Wolf an die Universität Münster. Wolf ist Autor mehrerer Sachbuch-Bestseller zu kirchlichen Themen.

zeitzeichen: Am 2. März öffnet der Vatikan seine Archive zu den Kriegsjahren von Papst Pius XII. ab 1939. Sie sind dabei – es geht da vor allem um das berühmte Schweigen des Papstes zum Holocaust, oder?

HUBERT WOLF: Unser erstes Ziel, für das wir von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie der Deutschen Bischofskonferenz Drittmittel erhalten haben, ist wirklich eine Annäherung an das Thema „Pius XII. und der Holocaust“. Denn in den vielen Gesprächen mit jüdischen Kolleginnen und Kollegen und vor allem Überlebenden des Holocaust habe ich immer wieder gesagt bekommen: „Versprechen Sie mir, dass Sie, wenn das Material einmal zugänglich wird, herausfinden, warum der Papst geschwiegen hat!“

Das ist bewegend.

HUBERT WOLF: Ja, denn Sie sind damit nicht nur wissenschaftlich gefordert, sondern auch moralisch verpflichtet. Und dazu kommt es heute wieder in Deutschland – was man sich vor zwanzig Jahren nicht vorstellen konnte – zu verabscheuungswürdigen antisemitischen Vorfällen. Geschichte hat hier in einem aktuellen Deutungskonflikt einmal wirklich Relevantes zu sagen.

Sollten wir Sie nicht lieber in der zweiten Jahreshälfte noch einmal besuchen, wenn Sie Ihre Schlüsse aus den Archivfunden ziehen?

HUBERT WOLF: Glauben Sie, dass man so schnell Schlüsse ziehen kann? Journalisten (wie Sie) gehen zwei Tage in die Archive und meinen dann, gleich alles zu wissen …

Nein, aber Sie sind doch der Fachmann. Sie werden schnell einen Eindruck haben, oder?

HUBERT WOLF: Aber noch kein fertiges Bild. Das wird noch nicht einmal ein Holzschnitt. Überhaupt muss man zuerst einmal die richtigen Fragen an die richtigen Quellen stellen. Dann muss man die so gewonnenen Informationen nach den Regeln historischer Kunst zu einem Ganzen verbinden. Und in diesem ist der Holocaust, so wichtig er ist, nur ein Thema unter vielen.

Es geht bei der Archivöffnung ja nicht nur um die Kriegsjahre.

HUBERT WOLF: Nein, es werden alle Akten von 1939 bis 1958 zugänglich, also alle Akten des Pontifikats Pius’ XII. Damit sind wir zunächst natürlich bei den Fragen, die im Grunde spätestens seit Rolf Hochhuths Der Stellvertreter auf dem Tisch liegen: Warum hat der Papst zur Ermordung von sechs Millionen Juden geschwiegen? Oder wollte er doch reden? Ist vielleicht das, was seine Haushälterin Schwester Pascalina Lehnert schrieb, richtig, nämlich dass er einen flammenden Protest für Radio Vatikan vorbereitet hatte? Den er dann aber verbrannte, weil die holländischen Bischöfe gegen die Judenverfolgung protestiert hatten und daraufhin die Deportationszahlen in den Niederlanden erst recht stiegen.

Diese Spekulation ist schon älter.

HUBERT WOLF: Ja, aber jetzt hören die Spekulation hoffentlich bald auf. Denn wir können endlich die internen Quellen selbst studieren und die Fragen beantworten: Wann wusste der Papst was von wem? Wann erfuhr er von der „Endlösung der Judenfrage“? Wann sah er die ersten Bilder von Auschwitz?

Dass er relativ früh Bescheid wusste, ist doch klar. Es gab im Vatikan erste Hinweise wahrscheinlich schon 1942 auf das, was in Europa passierte.

HUBERT WOLF: Ja. Aber was passierte daraufhin intern? Also: Die Informationen zum Holocaust kamen im Vatikan an. Wer bekam sie zu Gesicht? Komplett oder selektiv? Mit wem besprach der Papst sie? In welcher Kongregation? Mit welchen Kardinälen? Wie funktionierte die Entscheidungsfindung im Vatikan? Und welche Rolle spielten bei alldem die Amerikaner?

Warum könnte das wichtig sein?

HUBERT WOLF: Pius XII. war wenige Jahre vor seiner Wahl zum Papst als Kardinalstaatssekretär in den USA, was oft vergessen wird. Dort hat er unter anderem Joseph Kennedy kennengelernt, den Vater von John F. Kennedy. Was Pacelli in den Dreißigerjahren an amerikanischen Netzwerken aufbaute, war ihm vielleicht gerade von 1939 bis 1945 und darüber hinaus nützlich.

Das geht dann schon in die Nachkriegszeit.

HUBERT WOLF: Ja, und da stellt sich die Frage: Wie ist die Westbindung der römischen Kurie nach dem Krieg und die Gründung der Democrazia Cristiana zu sehen? Denn diese ging vom Vatikan aus. Zunächst war Pius XII. gegen die Demokratie; dann trat er, wohl aus Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme in Italien, für sie ein. Und wie war es eigentlich mit der „Rattenlinie“, mit den vatikanischen Pässen, mit denen Nazi-Verbrecher nach dem Krieg in Lateinamerika untertauchen konnten? Wusste der Papst davon? Wie viele solcher Pässe wurden ausgestellt? Allein dazu soll es siebzig Schachteln geben.

Wir wissen aber, und das ist doch das Entscheidende, dass Papst Pius XII. zum Holocaust öffentlich geschwiegen hat.

HUBERT WOLF: Richtig. Zumindest hat er nur „uneigentlich geredet“, wie immer wieder gesagt wird. Aber aus welchen Motiven? Nehmen wir mal an, es finden sich Hinweise dazu, dass der Papst überlegt hat, öffentlich gegen den Holocaust zu protestieren. Vielleicht gab es sogar einen Text. Und vielleicht stimmt die Holland-Hypothese ja doch.

Würde ihn das entschuldigen?

HUBERT WOLF: Ein moralisch erhobener Zeigefinger steht uns als Historiker nicht zu. Wir haben möglichst präzise zu rekonstruieren, was passiert ist und was nicht.

Es gab von Pius XII. diese komische öffentliche Formulierung: „Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder fortschreitender Verelendung preisgegeben sind.“

HUBERT WOLF: Ja, das war in der Weihnachtsansprache 1942. Selbst heute braucht man viel Fantasie, ihn als direkten Protest gegen den Holocaust zu deuten – und man muss sehr gut Italienisch können. Ob damals jemand in Deutschland Radio Vatikan gehört und diesen Satz so verstanden hat, steht dahin.

Schwer vorstellbar.

HUBERT WOLF: Deshalb muss man zunächst offene Fragen stellen, ohne die Antwort schon zu kennen: Hatte der Papst nun die Absicht zu reden oder nicht? Und warum hat Pius XII. den Staat Israel später eigentlich nicht anerkannt? Das passierte nämlich erst 1993 unter Johannes Paul II.

Könnte Judenfeindlichkeit der Grund gewesen sein?

HUBERT WOLF: Das weiß ich nicht, aber ich möchte es gern wissen. Warum stellte sich der Papst 1945 nicht hin und gab ein Schuldbekenntnis ab? Er hätte doch sagen können, wir bitten für unser Versagen um Vergebung.

Wann, glauben Sie, bekommen Sie die ersten Ergebnisse aus den Archiven? Und was passiert da eigentlich konkret ab dem 2. März in Rom?

HUBERT WOLF: Ganz einfach, an diesem Tag werden im Vatikan etwa zehn verschiedene Archive für die Zeit ab 1939 zugänglich. Im Apostolischen Vatikanischen Archiv, wie das Geheimarchiv seit kurzem heißt, gibt es beispielsweise sechzig Arbeitsplätze, von denen dreißig für Forscherinnen und Forscher reserviert worden sind, die an diesen Akten arbeiten möchten. Und dafür musste man sich zum 1. Oktober 2019 anmelden.

Und wie viele Leute von Ihnen sind dann da unten?

HUBERT WOLF: Sieben.

Das ist ja eine gute Quote für Ihr Seminar in Münster.

HUBERT WOLF: Nun, wir arbeiten ja auch schon seit vielen Jahren Tag für Tag in Rom. Es war sehr schön, vom Präfekten des Vatikanischen Archivs zu hören, dass wir nach dem erfolgreichen Abschluss der kritischen Online-Edition der Nuntiaturberichte von Eugenio Pacelli bestens vorbereitet seien, um an die neu zugänglichen Bestände zu gehen. Und dass das Archiv gerne mit uns ein neues Projekt machen würde.

Sie selber sind auch in Rom? Einer der Sieben?

HUBERT WOLF: Ja sicher bin ich dabei, zusammen mit sechs meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich auskennen. Na klar. Wir haben aufgrund des bisherigen Forschungstands einen präzisen Fragenkatalog erarbeitet und werden zunächst einmal eine ganze Reihe von Probebohrungen vornehmen, um uns einen Überblick über die Bestände zu verschaffen, die aufgrund der Masse der Dokumente nur grob verzeichnet sein können.

Das heißt, man muss dort wirklich alles in die Hand nehmen?

HUBERT WOLF: Ja. Vor allem aber brauchen Sie eine Ahnung von den damaligen Abläufen im Vatikan. Wer spielt welche Rolle? Wie waren die Entscheidungsfindungsprozesse organisiert? Und vor allem: Wie wurde das Material abgelegt? Und wo? Wenn das Provenienzprinzip gilt, ist es für uns zwar mehr Arbeit, aber einfacher. Weil die Akten dann so zusammengeblieben sind, wie sie entstanden sind. Wenn die Archivare aber Sachakten gebildet, also einzelne Schriftstücke aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und nach ihren Vorstellungen thematisch sortiert und irgendwo abgelegt haben, dann wird man … Ein Beispiel aus der Zeit unserer Pacelli-Edition: Der Nuntius schrieb 1918 einen Bericht über den Zionismus in Palästina nach Rom. Wir fanden in der einschlägigen Serie nur das Schreiben selbst, die Beilage, in der die eigentlich interessanten Informationen drinstehen, lag aber nicht mehr bei.

Wo ist sie dann?

HUBERT WOLF: Zunächst denkt man, sicher in einer Sachakte zum Thema Juden.

Aber dort sind die Akten nicht. Vielleicht bei den Akten zum Britischen Empire, weil Palästina damals ja britisches Mandatsgebiet war.

HUBERT WOLF: Sehr gut, Sie haben meine Publikationen gelesen. Aber dass bei der Aktenablage das Territorialprinzip in dieser Weise galt, darauf muss man erst einmal kommen. Denn die Beilage hätte eigentlich in der Serie „Germania“ liegen müssen, woher die Information kam.

Sind die Akten denn in erster Linie auf Latein oder auf Italienisch?

HUBERT WOLF: Italienisch, Französisch, Spanisch, Deutsch, was so kommt. Viel Italienisch. In Latein sind die offiziellen Dokumente. Wenn die Nuntiatur aus Madrid etwas schickt, dann findet sich ein italienischer Bericht mit spanischen Anlagen.

Nehmen wir mal an, Sie würden den Entwurf einer nie veröffentlichten Enzyklika gegen die Judenermordung finden. Wäre ja möglich. Haben Sie dann das Recht, das sofort zu veröffentlichen?

HUBERT WOLF: Sofort.

Sie müssen nicht erst warten?

HUBERT WOLF: Nein, wenn Sie den Zugang haben, haben Sie den Zugang. Das berechtigt auch zum Publizieren. Wie gut oder schlecht Sie das machen, ist natürlich Ihr Bier. Aber im Archiv gibt es selbstverständlich keine Zensur.

Wird das nicht ein richtiger Wettlauf werden? Sagen wir, neben Ihnen sind fünf andere Historiker, die die schnelle Schlagzeile in der „New York Times“ wollen. Da sind Sie gelassen?

HUBERT WOLF: Wirklich tiefenentspannt. Schlagzeilen sind etwas für Journalisten wie Sie. Ich bin ein Historiker, der sich über jeden Quellenfund freut und seine Ergebnisse mit anderen Forschern diskutieren will, und der, ehe er ein Urteil abgibt, auch andere Stimmen gehört haben will. Bei diesem Thema irgendwelche Sensationsgeschichten zu machen, das geht für mich nicht!

Aber Ihr Schwerpunkt wird schon der Holocaust sein?

HUBERT WOLF: Sicher. Aber mich interessiert auch das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel aus dem Jahr 1950. Über seine Entstehungsgeschichte und die Textgenese wissen wir bisher fast nichts. Mich interessiert die Verurteilung von Jean-Paul Sartre. Der stand mit seinen Werken auf dem „Index der verbotenen Bücher“. Und mich interessiert, wann die uralte moraltheologische Vorstellung von der Sukzessivbeseelung des Embryos im Mutterleib aufgegeben wurde und wie man auch kirchlich das menschliche Leben mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle beginnen ließ.

Keine unwichtige Frage.

HUBERT WOLF: In der Tat. Wenn man etwa an die Diskussion um Stammzellen denkt.

Könnte dann auch die Argumentation der Enzyklika „Humanae Vitae“ zur Empfängnisverhütung von 1968 auf einmal zusammenbrechen?

HUBERT WOLF: Wer weiß? Aber, vergessen Sie nicht, die Quellen werden nur bis 1958 zugänglich. Lassen Sie uns doch im Pontifikat Pius’ XII. bleiben. Hier gibt es brisante Fragen genug. Nehmen Sie zum Beispiel das Verhältnis der katholischen Kirche zum Islam. Das Thema birgt Sprengstoff.

Was könnte da die Bombe sein?

HUBERT WOLF: 1938 richtete der Heilige Stuhl eine eigene Kommission ein, die mehrere Umfragen in allen Ländern, in denen es Muslime gab, durchführte. In rund siebzig Länder gingen Fragebögen mit jeweils 15 Fragen.

Und was wollen die so wissen? Was ist das Brisante daran?

HUBERT WOLF: Die Grundfragen lauteten: Brauchen wir den Islam als Partner in einer Welt, in der Materialismus, Liberalismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus immer stärker werden? Braucht der Katholizismus nicht diese monotheistische Religion als Partner? Oder muss man jede Zusammenarbeit mit dem Islam von vorneherein ablehnen?

Was war das Ergebnis dieser Umfrage?

HUBERT WOLF: Wie gesagt, die Umfrage begann im Jahr 1938. Wir kennen die Fragebögen, aber nicht die Antworten. Ich hoffe, wir finden dazu viel Material. Stellen Sie sich mal vor: Der Blick aus Rom auf die islamische Welt. Die Kommission selbst tagte etwa vier, fünf Jahre, dann knallte es offenbar, weil sie sich nicht einig werden konnten. Mitten im Krieg zerbrach sie. Und noch etwas ist interessant: Ich weiß, dass der Vatikan über die Gründung der Moslembrüder 1928 aus erster Hand informiert war.

Der Vatikan!?

HUBERT WOLF: Ja. In Rom ging fast jede Woche ein Bericht darüber ein. Mit Sätzen wie: „Jetzt fangen diese jungen Männer an, sich hinter schwarzen Bärten zu verstecken, wie angeblich der Prophet.“

Und auf wie viele Jahre haben Sie diese Arbeit angelegt?

HUBERT WOLF: Ich schätze, es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Aber man muss sich dabei auf einige ganz wenige Fragestellungen konzentrieren und alles andere außen vorlassen, was einen sonst an Spannendem in den Quellen begegnet. Und vor allem: Man braucht eine Finanzierung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Glauben Sie, dass in Sachen Ökumene bei Ihrer Forschung in Rom noch irgendetwas Wichtiges herauskommt?

HUBERT WOLF: Eher weniger. Aber vielleicht ist die Inquisition, die Vorläuferin der Glaubenskongregation, doch für Überraschungen gut. Zum Beispiel in Sachen Mischehe. Oder nehmen Sie etwa Augustin Kardinal Bea: Er war ein wichtiger Mann in der Zeit, deren Akten jetzt zugänglich werden, er war der Beichtvater von Pius XII., und er war später ein großer Brückenbauer zu den evangelischen Konfessionen. Ohne Bea würde es die Ökumene, wie wir sie kennen, nicht geben, auch nicht „Nostra aetate“ und die Annäherung an das Judentum. Vielleicht gab es damals noch mehr Brücken, als wir bisher denken? Ich weiß es noch nicht. Aber die Archive werden es uns sagen!

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Reinhard Mawick am 21. Januar in Münster.

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