Auftanz zur Trauer

Hamburger Kunsthalle: Wie Trauern gesellschaftlich tabuisiert und zelebriert wird
Khaled Barakeh (1976): The Untitled Images, 2014
Foto: Khaled Barakeh/VG-Bildkunst
Khaled Barakeh (1976): The Untiteld Images, 2014.

Kurz vor der Passionszeit hat in der Hamburger Kunsthalle eine vielfältige Ausstellung über „Trauer“ eröffnet. Der Theologe und Buchautor Robert M. Zoske hat sie besucht. Er staunt über die Bandbreite eines großen, schmerzhaften Gefühls.

Der niederländische Künstler Bas Jan Ader startete 1975 mit einer knapp vier Meter kurzen Einhandjolle zu einer Atlantiküberquerung. Er nannte seine Kunstaktion „In search of the miraculous (songs für north Atlantic)“. Zehn Monate später trieb das Boot leer vor der Küste Irlands. Der Dreiunddreißigjährige gilt seitdem als verschollen. Vier Jahre zuvor hatte er einen Kurzfilm mit dem Titel „I’m too sad to tell you“ gedreht, der wie ein vorweg genommener Kommentar zur Unglücksfahrt wirkt. Ader weint darin dreieinhalb Minuten lang. Zunächst laufen seine Tränen ruhig, dann verzieht sich sein Gesicht schmerzhaft, bis es seinen ganzen Körper schüttelt. Den Betrachter ergreifen Mitgefühl und Unbehagen.

Wie Trauern gesellschaftlich tabuisiert und zelebriert, versteckt und inszeniert wird, zeigt die Hamburger Kunsthalle bis zum 14. Juni in der Ausstellung „Trauern – Von Verlust und Veränderung“. Achtundzwanzig internationale Gegenwartskünstler präsentiert die Kuratorin Brigitte Kölle auf zwei Etagen über der Alster.

Vierundzwanzig Themenbereiche wurden von ihnen gestaltet: zu Trauern als Konvention, Normierung, Ritual, bei Krankheit, Verletzung, Verlust, in Wehklage, Melancholie, Abschied und als verändernde Kraft eines politischen Protestes. Zu erleben sind Gemälde, Zeichnungen, Drucke, Videos, Klanginstallationen und Skulpturen. Die in der englischen Sprache übliche Differenzierung zwischen grieve für private und mourning für öffentliche Trauer, prägt die Ausstellung. „Trauern“ öffnet einen künstlerischen Zugang zu den existenziellen Erfahrungen von Tod und Endlichkeit, aber auch zu Wandel und Neubeginn.

Die Schau beginnt mit einem singulär auf weißem Grund aufgehängten Bild. Am 6. Dezember 1963 erschien das New Yorker Life Magazine auf der Titelseite mit einem Farbfoto von der Beerdigung des zwei Wochen zuvor erschossenen Präsidenten John F. Kennedy. Zu sehen sind die ganz in schwarz gekleidete Jaqueline Kennedy und ihre kleinen Kinder in kurzen hellblauen Mäntelchen. Soldaten in Paradeuniformen mit weißen Handschuhen und Bajonettgewehren umstellen sie. Die Bildunterschrift lautet: „Mrs. Kennedy, Caroline and John jr. wait to join procession to Capitol.“

Andy Warhol machte 1964 aus dieser Aufnahme mit „Jackie“ eine Ikone öffentlichen Trauerns. In seinem schwarz-weißen Siebdruck konzentrierte er sich ganz auf das Gesicht. Bis auf den unmittelbar hinter ihr stehenden Soldaten entfernte er alles andere. Die Witwe schaut mit leerem, von Tränen verhangenem Blick seitwärts auf den Boden. Sie wirkt erschüttert, aber nicht gebrochen. Stellvertretend für die amerikanische Nation symbolisiert sie in ihrem Leid Disziplin und Stärke.

Zug in Zeitlupe

In Hamburg begegnet man auch dem Tod von Robert „Bobby“ Kennedy. Fünf Jahre nach John F. Kennedy wurde sein jüngerer Bruder, der als Präsidentschaftskandidat durchs Land reiste, erschossen. Nach der Ermordung Martin Luther Kings im April desselben Jahres schockierte sein Tod Amerika 1968 mindestens so wie der des Bruders. Als der Leichnam mit dem Zug von New York City zur Bestattung nach Washington, D.C. überführt wurde, säumten schätzungsweise eine Million Menschen die Gleise. Die Besucher der Kunsthalle können diese Trauerfahrt aus drei verschiedenen Perspektiven nachvollziehen: fotografiert und gefilmt aus dem fahrenden Zug und in Privatbildern aus der Perspektive von Wartenden am Gleis.

Die leinwandgroße Videoprojektion (2009) des französischen Filmemachers Philippe Parreno aus dem in Zeitlupe dahinrollenden Zug ist alptraumartig-suggestiv. Es scheint, als sei der Ausstellungsbesucher der Tote, um den die Menschen trauern und ihn auf seiner letzten Fahrt grüßen.

Aus der Bewegung der Zugfahrt wechselt man bei den „Beweinungsbilder“ der österreichischen Malerin Maria Lassnig (1919–2014) in die Erstarrung. In sich zurückgezogen betrauert sie den Tod ihrer Mutter. Das Ölgemälde „Balken im Auge/Trauernde Hände“ aus dem Jahr 1964 zeigt das ambivalente Verhältnis der Frauen. Mittellos hatte sie die unehelich Geborene bei der Großmutter zurück gelassen, die sie vernachlässigte. Als die Mutter heiratete, nahm sie die Sechsjährige zu sich.

Im Gemälde hockt vorne im Schneidersitz und mit leeren Blick die Künstlerin, ihre blassen Hände liegen schlaff übereinander. Durch ihr linkes Auge stößt ein Lichtbalken. Schräg hinter ihr liegt aufgebahrt ihre tote Mutter, die Augen sind mit einem Tuch bedeckt, der Mund ist halb geöffnet, eine weiße Hand liegt leblos daneben, auf dem Schoß blühen rosa Rosen. Das Bild ist in lilaroten Farbschattierungen gemalt, die Lichtflächen in Gelbtönen. Der grelle Lichtbalken und der erste Teil des Titels symbolisieren Schmerz und Schuldgefühle.

Die in einer katholischen Klosterschule Erzogene kannte das Bildwort Jesu, man solle zuerst den Balken aus dem eigenen Auge ziehen, bevor man sich berufen fühle, den Splitter aus dem Auge eines Anderen zu entfernen; man soll also selbstkritisch sein, bevor man über andere richtet (Matthäus 7,1–5). Die blutarmen Trauerhände der Tochter und die bleiche Leichenhand der Mutter zeigen die enge Verbindung beider. Der Schmerz des Verlusts, aber auch der Zurücksetzung und Kränkung sind körperlich sichtbar. Die „Beweinungsbilder“ zeigen eine zutiefst private Trauer, die aber durch die Visualisierung der Künstlerin öffentlich gemacht wurde.

Künstliche Schönheit

Aus der Beklemmung der „Beweinungen“ herausholen die grellbunten Monumentalbilder Anne Colliers (geboren 1970), obwohl sie Tränen zeigen. In „Woman Crying Comic“ (2019) sieht man nur das rechte Auge einer geschminkten, jungen Frau mit grüner Iris, eine Braue und wenige Zentimeter der blonden Haare. Sie blickt zur Seite und eine Träne rinnt aus dem Augenwinkel. Es ist eine makellose, in künstlicher Schönheit erstarrte medial-kompatible Trauer, die Collier durch die überdimensionale Vergrößerung als Scheinwelt entlarvt.

Im nächsten Raum geht man dann durch Reste und Augenblicke vieler Bestattungen. Übrig geblieben sind in Greta Rauers Werkgruppe „Fragmente“ (2019) nur die Bruchstücke von Grabsteinen und Steinplatten aufgelöster Gruften und kleinformatige mit Pastellstift und Acrylfarbe festgehaltene Ausschnitte der Feiern. Trauer ist – wie das Leben – fragmentarisch und auch die Erinnerung daran zerbröselt gleich den zerkleinerten Gedenksteinen.

Ein lichtes und hoffnungsvolles Gegenbild zu diesem ernüchternden „Memento mori“ ist Adrian Pacis ermutigendes Video „The Guardians“ (2002): In Nordalbanien reinigen Kinder einen früher geschlossenen Friedhof, befreien ihn von Wildwuchs und Unrat, so dass nach den Zeiten des Kommunismus die christlichen Symbole wieder sichtbar sind und Gottesdienste gefeiert werden.

Dort, wo die Kunstwerke aus der Trauer heraus einen sozialen oder politischen Auftrag ableiten, implizieren sie über Schmerz und Verlust, Tod und Angst hinaus eine gesellschaftliche Verantwortung. So in Felix Gonzales-Torres Auseinandersetzung mit AIDS (1988–91), den Lynchmorden bei Dread Scott (2015), Helen Commocks impulsiven Siebdrucken (2017) oder Christian Boltanskis Bearbeitung eines Klassenfotos jüdischer Schüler aus den 1930er-Jahren (1991).

Hölzerne Miniaturen

Im Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart wurde Anfang der 1960er-Jahre ein Verlust an Trauerkultur im Christentum beklagt. Die Bräuche „schrumpften“ dahin, es herrsche „Gleichgültigkeit“. Der Tod sei nicht mehr „Feierabend“ oder „Freund“. Früher habe man bei hoch betagt Verstorbenen sogar „Bestattungen in Hochzeitsgewändern“ vorgenommen, um die Vorfreude auf das Leben bei Gott auszudrücken. Nach Martin Luther sollte bei einer Bestattung das Leben des Verstorbenen „ehrlich“ geschildert werden und man solle den „fröhlichen Artikel unseres Glaubens, nämlich von der Auferstehung der Toten“, in den Mittelpunkt stellen.

Ehrlich ist die Hamburger Ausstellung, weil sie das Thema nicht verharmlosend ästhetisiert. Fröhlich ist sie nur in wenigen Momenten. Neben den „Guardians“ etwa in den bunten, morphologischen Särgen von Ataa Oko und Kudjoe Affutu aus Ghana, entstanden von 2004 und 2018, die den Charakter oder die Vorlieben des Verstorbenen figurieren. Tiere, Autos, Kühlschränke, Teekannen oder Fabelwesen können Vorlage für den Totenschrein sein; der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Arbeiten sind in Zeichnungen und hölzernen Miniaturen zu sehen.

Die Künstler in Hamburg trauen sich zu trauern. Sie zeigen, wie vielfältig, kreativ und kontrovers das Thema gestaltet werden kann. Dazu passte auch die Eröffnungsveranstaltung mit einer nächtlichen „DEPRI DISKO“. Gespielt wurden die „traurigsten, schönsten, melancholischsten Songs der Welt.“ Es war ein Auftanz zur Trauer.

Information

Die Ausstellung ist bis zum 14. Juni 2020 zu sehen. Weitere Infos unter www.hamburger-kunsthalle.de

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