Anziehend anders

Simon Kuntze hat die evangelische Rede von der Mündlichkeit der Schrift untersucht
Simon Kuntze
Foto: Rolf Zöllner

Der Potsdamer Pfarrer Simon Kuntze (45) hat „Medialität und Autorität“ der Heiligen Schrift analysiert und vor einem Jahr seine Dissertation abgeschlossen. In diesen Tagen erscheint sie unter dem Titel „Die Mündlichkeit der Schrift“.

In der Versöhnungsarbeit, wie zum Beispiel bei Aktion Sühnezeichen, oder auch im Journalismus einen Beruf zu finden, das konnte ich mir mit Anfang zwanzig gut vorstellen. Das Magisterstudium der Evangelischen Theologie und Arabistik stillte meinen Wunsch nach Literatur und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen. Doch während des Studiums an dem kleinen theologischen Institut der Freien Universität Berlin konzentrierte ich mich immer stärker auf die evangelische Theologie. Heute bin ich nun Pfarrer in der evangelischen Friedenskirchengemeinde Potsdam-Sanssouci.

Schon in der Zeit meines Studiums hat die Frage der Geltung der Schrift, also der Bibel, für mich eine große Rolle gespielt. Ich habe zu dem Alttestamentler Wilhelm Vischer gearbeitet und zu Luthers und Erasmus’ Streit über die Freiheit des Willens, bei der ja die Frage, was die Schrift in diesem Streit austrägt, wichtig ist.

Ich bin dabei öfter über die Tatsache gestolpert, dass Martin Luther, aber auch evangelische Theologen des 20. Jahrhunderts, die Mündlichkeit so stark reflektieren, wenn sie von der Geltung der Bibel schreiben. Auch im Judentum gibt es die Lehre von der „mündlichen Tora“, die die schriftliche Tora in der jeweiligen Gegenwart auslegt, und nach rabbinischem Dogma schon am Sinai offenbart ist. Im Islam wiederum ist die mündliche Rezitation des Koran wichtig für den Glaubensalltag. Man hört viel mehr den Koran als dass man ihn liest.

All die Jahre seit meinem Studium hatte ich die Fragestellung nach der Bedeutung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Bibel im Gepäck, habe dazu gelesen und gearbeitet. Auf Anregung des Bochumer Theologieprofessors Michael Weinrich entschied ich mich für die Promotion. Kirchengemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche haben mein Ansinnen, die Promotion während meiner pfarramtlichen Tätigkeit fertigzustellen, unterstützt. Zum Ende konnte ich sogar eine Studienzeit von drei Monaten nehmen, um den Hauptteil der Arbeit zu schreiben.

Was also vor 18 Jahren begann, liegt heute unter dem Titel „Die Mündlichkeit der Schrift“ vor. Was hat es nun damit auf sich? Damals las ich in einem Artikel von Walter Mostert (1936–1995), die Rede von der Mündlichkeit des Evangeliums bei Luther sei wichtig, um die Bibel als fremdes Wort zu bewahren. Ein mündliches Wort ist zwar ein sehr nahes Wort. Wenn wir miteinander reden, sind wir ja zumindest gleichzeitig und oft auch am gleichen Ort miteinander im Gespräch. Und trotzdem ist das mündliche Wort auch fremd, weil man doch der bleibt, der es sagt – und der Andere nicht einfach an mir vorbei auslegen kann, was ich meine. In der Texttheorie spricht man vom „Tod des Autors“, wenn er geschrieben und damit geliefert hat; und somit seinen Text in die Hände des Lesers gibt.

Das ist ein guter Hinweis für das Verstehen der Geltung der Schrift in der evangelischen Kirche. Es wird deutlich: Der, der durch diese Schrift spricht, im übertragenen Sinn der Autor, ist lebendig und bleibt verantwortlich für die Auslegung. Das fand ich einen schönen Gedanken, dem ich nachgegangen bin.

In meiner Arbeit will ich die Mündlichkeit der Schrift mit ihrer Bedeutung zusammenbringen, mit dem reformatorischen Grundsatz sola scriptura. Denn schließlich könnte man ja vom sola scriptura ausgehend meinen, es reiche, wenn man die Bibel im Gottesdienst vorliest und sie von jedem Einzelnen meditiert wird. Wenn ich eine Antwort darauf zu gäben hätte, warum die Predigt wichtig ist, hätte ich früher wohl gesagt: um sie ins Heute zu übersetzen. Der Prediger versucht zum Leuchten zu bringen, dass Gott und Gegenwart im Gespräch miteinander sind. Mittlerweile ist mir auch wichtig geworden, dass durch die Mündlichkeit des Evangeliums die Bibel uns in unserem Leben so etwas wie ein Widerstand ist: uns rausholt aus den ja manchmal etwas geistlosen Möglichkeiten, die wir als die allein tatsächlichen im Blick haben. Am Ende geht es darum zu verdeutlichen, dass der, durch dessen Geist die Bibel zu uns spricht, noch gegenwärtig ist. Es gibt jemanden, der durch die Bibel weiter mit uns spricht und uns begleitet.

Zunächst habe ich das Thema religions- und konfessionsvergleichend angelegt. In der katholischen Kirche spielt die Mündlichkeit eine große Rolle als die Tradition, die neben der Schrift gegeben ist und durch die Kirche repräsentiert wird. Es handelt sich dabei um ein ganz anderes Gemeinschaftsbild als in der evangelischen Kirche, in der die Mündlichkeit in der Schrift verortet ist, sich deshalb selbst auslegt. Ich habe den Stand der Forschung um die Autorität der Schrift im 20. Jahrhundert dargestellt und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Mündlichkeit in den 1970er- bis 1990er-Jahren eine große Rolle gespielt hat.

Mittlerweile dominiert eine Neuorientierung der Schriftlichkeit, wie zum Beispiel beim Wiener Theologen Ulrich Körtner. Ich denke, für uns Protestanten ist eben dieses Miteinanander von Schriftwort und Mündlichkeit wesentlich. Martin Luther selbst warnte davor, die Schrift aufzugeben, denn sonst wären wir nur noch bei uns. Wir dürfen also nicht der Gefahr erliegen, in ein Selbstgespräch zu geraten und nur zu wiederholen, was andere auch sagen. Die Aufgabe ist, Neues zu sagen und eine Fremdheit zu behalten. Das wünsche ich mir auch von der Kirche, wir sollten anziehend anders sein.

Durch den etwas widersprüchlichen Titel der Dissertation – und das ist für mich die Quintessenz – entsteht eine Bewegung. Dieser Gott, der mich anspricht, ist kein Faktum wie ein Tisch oder ein Stuhl, dieses Faktum ist eine Person, die mir entgegenkommt und mich in Bewegung setzt.

Ich habe die Arbeit geschrieben, ohne zu wissen, was für meine Arbeit als Pfarrer dabei herauskommt und habe viel gewonnen: gute Rückmeldungen aus der Gemeinde und einen klareren Blick für das, was ich mache. Nämlich zusammen mit der Gemeinde zu fragen, was will Gott eigentlich mit uns? Der Praktische Theologe Ernst Lange (1927–1974) sagte, er rede in der Predigt mit dem Hörer über sein Leben. Für mich ist wichtiger geworden, darüber zu sprechen, was in der Gemeinde los ist, aber auch ganz stark in die biblischen Texte zu gehen und beides zusammenzuhalten.

Eigentlich gehört kontinuierliche theologische Arbeit immer zum Pfarrdienst dazu, denn sie stützt einen, geht aber oftmals im Alltag verloren. Mit dieser Erfahrung im Rücken habe ich mir schon wieder ein neues Thema gesucht.

Aufgezeichnet von Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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