Whistleblower aus der Vergangenheit

Der Film „Intrige“ von Roman Polanski beschreibt die Dreyfus-Affäre
Szne aus "Intrige" von Roman Polanski: Die Degradierung des Offiziers Dreyfuss.
Foto: Weltkino
Szene aus "Intrige": Die öffentliche Degradierung des französischen Offiziers Alfred Dreyfus.

In dem Spielfilm „Intrige“ schildert Meister-Regisseur Roman Polanski brillant, spannend und mit vielen Bezügen zu Heute die antijüdische Verschwörung, die unter dem Namen „Dreyfus-Affäre“ die blühende französische Republik  Ende des 19. Jahrhunderts über Jahre tief spaltete.

Schon die erste Szene ist packend. Auf einem riesigen Kasernenhof, im Hintergrund ist der Eiffelturm zu sehen, sieht man, wie eine Handvoll Soldaten im Gleichschritt langsam, aber zackig an langen Formationen von Kameraden in dunklen Uniformen in die Mitte des Hofes marschieren. Das  Wetter ist trübe, trostlos wirkt die Szene und ausweglos, denn nichts ist zu hören als das gleichmäßige Klacken der Stiefel auf dem Platz. Für heutige Sehgewohnheiten dauert das lange, aber es hängt etwas Bedrohliches in der Luft, das die Spannung des Geschehens ausmacht. Vor einem Offizier mit prächtigem Helm bleibt die marschierende Gruppe stehen. Es folgt eine entwürdigende Szene, die in die französische, ja europäische Geschichte des späten 19. Jahrhunderts eingegangen ist: die öffentliche Degradierung des französischen Offiziers Alfred Dreyfus.

Dem noch jungen Mann, der um Fassung ringt, reißt der Offizier vor ihm alle Knöpfe seiner Uniform einzeln ab, jeden Schmuck vom Helm, die Schulterstücke, ja sogar die roten Streifen an den Seiten seiner Hose. Der Höhepunkt der beschämenden Zeremonie ist das Zerbrechen seines Degens – alles landet im Dreck des Kasernenhofs. Dreyfus ruft, er sei unschuldig, aber es nutzt alles nichts: Es ist richterlich überführt und verurteilt der Spionage für den Erzfeind Deutschland. Angeblich.

Dieses „Angeblich“ ist die treibende Kraft des neuen Films „Intrige“ der Regie-Legende Roman Polanski, der in seinem Jahrzehnte langen Schaffen unter anderem mit „Rosemaries Baby“, „Chinatown“ und „Der Pianist“ so viele Meisterwerke abgeliefert hat, dass es locker für mehrere Leben reichen würde. Wenn wir an dieser Stelle einmal die alten Vergewaltigungsvorwürfe gegen Polanski beiseite legen dürfen: „Intrige“, der am Donnerstag in die deutschen Kinos kommt, dürfte zu seinen besten Filmen gehören, eine ungeheure Leistung für einen Filmemacher, der dieses Jahr 87 Jahre alt wird – und ein Jude ist, der als Kind das Warschauer Ghetto überlebte und seine Mutter in Auschwitz verloren hat.

Dieser biographische Hintergrund Polanskis ist für diesen Film von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn „Intrige“ befasst sich fast minutiös und historisch korrekt mit der „Dreyfus-Affäre“, die in Frankreich einem antisemitischen Urknall glich und die französische Gesellschaft über Jahre tief gespalten hat. Der moderne Rassen-Antisemitismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa den alten christlichen Antijudaismus zum großen Teil ablöste, hatte in der „Dreyfus-Affäre“ sein spektakulärstes Fanal, das europaweit beachtet wurde. Am bekanntesten wurde während der ganzen Affäre der mutige Artikel mit der Schlagzeile „J‘accuse …!“ („Ich klage an!“), mit der der große Schriftsteller Émile Zola Partei für Dreyfus ergriff.

Denn Dreyfus, der neben seiner Degradierung als Strafe auch noch eine Jahre lange Kerkerhaft auf einer französischen Karibik-Insel erleiden musste und dies nur knapp überlebte, war unschuldig. Schlimmer noch: Er war Opfer einer judenfeindlichen Intrige, deren Verursacher in den höchsten Kreisen der französischen Armee zu finden waren. So hohe Offiziere waren daran beteiligt, dass über Jahre alles daran gesetzt wurde, diese Verschwörung gegen das nützliche jüdische Opfer Dreyfus zu vertuschen – selbst der wirkliche Spion wurde eine Zeitlang offiziell gedeckt, um ja nicht eingestehen zu müssen, dass die Armee der Republik knietief in einem Skandal auf oberster Ebene steckte. Es ging um den Ruf der Grande Nation, die immer noch schwer an der Niederlage gegen den deutschen Erzfeind wenige Jahrzehnte zuvor trug.

Roman Polanski glückt es in „Intrige“, den Kern dieses ziemlich komplizierten Skandals so stringent und spannend zu schildern, dass die Ungeheuerlichkeit des Geschehens, ja dessen Aktualität mühelos deutlich wird. Denn er hat neben guten Schauspielern, darunter den Oskar-Preisträger Jean Dujardin, vor allem ein ausgezeichnetes Drehbuch, an dem der britische Autor Robert Harris mitgearbeitet hat. „Intrige“ beruht auf Harris‘ gleichnamigen Bestseller zur Dreyfus-Affäre – und wie es hier gelingt, die atemberaubenden historischen Fakten exakt zu beschreiben, ohne dass der Film an Spannung oder Fahrt verliert, ist beispielhaft. Der Große Preis der Jury, den der Spielfilm im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival in Venedig gewinnen konnte, ist völlig gerechtfertigt.

Das liegt vor allem daran, dass der Film von Polanski wie der Bestseller von Harris eine sehr geschickte Perspektive zur Darstellung des Skandals einnimmt, nämlich die hartnäckigen Bemühungen des Nachrichtenoffiziers Marie-Georges Picquart, eines wahren Helden der französischen Republik. Major Picquart war es, der den Justizskandal beziehungsweise die Verschwörung gegen Dreyfus aufdeckte – und das anfangs völlig unerwartet, ja fast gegen seinen Willen. Denn Picquart ging, nachdem er nach der Verurteilung von Dreyfus eine führende Stellung im französischen Geheimdienst erhielt, wie praktisch alle anderen Offiziere davon aus, dass der jüdische Hauptmann natürlich zu Recht als Spion verurteilt worden sei. Erst nach und nach realisierte er, dass Dreyfus nicht der gesuchte Spion sein könne, sondern ein anderer französischer Offizier: Marie Charles Walsin-Esterházy, der allerdings am Ende nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Eine der sehr klugen Facetten von „Intrige“ besteht darin, dass der Film den Antisemitismus, dem auch Picquart anfangs anhängt, nicht verschweigt, sondern fast wie nebenbei den schmerzlichen Lernprozess schildert, den auch der Aufklärer-Held des Films in dieser Hinsicht durchmachen muss. Da der Enthüller des Skandals seine Recherche gegen die eigenen Kameraden im Nachrichtendienst führen muss, ja für die Wahrheit der Unschuld von Dreyfus selbst Degradierung, öffentliche Schmähung und Haft in Kauf nimmt, wird der Film -  das ist vielleicht das Brillanteste an ihm – zu einem hochaktuellen Stoff. Denn Picquart war ein Whistleblower avant la lettre. Die Aktualität von „Intrige“ wird noch dadurch verstärkt, dass er ein großes Plädoyer gegen Antisemitismus ist, der derzeit überall in Europa wieder erschreckend zunimmt. Das alles in der Form eines historischen Politthrillers, in dem sogar ein Duell mit Säbeln vorkommt, das es so wirklich gegeben hat.

So ist „Intrige“ ohne Einschränkungen zu empfehlen, ja man wünschte sich, dass der Film des alten Meisters Polanski möglichst in vielen Schulen gezeigt würde – als ein Beispiel dafür, wohin Judenfeindlichkeit und Nationalismus führen können. Und als ein Beispiel dafür, dass auch eine Republik nur vom persönlichen Mut echter demokratischer Helden mit und ohne Uniform lebt.

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