Noch nicht so weit

Ökumenische Erkundungen auf dem Riedberg in Frankfurt/Main
Martin Luther im evangelischen Kirchenzentrum Riedberg.
Foto: Evangelische Riedberggemeinde
Martin Luther im evangelischen Kirchenzentrum Riedberg.

Ein Gemeindezentrum für Protestanten und Katholiken, ein regelmäßig genutzter  Kirchraum für evangelische Gottesdienste und katholische Messen, für Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern egal welcher Konfession, und all das „vor Ort“ in der eigenen achbarschaft! Sollte nicht so die Gemeinde der Zukunft aussehen?  Leider ist es (noch) anders. Der Journalist  Burkhard Weitz hat die Ökumene im neugeschaffenen  Stadtteil Riedberg in Frankfurt/Main erkundet.

Anfang Mai 2019 hatte das Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Universität Freiburg einen dramatischen Mitgliederrückgang in den Kirchen prognostiziert. Bis zum Jahr 2060 soll die Zahl der Protestanten und Katholiken in Deutschland auf die Hälfte zusammengeschrumpft sein. Nicht erst seit dieser „Freiburger Studie“ stellt sich die Frage verschärft: Sollen Protestanten und Katholiken weiter ihre Kirchen verkaufen, Gemeinden zusammenlegen und sich aus der Fläche zurückziehen? Oder sollen sie ihre Kräfte gemeinsam bündeln – allen konfessionellen Differenzen zum Trotz? Außenstehende reagieren auf die Doppelstrukturen bei den Kirchen ohnehin zunehmend mit Unverständnis. Sie mit angeblich unüberbrückbaren theologisch-konfessionellen Gegensätzen zu rechtfertigen gilt vielen Nicht-Theologen als aufgeblasene dogmatische Spitzfindigkeit.

Denkbar wäre es ja: Katholiken und Protestanten heiraten in derselben Kirche am Ort, mal traut eine Pfarrerin, mal ein Priester. Ihre konfessionellen Eigenheiten könnten sie behalten. Katholiken können weiterhin Weisungen aus Rom folgen und dem kanonischen Recht entsprechend handeln. Es bliebe allerdings den Gemeindemitgliedern vor Ort überlassen, ob sie als Protestanten auch die katholische Messe aufsuchen und ob sie sich als Katholiken auch im evangelischen Gottesdienst wohlfühlen. Mal würde eine Pastoralreferentin, mal ein Prädikant die Toten in der gemeinsam betriebenen Friedhofskapelle aussegnen – und zwar genau dort, wo deren Verwandten später auch das Grab pflegen werden. Dann würde in dem einen Dorf oder Stadtteil die evangelische Pfarrerin wohnen und im nächsten der katholische Geistliche. Seelsorgerin und Seelsorger der einen wie der anderen Kirche blieben unter den Leuten wohnen, wären im Supermarkt oder in der Änderungsschneiderei ansprechbar. Ob nun die Pfarrerin oder der Priester zur diamantenen Hochzeit den Segen spendet, ob nun ein evangelischer Diakon oder eine katholische Gemeindereferentin das Team der örtlichen Notfallseelsorge begleitet – für die meisten Menschen spielt das eh keine Rolle mehr. Und für gemischt-konfessionelle Ehepaare würde ein solches Zusammengehen ohnehin manches erleichtern.

Ein flächendeckendes Netz von Gemeinden, finanziert und personell besetzt von katholischer und evangelischer Kirche, das wäre zudem eine Alternative zu der traurigen Realität, wie man sie jetzt schon vielerorts in Brandenburg und Mecklenburg kennt: ausgedünnte Großgemeinden mit zehn bis 15 Kirchspielen, alle zwei Monate oder alle halbe Jahr ein Gottesdienst in der Dorfkapelle: die Volkskirche – ein Schatten ihrer selbst.

Auf dem Riedberg in Frankfurt/Main hatte man auch deshalb einen Moment lang davon geträumt: von einem ökumenischen Gemeindezentrum. Und für kurze Zeit schien es zum Greifen nahe. Damals, 2003, war der Riedberg, eine Anhöhe in Frankfurter Norden, noch mit Pferdekoppeln und Baugruben bedeckt. In den wenigen schon neu errichteten Straßenzügen beherbergte er gerade mal 1 000 Einwohner. Heute, 17 Jahre später, haben hier über 14 000 Bewohner ein Zuhause gefunden. Es gibt eine Universität, Schulen und ein großes Einkaufszentrum mit Supermärkten, Drogerien, Bäckereien, einem Buch- und Büroladen, Kneipen und Restaurants. Zwei U-Bahnhaltestellen verbinden den Riedberg mit der Main-Metropole. Grünstreifen und Parks ziehen Jogger und Hundebesitzer an. Es gibt Sportvereine und Fitnessstudios. 2003 fanden sich die ersten Katholiken und Protestanten auf dem Riedberg zusammen und diskutierten die Vision: „Lasst uns ein ökumenisches Zentrum bauen. Ilse Friederike Werner, 83, frühere Steuerberaterin und eine der ersten Anwohnerinnen, war damals bei den ersten Vorbesprechungen dabei. Sie erinnert sich an Diskussionen und Workshops. Und an gemeinsame Feste von Anfang an. Sogar der damalige Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, war offen für die Idee.

Die Protestanten stellten im Juli 2004 ein Kirchenzelt beim Bonifatiusbrunnen auf, einem lauschigen Plätzchen in einem der Stadtteilparks – da hatte die künftige evangelische Gemeinde schon 350 Mitglieder. Zehn Tage später weihte Bischof Franz Kamphaus zusammen mit dem damaligen evangelischen Pfarrer den Bonifatiusbrunnen ein. Der Legende nach entsprang dort eine Quelle, wo die Gebeine des heiligen Bonifatius bei ihrer Überführung nach Fulda eine Nacht lang geruht hatten.

Gerade für die vielen gemischt-konfessionellen Paare auf dem Riedberg wäre ein gemeinsames Gotteshaus das richtige Signal gewesen, sagt Helena Malsy, 48: Das Verständnis für konfessionelle Unterschiede schwinde ohnehin. Auch sie gehörte zu denen auf dem Riedberg, die sich früh für eine Gemeindegründung engagierten. Heute studiert sie Theologie und hält als Prädikantin Gottesdienste im evangelischen Gemeindezentrum. Theologische Bedenken von katholischer Seite standen einem gemeinsamen Zentrum zunächst jedenfalls nicht im Weg. Erst 2007 wurde der für solche Experimente aufgeschlossene Kamphaus 75 Jahre alt, und Papst Benedikt XVI übergab sein Amt dem prunkverliebten, konservativen Anti-ökumeniker Franz-Peter Tebartz-van Elst.

Als Kirsten Emmerich 2007 als Pfarrerin auf dem Riedberg zu arbeiten begann, gab es noch kein evangelisches Gemeindezentrum. Die Grundschule stellte ihre Aula an den Sonntagen für Gottesdienste zur Verfügung. Dennoch war die Vision eines ökumenischen Gemeindezentrums da schon längst Vergangenheit. Emmerich erfuhr davon nur noch gerüchtehalber.

Aber auch sie hält die Idee grundsätzlich für richtig. Emmerich kennt das Prinzip aus der Gemeinde Langen-Bergheim (zwischen Hanau und Altenstadt), wo sie aufgewachsen ist. Dort, so erzählt sie, würden die Protestanten ihre Kirche hin und wieder an die Katholiken „ausleihen“. Die örtlichen Katholiken wollten vor Ort heiraten und beerdigt werden. Sie wollten nicht im sechs Kilometer entfernten Altenstadt die Trauerfeier abhalten und dann den Leichenwagen in Richtung Friedhof Hammersbach davonrasen sehen. „Das will kein Mensch“, sagt Emmerich, „sondern man will von der Kirche zur Bestattung direkt auf den Friedhof gehen.“ Gemeinsam genutzte Kirchen, das sei zukunftsweisend, vielleicht sogar noch mehr auf dem Land als in der Stadt.

Fakten geschaffen

2011 wurde dann doch ein evangelisches Gemeindezentrum auf dem Riedberg errichtet, 2016 folgte das Gotteshaus für die Katholiken gleich nebenan. Der erste Grund fürs Scheitern eines ökumenischen Zentrums: Die beiden übergeordneten Verwaltungen, das katholische Bistum und der evangelische Stadtkirchenverband, arbeiteten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Den Protestanten kamen die Überlegungen der Katholiken zu langsam voran, sie nahmen deshalb die Gemeindegründung allein in die Hand. Der Evangelische Regionalverband für Frankfurt wollte mit seiner „ersten Gemeindegründung im dritten Jahrtausend“ die Initiative ergreifen – nachdem er andernorts bereits zwölf Gemeinden aufgrund von Fusionen geschlossen hatte. Damit war das ökumenische Gemeindezentrum auf dem Riedberg zwar noch nicht ganz vom Tisch. Aber die Protestanten schufen Fakten, während die Katholiken noch zögerten.

Ein zweiter Grund, warum ein Gemeindezentrum nicht für beide Konfessionen reicht, sind die Anlässe mit hohem Besucheraufkommen wie Weihnachten, Ostern, Firmungen und Konfirmationen. Man habe auch jetzt, im eigenen evangelischen Kirchraum, kaum Platz für die rund 500 evangelischen Gottesdienstbesucher an den drei Gottesdiensten am Heilig Abend, sagt die evangelische Pfarrerin Kirsten Emmerich. „Dann noch mal weitere 500 Katholiken zwischendurch durch die Kirche zu schleusen, das würde nicht funktionieren.“ An allen anderen Tagen könne sie sich eine räumliche Aufteilung für eine gemeinsame Nutzung aber durchaus gut vorstellen. Angela Köhler ist Gemeindereferentin in der katholischen Pfarrei St.  Katharina von Siena im Nordwesten Frankfurts. Die Pfarrei umfasst sieben Kirchengemeinden, darunter auch die neugegründete St. Edith Stein-Gemeinde auf dem Riedberg, der Köhler zugeordnet ist. 2 400 Mitglieder gehören zu dieser Gemeinde, und sie wächst und wächst. Die Kinder werden zur Vorbereitung auf die Erstkommunion eingeladen, dann kommen auch die Eltern hinzu. Vierzig Messdienerinnen und Messdiener hat Köhler schon für St. Edith Stein rekrutieren können. Helfen sie am Sonntag im Gottesdienst, feiern die Eltern die Messe gleich mit. Deswegen ist der Gottesdienstbesuch hoch. Fast alle der 160 Stühle sind an einem normalen Sonntag um 11 Uhr besetzt. In der Kirchengemeinde knüpfen die Kirchgängern Kontakte mit anderen. So beheimaten sie sich im Neubaugebiet. „Wir sind das beste Beispiel dafür, dass vor Ort eine kirchliche Verankerung sein muss“, so Angela Köhler.

Aber Köhler betrachtet die Entwicklung gleichzeitig auch sehr nüchtern. Sie vergleicht die Situation mit zwei anderen Kirchengemeinden aus ihrer Pfarrei St. Matthias und St. Sebastian. Sie wurden in den 1960er-Jahren gegründet, als damals in der Nordweststadt von Frankfurt ein großes Neubaugebiet aus dem Boden gestampft wurde. Auch damals stießen viele junge Familien über die Vorbereitung ihrer Kinder auf die Erstkommunion zur katholischen Gemeinde. Freundeskreise entstanden, die sich ein Leben lang den Kirchengemeinden in ihrer Nachbarschaft verbunden fühlten. Mittlerweile sind ihre Kinder erwachsen und aus dem Haus, die verbliebenen Gemeindemitglieder sind alt. Und es gelang weder St. Matthias noch St. Sebastian, den Aufbruchsgeist der ersten Jahre zu verstetigen. Beide Gemeindegründungen erwiesen sich als einmalige Generationenprojekte. Der St. Edith Stein-Gemeinde könne es ähnlich ergehen, fürchtet Angela Köhler. Heute kämpfen beide katholischen Gemeinden der Nordweststadt ums Überleben. In St. Matthias erwäge man mehr ökumenische Zusammenarbeit mit der evangelischen Nachbargemeinde St. Bonifatius. Vielleicht steht am Ende ja auch dort die Überlegung, nur eines der beiden Kirchengebäude aufzugeben und das andere gemeinsam zu nutzen.

U-Bahnlinie mitten hindurch

Auf dem Riedberg stehen sich heute das evangelische Gemeindezentrum und die katholische St. Edith Stein-Kirche direkt gegenüber. Die U-Bahnlinie U8/U9 schneidet zwischen beiden Gotteshäusern hindurch, für viele Gemeindemitglieder der ersten Stunde ein schmerzhaftes Symbol. Ihre Amtskirchen sind eigene Wege gegangen, der Wunsch nach Ökumene ist vor Ort aber geblieben.

Gemeinsam organisieren die Katholikin Köhler und die Protestantin Emmerich Open-Air-Gottesdienste am Bonifatiusbrunnen. Ökumenisch begehen ihre Gemeinden auch die vorösterliche Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“. Und alle zwei Jahre feiern beide Gemeinden auf dem Riedberg ein gemeinsames Fest am Erntedanktag. Drei bis vier gemeinsame Bildungsveranstaltungen stelle man pro Jahr zusammen auf die Beine, so die evangelische Pfarrerin Kirsten Emmerich. Ebenso ökumenische Einschulungsgottesdienste und ökumenische Feiern auf der Bühne des Weihnachtsmarkts im Advent – zusammen auch mit der freikirchlichen Josua-Gemeinde auf dem Riedberg. Und noch etwas deutet Ilse Friederike Werner, die evangelische Anwohnerin aus der Anfangszeit, als verbindendes Zeichen: Die evangelische Kirche auf dem Riedberg hat ihre Glocken 2013 einer katholischen Gemeinde im mittelhessischen Niederweidbach abgekauft. Sie laden jeden Sonntagmorgen um 11 Uhr auch zur katholischen Messe ein, die gleichzeitig auf der gegenüberliegenden Straßenseite stattfindet. Bislang existiert nur dieses eine Geläut für beide Gemeinden. Eine der Glocken trägt sogar das Bild der Peterskirche in Rom und die Inschrift: „2. Vatikanisches Konzil, Einheit und Frieden“.

Aber die einstige Vision eines gemeinsamen Gemeindezentrums ist heute kaum noch greifbar. Fragt man bei den damals Aktiven nach, erinnern sich die meisten nur vage an die Idee von damals. Dabei erreichen beide Kirchen zusammen – es sind derzeit 2 200 evangelische und 2 400 katholische Gemeindemitglieder, Tendenz steigend – auf dem Riedberg gerade mal ein Drittel der Stadtteilbewohner. Ebenso wenige, wie laut dem Freiburger „Forschungszentrum Generationenverträge“ beide Kirchen 2060 bundesweit noch erreichen werden.

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