Grusel auf den ersten Blick

Deutschlands angeblich größtes Sozialexperiment im Trash-TV
Foto: Harald Oppitz

Die Rauhnächte nach Weihnachten laden ja immer auch ein wenig zum Gruseln ein. Wie wäre es deshalb mit der hochwissenschaftlichen und experimentellen SAT-1-Produktion „Hochzeit auf den ersten Blick“? Zum Fürchten!!

Ab und zu sehe ich gerne Horrorfilme. Mein aktueller Favorit: „Hochzeit auf den ersten Blick“. Gerade lief die 6. Staffel auf SAT 1. Wenn Sie „Deutschlands größtes Sozialexperiment“ verpasst haben, müssen Sie sich nicht die Kugel geben. Man kann alle Folgen im Netz finden. Und sich im Neuen Jahr 2020 auf Staffel 7 freuen! Wer braucht Netflix, wenn es „Hochzeit auf den ersten Blick“ gibt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Man weiß gar nicht, an welcher Stelle man sich mehr gruseln kann, so grauenhaft ist die Angelegenheit.

Worum geht es? Unter „wissenschaftlicher Begleitung“ (tatsächlich listet SAT 1 die verwendeten psychologischen Tests auf!) werden „Matches“ gefunden, die dann vor dem Standesamt aufeinandertreffen und dort – ohne sich je zuvor persönlich kennen gelernt zu haben - sofort entscheiden müssen, ob sie „Ja“ oder „Nein“ sagen. Bei „Ja“ gehen die Paare tatsächlich eine rechtsgültige Ehe ein, die von der Hochzeitsfeier über die Hochzeitsnacht bis zu den Flitterwochen und ins erste Ehehalbjahr vom Sender begleitet wird. Völlig überraschend für mich ist dabei die Begeisterung für „die Wissenschaft“, die das „Experiment“ (so nennt der Sender die auf diese Art geschlossenen Ehen) begleitet. Immer wieder berufen sich die Paare in der Sendung darauf, dass „die Wissenschaft“ ihr Match gefunden habe. Nach einem halben Jahr stellen die „Forscher“ fest, ob „aus Wissenschaft Liebe geworden“ ist oder eine Scheidung ansteht.

Bislang dachte ich, dass der „Bachelor“ das Schlimmste sei, was das deutsche Trash-TV hervorbringen konnte. Doch es geht tatsächlich noch ärger. Ich weiß gar nicht, was mich mehr ins Fürchten bringt: Die Tatsache, dass sich junge Menschen freiwillig in Zeiten zurückversetzen lassen, in denen andere Instanzen als die Betroffenen selbst über den zukünftigen Partner entscheiden konnten? Oder der Fakt, dass diese Leute eine Scheidung ganz selbstverständlich einkalkulieren? Oder die Tatsache, dass eine Institution, die mit gutem Grund rechtlich in Deutschland einen besonderen Schutz genießt, als „Experiment“ desavouiert wird? „Deutschlands größtes Sozialexperiment“ hat bislang kaum eine Handvoll Ehen hervorgebracht, die das erste Jahr überstanden haben. Vielleicht schockiert es mich daher auch, dass Steuergelder für diese Sendung verschwendet werden. Familienrichter müssen die dank dieser Sendung in Reihe produzierten Scheidungen durchführen. Von den armen Standesbeamten, die diese Ehen schließen müssen, will ich gar nicht reden.

Aber eigentlich sollte ich mich nicht gruseln. Wahrscheinlich sind die Macher dieser Sendung ganz gebildete Leute. Sie haben sich lediglich an die erfolgreichen Themen der klassischen Literatur erinnert. Was wären Shakespeare, Goethe und Co ohne die Dramatik arrangierter Ehen? Diesen literarischen Vorbildern eifert SAT 1 nach!

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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