Zwischen Repression und Siegen

Die Opposition in Putins Russland hat die Furcht verloren
August 2019 in Moskau: Die Polizei geht gegen Demonstranten vor.
Foto: dpa/ Victor Kruchinin
August 2019 in Moskau: Die Polizei geht gegen Demonstranten vor, die gegen den Ausschluss von unabhängigen Kandidaten bei Lokalwahlen protestieren.

Putins Gegner sind in Russland an den Rand des politischen Lebens gedrängt worden. Doch die Moskauer Protestwelle vom Sommer 2019 gab den Aktivisten Auftrieb. Eine neue Generation debütierte auf den Straßen. Das Verhältnis zum Staat steht dabei mehr denn je auf Konfrontation, erklärt die österreichische Journalistin und Buchautorin
Jutta Sommerbauer.

Lange Jahre galt ein Mann als Inbegriff der russischen Opposition: Alexej Nawalny. Der Antikorruptionskämpfer war spätestens seit der Ermordung Boris Nemzows im Februar 2015 zum prominentesten Kritiker von Präsident Wladimir Putin in Russland aufgestiegen. Er ist angriffslustig, kompromisslos und verbringt fast ebenso viele Nächte im Gefängnis wie zu Hause bei seiner Familie. Seine kurzweiligen per YouTube verbreiteten Video-Clips mit Enthüllungen über die Kreml-Machtelite werden von Hunderttausenden konsumiert.

Doch seit vergangenem Sommer hat Nawalny Gesellschaft bekommen. Nachdem sich als Reaktion auf den Ausschluss von Oppositionskandidaten von der Wahl zum Moskauer Stadtparlament eine Protestwelle über die Hauptstadt ergoss, stehen neue Gesichter im Rampenlicht. Die unabhängigen Kandidaten einer ursprünglich recht unbedeutenden Wahl traten in seltener Einheit auf – und wurden so einem landesweiten Publikum bekannt. Aktivisten wie Ljubow Sobol, Irina Galjamina, Konstantin Jankauskas. Oder Ilja Jaschin.

45 Tage Gefängnis

Der 36-jährige Jaschin ist Bezirksratschef im Stadtteil Krasnoselskij nördlich des Moskauer Zentrums. Dass ihm und anderen Oppositionellen im Jahr 2017 der Einzug in die Bezirkspolitik gelang, war eine kleine Sensation. Zwei Jahre später wollte Jaschin eine Stufe höher steigen. Doch er wurde, wie andere unabhängige Kandidaten auch, nicht zur Moskauer Duma-Wahl zugelassen. Ende Juli 2019 wurde er als mutmaßlicher Organisator der von den Behörden nicht genehmigten Demonstrationen festgenommen. Der hart gesottene Politiker verbüßte 45 Tage im Gefängnis. Nach einem kurzen Urlaub kehrte er zurück an seinem Arbeitsplatz.

Das Bezirksamt ist ein unscheinbares beigefarbenes Bürogebäude, in dem ein älterer Mann am Eingang Wache schiebt. Jaschins Büro liegt im zweiten Stock, zu erreichen über einen schmucklosen Treppenaufgang. Die Korridore sind eng, die Büros klein. In Jaschins Zimmer hängt ein bekanntes Solidarnosc-Plakat hinter seinem Schreibtisch. Der Politiker trägt einen blassblauen Wollpullover, enge graue Jeans und Turnschuhe. Ob ihm die Rückkehr zur Arbeitsroutine nach dem Gefängnis schwer gefallen sei? Jaschin, drahtig und engerisch, wiegelt ab. „Alles halb so schlimm.“ Er sei doch keine zehn Jahre weggewesen, sondern nur eineinhalb Monate. Und außerdem: Es war schon sein zwölfter Arrest. „Natürlich ist es nicht angenehm, wenn man nicht weiß, wann man wieder herauskommt“, sagt er. „Aber diesen psychologischen Druck halte ich aus.“

Die Stimmung im Oppositionslager ist angespannt. Auf den Protestsommer folgte ein Winter der Repression. Jaschin, der ein Verbündeter von Alexej Nawalny ist, und andere bekannte Aktivisten wurden mit Gerichtsverfahren eingedeckt. Vorgeblich geht es um Schadensersatz für die Kosten verschiedener Polizeieinsätze, um angebliche illegale Spenden aus dem Ausland, um die Klassifizierung von Nawalnys Antikorruptionsstiftung als „ausländischen Agenten“.

Wohnungen und Büros wurden durchsucht. Die Betroffenen bezeichnen die Vorwürfe als vorgeschoben. Der Staat wolle ihre landesweiten Organisationsstrukturen zerstören. „Das Ziel ist, uns zu lähmen“, sagt Ilja Jaschin. „Das System weiß: Wenn man einen Oppositionellen verhaftet, bringt das nichts. Er bekommt nur noch mehr Unterstützung. Sobald er frei ist, geht er wieder auf Proteste.“ Nun versuchten die Behörden es anders.

Wer in Russland Oppositioneller ist, der braucht eine dicke Haut. Anfeindungen, angebliche Enthüllungen aus dem Privatleben und Fake-News stehen an der Tagesordnung. Als „Lügenoppositionär“ demütigt die Nachrichtenagentur FAN Jaschin. Mit Putins Machtergreifung wurde die Macht in den Händen weniger konzentriert und politische Alternativen sukzessive an den Rand gedrängt. Zwar war auch das Verhältnis des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin zur Demokratie durchaus widersprüchlich – erinnert sei an den Beschuss des Weißen Hauses 1993 oder seine von Oligarchen orchestrierte Wiederwahl 1996. Insgesamt aber gab es mehr Dissens und Debatte.

Mit Wladimir Putins Machtantritt änderte sich das. Er zentralisierte die Macht in den Händen weniger. Politische Konkurrenten schaltete er aus. 2003 ließ er seinen politischen Opponenten, den Oligarchen Michail Chodorkowskij, verhaften. Auch in der Duma dominierte fortan die Kreml-Partei Einiges Russland. Die Opposition verlor ihr Gewicht – und wurde zahmer. Heute begnügen sich die dort vertretenen Parteien wie Kommunisten und Wladimir Schirinowskijs nationalistische Nationalliberale größtenteils mit dem Abnicken von Gesetzesvorschlägen. Vertreter liberaler Parteien, etwa die in den 1990er-Jahren durchaus einflussreiche Oppositionspartei Jabloko oder unangepasste Abgeordnete mit eigenem Kopf sind aus dem Sitzungssaal verschwunden. Neuen Oppositionsprojekten wird schlicht die Registrierung versagt. Alexej Nawalny bemühte sich bisher vergeblich um eine offizielle Eintragung seiner Parteiprojekte. Sein größter Erfolg bisher war die Kandidatur bei der Moskauer Bürgermeisterwahl 2013, wo er 27 Prozent der Stimmen erhielt und Zweitplatzierter hinter Amtsinhaber Sergej Sobjanin wurde. Seine Zulassung interpretierten die Behörden im Nachhinein als Fehler, der sich nicht mehr wiederholen dürfe.

2018 durfte Nawalny nicht als Präsidentschaftskandidat antreten: Ihm sollte keine Bühne für Agitation mehr geboten werden. Wirklich unabhängige Politiker sind so gut wie ausgeschlossen aus dem politischen Spiel. „Wir stellen eine Gefahr dar für den Putinschen Status Quo: die Unveränderbarkeit der Macht. Wer Veränderungen fordert, dessen Struktur wird gesprengt“, resümmiert Jaschin.

Anders sieht es aus für die so genannte Systemopposition: Parteien, die in der Duma vertreten sind und nicht das Machtmonopol des Kreml hinterfragen. „Du kannst nicht alles sagen, was du sagen willst“, beschreibt Jaschin die Lager der Kommunisten und Liberaldemokraten, die Sitze im russischen Parlament haben. Die ausgeschlossene Opposition versuchte, den Vorsprung zu nutzen, und wies die Wähler an, gezielt für vernünftige Kandidaten zu wählen. Jaschin stellt das als Erfolg dar. „Diese Abgeordneten vertreten die Interessen der Bürger, nicht der Bürokraten.“ Den Unterschied zwischen Systemopposition und den außerparlamentarischen Aktivisten bestehe dennoch weiterhin.

Auch einfache Aktivisten bekamen in den Wochen und Monaten nach dem Moskauer Protestsommer repressive Maßnahmen zu spüren: Strafverfahren wegen des mutmaßlichen Aufrufs zu Massenunruhen. In Urteilen wurden teilweise mehrjährige Haftstrafen verhängt. Sie sollten eine abschreckende Wirkung für andere haben. Die Behörden gaben nur in einzelnen skandalösen Fällen dem Druck der Öffentlichkeit nach. Etwa bei Pawel Ustinow, dessen dreieinhalbjährige Gefängnisstrafe man in eine Bewährungsstrafe umwandelte. Das „Vergehen“ des Schauspielers Ustinow war es gewesen, sich in der Nähe einer Kundgebung befunden zu haben. Er war vom Fleck weg verhaftet worden.

„Jemand muss es tun“

Ein Moskauer nahm an einem nicht genehmigten Protest für freie Wahlen teil. Aus der „Position eines einfachen Bürgers“ habe er für Gerechtigkeit eintreten wollen, sagt der Mann, Anfang dreißig, der wegen eines laufenden Verfahrens anonym bleiben will. „Jemand muss etwas tun.“ Bei einer Konfrontation mahnte er die Polizisten, sich zurück zu halten. „Ihr seid wie wir!“, rief er, überzeugt davon, dass viele Gesetzeshüter „einfache, schlecht informierte Burschen“ seien, mit denen man reden müsse.

Doch im nächsten Moment wurde der tapfere Moskauer festgenommen und in ein Kommissariat am Stadtrand transferiert, wo man ihm die Teilnahme an einer illegalen Kundgebung vorwarf. Bisher droht ihm eine Verwaltungsstrafe von 15 000 Rubel, zweihundert Euro. Eine vergleichsweise geringe Summe, die viele andere zähneknirschend begleichen. Doch er hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, auch wenn er bereits Signale erhielt, das besser bleiben zu lassen: „Ich war an der Kundgebung, aber es trifft mich keine Schuld.“ Er ist entschlossen, weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Sucht man ein verbindendes Merkmal der gegenwärtigen oppositionellen Bewegung, dann ist es wohl das: die Furchtlosigkeit. Während die Behörden in früheren Jahren Proteste schneller zerschlagen konnten, zeigten die vorwiegend jungen Teilnehmer mehr Widerstandskraft. „Natürlich hatten wir Angst“, sagen zwei Schüler. „Aber wir hatten nichts zu verlieren.“ Auch Oppositionspolitiker Jaschin bestätigt die erhöhten Abwehrkräfte: „Die Macht erreicht nicht mehr die selbstgesetzten Ziele. Je stärker man uns unter Druck setzt, desto entschlossener entwickeln wir Fähigkeiten zur Gegenwehr.“

Es hat ein Generationswechsel stattgefunden. Die Jungen, die heute Meetings besuchen, kennen die Sowjetmacht – und die Angst vor ihr – nicht. Plakativ formuliert: Wenn man das neueste Mobiltelefon kaufen kann, warum kann man nicht den Abgeordneten seiner Wahl wählen? Die 20- bis 30-Jährigen informieren sich über unabhängige Kanäle und haben das Vertrauen in das staatlich dominierte Fernsehen, das Medium der älteren Generation, verloren.

Bei den Moskauer Protesten zeigte sich stärker als anderswo im Land, dass die Jugend und die Politik in unterschiedlichen Welten leben. Denis Wolkow, Vizechef des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, bringt die Lage auf den Punkt: „Die Staatsmacht ist wie aus einer anderen Welt. In den Augen der Jugend wirkt sie physisch und moralisch veraltet, nicht zeitgemäß.“ Versuche der Führung, mit der jüngeren Generation ins Gespräch zu kommen, verliefen meist nicht sehr erfolgreich. „Man findet keine gemeinsame Sprache.“

Die Moskauer Proteste brachten expliziter zum Ausdruck, was auch anderswo im Land zu beobachten ist. Bürger begehren vermehrt auf. Bei Demos gegen Mülldeponien und einen Kirchenbau im Zentrum Jekaterinburgs zeigen sie dem Staat die Rote Karte. Das Rating der Mächtigen fällt, die Unzufriedenheit über die soziale Lage wächst – Umfragen bestätigen das. In Russland breche eine „neue Periode der bürgerschaftlichen und politischen Aktivität“ an, schreibt Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum. Schwankt das System? Oder nutzt der Kreml Aufbegehren gar zur Optimierung des Bürgerservice?

Gestiegen ist jedenfalls die Aufmerksamkeit der Bürger für ihre unmittelbare Umgebung. Laut einer Studie stellten die Russen ihren Schutz 2018 erstmals an erste Stelle. Verbauung von Parks, Abholzung von Wäldern, Abriss von Wohnblocks – das sind die Themen der Zeit „Die Menschen beschäftigt die städtische Lebenswelt und die Eingriffe in sie, die niemand mit ihnen abgestimmt hat“, sagt die Politologin Jekaterina Schulman. Eine Folge der vernetzten Welt ist, dass die Bürgerproteste schneller auf Resonanz stoßen. Und die Behörden sind gezwungen zu reagieren. In Jekaterinburg schritt Putin höchstpersönlich ein. Er regte an, Alternativstandorte für das umstrittene Gotteshaus zu finden.

Meist gelingt es dem Kreml, mit einem Mix aus Behördeneinsatz, Repression, medialer Soft Power und der Mobilisierung gefügiger Wählergruppen politische Kämpfe in die gewünschte Richtung zu lenken. Aber: Es fällt immer schwerer. Politologe Alexander Kynew findet einen passenden Vergleich: „Die gelenkte Demokratie funktioniert wie ein altes, rostiges Auto. Man muss es ständig reparieren, die Tür fällt ab, das Benzin geht zur Neige.“ Die große Frage hinter all dem ist, was 2024 passieren wird. Die Debatte über den Transfer der Macht beschäftigt
Russland heute schon ungemein. Bleibt Putin Präsident? Scheidet er aus dem Präsidentenamt? Dem Gesetz nach müsste er es. Wer wird sein Nachfolger? Könnte die Opposition in dem Prozess eine Rolle spielen?

In seinem Moskauer Bezirksamt ist Ilja Jaschin sicher, dass Putin über das Jahr 2024 hinaus an der Macht bleiben will. Er wolle die Macht bis ans Ende seines Lebens behalten. „Und er hat vor, lang zu leben.“ Fragt man den ambitionierten Politiker, welche Art der Machtübergabe er sich wünsche, dann erinnert er an das osteuropäische Modell: „Runde Tische wie einst in Polen.“ Da müsse man zwar unangenehme Kompromisse schließen, bewahre aber den Frieden im Land.

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Foto: Clemens Fabry

Jutta Sommerbauer

Jutta Sommerbauer ist Journalistin aus Wien und Korrespondentin der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" in Moskau.


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