„Vom Einssein mit allem Menschenwesen“
Am 2. Januar 2020 jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag von Ernst Barlach. Er hatte das Glück der Mehrfachbegabung und konnte seinen Tatendrang als Bildhauer, Schriftsteller und Zeichner ausfüllen. Klaus-Martin Bresgott würdigt den im Holsteinischen geborenen Ausnahmekünstler.
In der als Einstieg in sein literarisches Œuvre bestens zu lesenden Autobiografie Ein selbsterzähltes Leben beschreibt der 1870 in Wedel (Holstein) an der Elbe geborene Ernst Barlach 1928 rückblickend eine wesentliche, die Herzwand durchdringende Episode der Kindheit, die wie ein Leitstern über allem künstlerischen Ausdruck und aller seelischen Empfindung seine Aneignung und den Umgang mit der Welt spiegelt: „Beim Streifen durchs Fuchsholz aber fiel mir die Binde von den Augen, und ein Wesensteil des Waldes schlüpfte in einem ahnungslos gekommenen Nu durch die Lichtlöcher zu mir herein, die erste von ähnlichen Überwältigungen in dieser Zeit meines neunten bis zwölften Jahres, das Bewusstwerden eines Dinges, eines Wirklichen ohne Darstellbarkeit – oder wenn ich es hätte sagen müssen, wie das Zwinkern eines wohlbekannten Auges durch den Spalt des maigrünen Buchenblätterhimmels.“
Für Erfahrungen dieser Art taugen dem Sohn eines Landarztes die Überlandfahrten mit dem Vater in der Kutsche, während derer ihm des Öfteren bewusst wird, „dass das Hinschweifen durchs raumlose Dunkel am Rande der Wirklichkeit stattfand“, und er im Bewusstsein, dass Kinder „außer Augen und Ohren noch mancherlei empfangende Organe“ haben, viel Zeit hatte, über die „Selbstverständlichkeit des Unwahrscheinlichen ohne Ablenkung nachzudenken“. Diese, das Leben wesentlich prägenden Momente, kurz und mit scheinbar flüssiger Hand an der nordöstlichen Bucht des Güstrower Inselsees beispielhaft notiert, liegen allem immer auch humorvoll lachbaren Ernst des Barlachschen Daseins zugrunde – einem privat zurückgezogenen Leben meistenteils mit Mutter und Sohn, einem künstlerisch reichen als Bildhauer, Zeichner und Schriftsteller unter dem lebenslangen „Fluch zum Wollen“. Einem Leben, über das er zwischenzeitlich rückblickend schreibt: „Ich sah eben trotz oft beliebter Grämlichkeit doch nicht sauer ins Leben und vermochte nichts anderes als gutgläubiges Behagen an der Welt auszusprechen, wo ich mirs doch in ihren traumhaften und gespenstischen Winkeln wohl sein ließ“ – immer wieder zumindest, bis ihm und seinesgleichen ab den 1930er-Jahren die nationalsozialistische Barbarei an die Freiheit und Krankheit und schließlich ans Leben ging.
Schöpferische Vollendung
Ernst Barlach hatte das Glück der Mehrfachbegabung, den Tatendrang, sich dieser lebenslang ausfüllend zu vergewissern, und die Kraft, sie immer weiter zur schöpferischen Vollendung zu treiben. Am 15./16. Juni 1889 notiert der gut 19-Jährige dazu in einem Brief: „Ich muss scharf beobachten, fortwährend von vorne und hinten, von rechts und links mein Werk im Auge behalten (...) Nun kann mir aber die Plastik nicht ganz genügen, deshalb zeichne ich, und weil mir das nicht ganz genügt, schreibe ich. Diesen Drang verspürte ich schon als Knabe …“
Dabei gliedert sich das Werk des nimmermüden, seit 1910 in Güstrow ansässigen Dreibeins in ein leicht(er) zugängliches, im Unmittelbaren wurzelndes Diesseitiges und ein mitunter schwer dräuendes, mystisch durchdrungenes „am Rande der Wirklichkeit“. Letzteres macht ihn bis heute in seiner Auslotung der Maße zwischen Himmel und Erde zum willkommenen Objekt christlicher Kunstbetrachtungen und Deutungen, obgleich sich Ernst Barlach bis zum Ende seines Lebens in seiner, durch den großväterlichen Pastorenhaushalt begünstigten, frühen Vertrautheit und Auseinandersetzung mit dem Christentum zwar immer wieder darum kreisend, aber stets respektvoll distanziert darüber geäußert hat. Er, der sehr genau wusste, was er für sich und sein Schaffen wollte, nämlich: „Weiligkeit, Sammlung, Freude, Wahrheit und Vollendung“ (So, so ist es. Wedel 1903), merkte am 28. Dezember 1911 gegenüber seinem Verleger Reinhard Piper in einem seiner Briefe, die ihm vor allen zwischen den Jahren regelmäßig resümierend von der Hand gingen, zum grundsätzlichen Ansporn und Ziel seines Schaffens an: [Ich möchte] „ein Wort hinsetzen, das Ihnen als Schopenhauerianer nicht wertlos sein wird: Mitleid. Ich muss mitleiden können – und sei es, wo sich das Mitleid verbietet, mit mir selbst, dass ich so niedrig, so fern bin, denen zu gleichen, die wohl mit mir Mitleid haben können. Mitleid braucht nicht kläglich zu sein. Ich kann es noch an der Lust am Heroischen und Humoristischen nachfühlen. Könnte man auch sagen: stellvertretendes Leiden oder stellvertretende Lust – nämlich von mir. Eine Teilnahme, die so weit im Verständnis geht, dass sie sich an die Stelle der zur Anschauung gebrachten Vorgänge setzt. (...) Was der Mensch gelitten hat und leiden kann, seine Größe, seine Angelegenheiten (inklusive Mythos und Zukunftstraum), dabei bin ich engagiert, aber mein Spezialgefühlchen oder meine mir eigenste Sensation ist ja belanglos, ist bloße Laune, wenn ich dabei aus dem Ringen des Menschlichen heraustrete.“ Zu seinem Verhältnis zum Christentum schreibt er am 3. Dezember 1932 in einem Brief an Johannes Schwartzkopff, Pastor der Güstrower St. Marien-Domgemeinde: „Glaube, welcher Art er auch sei, ist Wohltat, Glück und Gnade, kann aber niemals das Ergebnis eines Willensakts, eines Zuspruchs oder von Ermahnungen sein. Ein Bekenntnis zu miteinander verbundenen, ein Ganzes ausmachenden, ein System begründenden Glaubensartikeln kann von mir nicht erbracht werden. (...) Ausdrücklich fühle ich mich verpflichtet (...) zu sagen, dass die christliche Heilslehre mir eine immer geringer werdende Notwendigkeit seelischen Besitzes geworden ist. Wie wenig oder viel, ob überhaupt einen Ersatz ich dafür gewonnen, muss ich zu meinem Glück oder Schaden hinnehmen, wie es mein Tun und Lassen mit sich bringt. (...) Ich fühle Ehrfurcht gegenüber der innern und äußeren Gestaltgebung jeder der großen Weltreligionen, nicht einer einzelnen wortmäßig und begrifflich umgrenzten.“ So offenbart sich ein religiöser, darin aber ungebundener Künstler: Ernst Barlach.
Der diesseitige und darin vielfältig zugängliche Barlach begegnet einem vorrangig mit dem Stift in der Hand und in der Prosa. Die zeichnerische Form findet von der farbigen Jugendstilmalerei, Genredarstellungen und Karikaturen, vorzüglich während der jugendlichen Aufenthalte in Paris und später in Dresden (beispielsweise Im Zauberwald, Mondgeister, Symbol der Erkenntnis, Der Festredner oder Aus dem Kommissionsbericht der Übersichtigen), sehr klar zu der mit der Zäsur der Russland-Reise 1906 einhergehenden Form figürlich-dinglich fokussierter Zeichnung mit Bleistift und Kohle, vor allem von Köpfen und Gesten, Körpern und Landschaften, die – wie es vor allem die Zeichnungen der Einzelfiguren der 1910er- und 1920er-Jahre bis zu den Übungen der leichten Hand (1935) bezeugen – als „Symbole für die menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde“ aufgehen.
Dazu gehören aber auch die teils lyrisch schimmernden, teils spukhaften Zeichnungen zur Walpurgisnacht und zu Gedichten Johann Wolfgang Goethes (1924), über den der 45-Jährige am 15. September 1915 mit großer Hingabe schreibt: „ … ich weiß, dass ich von Goethe so viel frohe Beschaulichkeit der Welt- und Menschendinge erhalten habe, dass ich Goethe mit auf dem Weg habe, so lange ich laufen werde. Ich sehe ein Gewimmel sonniger oder besonnter Gestalten, ich fühle Gnade walten, ich sehe Licht, warmes, herzerwärmend. Alle Kritik in Ehren, überhaupt jede aufrichtige Ablehnung, aber Goethe spricht zu mir, als wäre irgendwo Musik hinter den Wolken, aber keine geheimnisvolle, sondern eine Musik, die klingt, wie die Sonne scheint.“
Animistische Fabulierkunst
Seine Prosa – zu der auch eine kleine, anrührende Rede zum Goethe-Tag 1932 zählt – lässt sich in ihrer anfänglich animistischen Fabulierlust und dem allegorischen Naturalismus stilistisch frei in einen Bogen spannen, der von den frühen kleinen Erzählungen über das Russland-Tagebuch (1906) / Eine Steppenfahrt (1912), das Romanfragment Seespeck (1916), das Güstrower Tagebuch (1914–1917) und Ein selbsterzähltes Leben bis zum Romanfragment Der gestohlene Mond (1936/37, posthum 1948) führt. Hier zeigt sich ein mit allen Sinnen neugierig und offen durch die unsichtbaren Wände des Daseins drängender und dringender Dichter, der wohl immer auch nagenden Selbstzweifel und Zerknirschung kennt (Ich bin ein Spieler von Profession, / Der Tag, der muss mir borgen. / Den Zufall hab ich müd’ gemacht. / Ich würfle mit der grauen Nacht / um Freuden und um Sorgen. Zu einem Selbstbildnis, 1903), gleichzeitig aber auch in behaglicher Geborgenheit mit Sohn Klaus sinnend in den Zwischenwelten der blauen Stunden haust: „Gerade wie der Klaus abends die Decke über die Ohren zieht und sich im Bett wie in einem Gehäuse der Geborgenheit fühlt, so fühle ich mich manchmal, aber mit einem ganz andern Schauern, geborgen im Gehäuse meines Weltgefühls. (...) Aber wie dem Klaus wohl einmal ein Schattengefühl übers Herz streicht vom Fremdbewusstwerden und Nichtmitkönnen, von väterlichen Forderungen, gegen die alle seine Haare sich aufsträuben, vom Blindsein gegen väterliche Anschauungen und Taubsein für väterliche Anreden, – so kanns einem wohl schaudern werden vor dem: Wieso und was weiter? Wohin man soll, wird wohl einmal leise angedeutet, einmal oder zweimal im Jahr klopft ein Finger gegen die Fensterscheibe, und eine fast fremde und sonderbar unkenntliche Stimme ruft heraus: Komm einmal herein, ich muss dir was sagen, – und man kommt ein wenig betäubt wieder in den Sonnenschein zurück, weiß und weiß doch nicht ...“ (Geborgenheit, Mitte März 1913, Güstrower Fragmente) Die ironisch durchdrungenen, gleichwohl von Märchen und Mythen durchwobenen Themen seiner Prosa: das heimatliche Geisterreich mit allen seinen Haushexen, die lebendigen Naturgewalten mit ihren raunend-rauschenden Stürmen und kurzerhand alles, wovon Barlach rückblickend feststellt: „Ich habe meinen ganzen Krempel von der Straße geholt“ zeigen expressionistische Züge, vergeistigen und verflüchtigen sich später aber auch im Abgleich zwischen Wahrnehmung und Widerspiegelung.
Die Bühnenwerke wie Der blaue Boll oder Die echten Sedemunds lesen sich um einiges schwerer und machen deutlich, was einen an dem Dramatiker Ernst Barlach kauen und widerkäuen lässt in der Hoffnung auf Zugang und Begreifen. In ihnen tut sich auf eine ähnliche Weise wie in mancher symbolisch stilisierenden Plastik neben aller Kühnheit eine Blöße und darin ein Interpretationsraum auf, dessen Luft dünn und schwer zugleich ist. In ihrem unermüdlichen Worteringen und der jeweils Absolutheit beanspruchenden Thematik stehen die Dramen eigentümlich starr im Raum.
Die damit verbundene Unverfügbarkeit entsteht, weil die nötige Bewegung und das Werden fehlt, dessen Wegführung jenseits real empfundener Dringlichkeit unfasslich im oft mystisch vermessenen Ganzen und dessen substantivierend um die Wahrheit ringenden Wortschatz gefangen ist.
Dieses mystisch vermessene Ganze liegt in einem anderen, fasslicheren Resonanzfeld auch Barlachs erhabensten und bekanntesten plastischen Werken zugrunde: dem Wiedersehen (1926), dem Schwebenden (Güstrower Ehrenmal, 1927), dem Lesenden Klosterschüler (1930 – zu dem wieder einmal Alfred Andersch’ Sansibar oder der letzte Grund (1957) zu lesen lohnt), dem Wanderer im Wind (1934), dem Fries der Lauschenden (1935) oder dem Zweifler (1937), entstanden ein Jahr vor seinem Tod am 24. Oktober 1938. Anders als etwa der Träumer (1925), Beethoven (1926), der Singende Mann (1928) oder die Lachende Alte (1937) haben alle diese Figuren einen Bezugspunkt außerhalb ihrer eigenen, durch die Barlachsche Hülle sorgsam geschützten Körperlichkeit. Dieser Bezugspunkt enthebt sie ihrer dinglichen Schwere, liegt aber auch – anders als etwa bei Constantin Brâncuși (1876–1957), in nächster Generation bei Gerhard Marcks (1889–1981), Henry Moore (1898–1986) oder Alberto Giacometti (1901–1966) – nicht im jeweiligen Werk selbst, sondern außerhalb davon, fixiert in der Unendlichkeit, im All des „Einsseins mit allem Menschenwesen“. Dieses ihnen einverleibte Außer-sich-Sein ist ihre Blöße und ihre Größe zugleich. Sie offenbart womöglich am klarsten, gewiss aber am ergreifendsten den mitleidenden Menschen Ernst Barlach, den künstlerisch Verschmolzenen – den in seinem Werk monolithischen Wanderer, dessen Geburtstag sich am 2. Januar zum 150. Male jährt.
Information
Ernst Barlach Museen:
Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Heidberg 15, 18273 Güstrow (Mecklenburg)
Ernst Barlach Haus, Baron-Voght-Straße 50a, 22609 Hamburg
Ernst Barlach Museum Ratzeburg, Barlachstraße 3, 23909 Ratzeburg
Ernst Barlach Museum Wedel, Mühlenstraße 1, 22880 Wedel (Holstein)
Filmhinweis: Sansibar oder der letzte Grund (Bernhard Wicki, 1987) – auch auf https://www.youtube.com/watch?v=DPbqyldX9V8
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.