Trauermärsche mit Särgen und Knochen

Warum ich als Pfarrer bei der Klimabewegung Extinction Rebellion teilnehme
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Den Klimanotstand auszurufen. Offiziell. Durch die Regierungen und Parlamente. Das ist die erste der drei Forderungen der neuen Klimabewegung Extinction Rebellion. Mit einer ‚Rebellion Wave‘ Anfang Oktober in Berlin ist sie nun auch hier in Deutschland angekommen. Es sind die älteren und etwas radikaleren Geschwister zu den jungen Leuten von Fridays for Future mit ihren Schulstreiks.

Inspiriert sind sie von den Pionieren der Bewegung in Großbritannien, die schon im November 2018 begannen, die Londoner Brücken spektakulär lahmzulegen. Ihr zentrales politisches Druckmittel ist der zivile Ungehorsam. Sie blockieren Straßen und Kreuzungen und Eingänge zu Börsen und Ministerien und Konzernzentralen. Sie sind bereit, sich dafür verhaften zu lassen. Die ökologische Krise, so ihre Einschätzung, duldet keinen Aufschub mehr. Und verlangt nach neuen Protestformen. Die dramatisieren. Auch in der Symbolik und den Bildern, die bewusst erzeugt werden: Die-Ins, Trauermärsche mit Särgen und Tierknochen, Ausschüttung von Kunstblut. Weil die Lage so dramatisch ist.

Tell the truth! Sagt die Wahrheit! So stand es auf der großen hölzernen ‚Arche Rebellia‘, die die Aktivist_innen am Fuße der Siegessäule in Berlin errichtet hatten. Eigentlich kennen wir die Wahrheit. Dass wir vielleicht noch zehn Jahre haben, um durch eine radikale Reduktion des Ausstoßes von Klimagasen zu verhindern, dass die Erdtemperatur über 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter steigt.

Sonst drohen Kipppunkte wie das komplette Abschmelzen des arktischen Eisschildes oder das Auftauen der Permafrostböden, die unser Klimasystem unwiederbringlich aus dem Gleichgewicht bringen werden. Mit allen Folgen von steigenden Meeresspiegeln, Sturmfluten, Dürren, Bränden, Ernteausfällen, Hungertoten, Klimaflüchtlingen. Apokalyptische Vorstellungen? Nun, die Menschheit als solches wird überleben. Aber zu welchem Preis? Dabei sind andere lebensbedrohliche Überschreitungen der planetaren Belastungsgrenzen wie die Vernichtung der Artenvielfalt, die Unfruchtbarmachung der Böden und die Übersäuerung der Ozeane durch unsere industriell-kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise noch gar nicht mit im Blick. Da leuchtet doch jedem ein, dass wir schnell handeln müssen.

Die Wissenschaft warnt seit vierzig Jahren. Die Politik hat sich nach Jahrzehnten der Ignoranz im Pariser Klimaabkommen von 2015 auf Reduktionsziele verbindlich verpflichtet. Aber keine entsprechenden, einschneidenden und wirksamen Maßnahmen werden ergriffen. Es ist davon auszugehen, dass die CO2-Emmissionen bis zum Jahr 2030 global weiter ansteigen werden. Dabei müssten wir – so liest Extinction Rebellion die wissenschaftlichen Daten – bis 2025 bei Netto-Null sein.

Welche Blockaden sind da am Werk? Ist es allein die psychologisch erklärbare Verdrängungsleistung, die die nahende Katastrophe nicht sehen will? Oder doch die Unfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie, sich aus lobbyistischen Verstrickungen und der Angst vor der nächsten Wahl zu lösen?

Extinction Rebellion fordert ausgeloste, repräsentative Bürgerversammlungen, ‚Peoples Assemblies‘ nach irischen Vorbild, um sich im gesellschaftlichen Konsens über die nötigen Maßnahmen zu verständigen. Denn die Bereitschaft vieler Menschen zum Umsteuern ist vorhanden.

Jutta Ditfurth hat vor Extinction Rebellion als einer irrationalen apokalyptischen Endzeitsekte gewarnt. Nun ja. Wenn das, was uns „unbedingt angeht“, als Religion bezeichnet werden kann (Paul Tillich), dann wohnt dieser Bewegung tatsächlich eine religiöse Dimension inne. In ihrer Leidenschaft und Dringlichkeit, der Frage nach Leben oder Tod, dem Ringen zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Dabei ist sie keineswegs vernunft- oder wissenschaftsfeindlich. Sie weiß nur besser als andere Akteure der Klimabewegung, dass die Klimafrage nicht zu lösen sein wird, wenn wir die Fragestellung aus dem Kopf nicht auch auf die Ebene des Herzens und der Gefühle bekommen, unsere unterschwelligen Ängste nicht sichtbar und bearbeitbar machen. Ursprünglich war das einmal vornehmste Aufgabe der Kirchen.

Sie finden im Moment noch nicht zu theologisch überzeugenden und seelsorglich wirksamen und handlungsermutigenden Worten. So lange habe ich meinen Platz als Pfarrer erst einmal dort, wo die besorgten und sensiblen Menschen dem Rad in die Speichen fallen. Bei Extinction Rebellion. Im Kampf gegen die Auslöschung.

 

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Thomas Zeitler

Thomas Zeitler ist Kulturpfarrer an der Egidienkirche in Nürnberg. Er hat 2001 den Nürnberger Queergottesdienst mitbegründet und engagiert sich im lokalen Bündnis gegen Trans- und Homophobie.


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