Tot und lebendig zugleich

Was Schrödingers Katze mit der Suche nach dem Supercomputer zu tun hat
Foto: dpa/ Alessandra Schellnegger
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Veranschaulichung von Schrödingers Gedankenexperiment im Deutschen Museum München.

Vor einigen Wochen meldete Google, dass erstmals ein vom Konzern entwickelter Quantencomputer eine Aufgabe erledigt hat, an der herkömmliche Rechner scheitern würden. Aber welche physikalischen Gesetze stecken hinter der so genannten Quantenüberlegenheit? Der Wissenschaftsjournalist Reinhard Lassek führt ein in die verwirrende subatomare Welt.

Falls die Quantenmechanik recht habe, so Albert Einsteins berühmter Einwurf, müsse die Welt „verrückt“ sein. Und in der Tat, Quanten sind das Verrückteste, was es in der Physik zu beobachten gibt. Sie gleichen nämlich keineswegs winzig kleinen Billardkugeln. Sie sind „Teilchen“ der ganz anderen Art und verhalten sich dementsprechend auch alles andere als „klassisch“. Sie sind Botschafter einer anderen Welt als der, die wir alltäglich erleben. In der Quantenwelt wird möglich, was „normalerweise“ unmöglich ist: Gewissheiten mutieren zu Wahrscheinlichkeiten, Ursache und Wirkung verschwimmen, Kausalitäten werden auf den Kopf gestellt.

Um zwei Absurditäten der Quantenwelt – die so genannte Superposition und die Verschränkung – beispielhaft vor Augen zu führen, entwickelte der österreichische Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger 1935 ein Gedankenexperiment: In einer verschlossenen Kiste befinden sich eine Katze, eine Ampulle tödlichen Gifts sowie eine radioaktive Strahlungsquelle. Aufgrund der Quantensuperposition und Verschränkung ist die Katze nun gleichzeitig tot und lebendig – solange jedenfalls wie die Kiste verschlossen bleibt. Wie ist das möglich? Nun, wem das Schicksal der Katze nicht gleichgültig ist, dem sei der folgende Quanten-Crashkurs empfohlen. Denn „Schrödingers Katze“ hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Katze lässt das Mausen nicht. Dazu später mehr.

Zur Begrifflichkeit: In der Quantenmechanik treten physikalische Größen nur in ganz bestimmten, diskreten Portionen (Quanten) auf. Das Quantum ist eine Einheit, die nicht weiter zerlegt werden kann. Nicht nur alle Materie unterliegt der Quantelung, sondern auch die Energie. Quanten definieren zudem mehr als nur die jeweils kleinste Mengeneinheit. Sie bezeichnen auch Zustände oder den Wechsel von Zuständen.

Überforderter Verstand

Bereits Einsteins Relativitätstheorie stellt die menschliche Vorstellungskraft nachhaltig auf die Probe. In der Quantenmechanik kommt alles noch viel schlimmer: Sie überfordert per se den menschlichen Verstand. Da wundern sich nicht nur Laien. Auch Physiknobelpreisträger kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Daher zunächst ein Quantum Trost für all diejenigen, denen die moderne Physik ohnehin wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommt: „Wen die Quantenphysik nicht verwirrt“, so der Atomphysiker Niels Bohr, „der hat sie nicht wirklich verstanden.“

Was da so „verwirrend“ ist, versteht nur, wer weiß, was eigentlich „normal“ ist. Rund dreihundert Jahre lang stand jedenfalls die klassische Mechanik für unangreifbare Normalität. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen sodann mit der Relativitätstheorie und mit der Quantenmechanik gleich zwei bahnbrechende physikalische Theorien auf, die der klassischen Mechanik ihre Grenzen aufzeigten. Sie machten Isaak Newtons Physik quasi im Doppelschlag zum Grenzfall. Mehr noch, sie überwanden deren Grenzen und entwickelten – obwohl auf der klassischen Mechanik fußend – völlig neue physikalische Konzepte.

Einsteins Relativitätstheorie beschreibt die äußere Struktur des Universums. Quasi ein Reich der Riesen, in dem mit Größen von Milliarden von Lichtjahren zu rechnen ist. Die Quantentheorie hingegen beschreibt die innere Struktur der Materie. Ein Reich der Zwerge, in dem es auf den milliardstel Teil eines milliardstel Meters ankommt. Nils Bohr und Arnold Sommerfeld sind die wichtigsten Wegbereiter für die hernach vor allem von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger ausformulierte Quantenmechanik.

Neben der Dimension – Makro- oder Mikrokosmos – gibt es noch einen weiteren fundamentalen Unterschied: Einstein räumt zwar ein und für allemal mit dem Konzept eines absoluten und universellen Raum-Zeit-Begriffs auf, doch seine Theorien der Relativität verlassen insofern nicht den Boden der klassischen Physik, als bei jeder mathematischen Formulierung eines physikalischen Problems noch von „real“ in der Außenwelt existierenden Größen ausgegangen wird. Quantenmechanische Gesetze und Gleichungen handeln indes im Grunde genommen nicht mehr von der „Welt“, sondern „nur“ noch von dem, was die Wissenschaft von der „Welt“ in Erfahrung bringen kann. Die grundlegenden Naturgesetze stehen nunmehr in Abhängigkeit von Größen, die es in der sinnlich zugänglichen Natur gar nicht gibt.

Zur Erinnerung: Nils Bohr konstruiert sein Atommodell noch in Analogie zum kopernikanischen Sonnensystem. Das Wasserstoffatom besteht aus einem positiv geladenen Kern (Proton), der vom negativ geladenen Elektron – wie die Sonne von der Erde – umkreist wird. Werner Heisenberg jedoch erkennt, dass Proton und Elektron in Wirklichkeit gar keine Bahnen einnehmen, sondern lediglich Bereiche, in denen sie sich mit allerdings exakt berechenbarer Wahrscheinlichkeit aufhalten. Nach Heisenbergs „Unbestimmtheits-Relation“ verändert jede Ortsmessung etwa eines Elektrons unweigerlich dessen Impuls – also die Geschwindigkeit des gerade anvisierten Teilchens. Das heißt, der Impuls wird durch die Ortsbestimmung „ganz unbestimmt“. Umgekehrt verändert eine Impulsmessung den Ort, so dass der Ort „ganz unbestimmt“ wird. Ort und Impuls des Elektrons können demnach zwar jeweils für sich genommen „beliebig genau“ bestimmt werden, sind aber niemals gleichzeitig „beliebig genau“ zu ermitteln. Denn die Messung der einen Größe verhindert stets die Bestimmung der anderen – komplementären – Größe.

Präzise Ungenauigkeit

Millionenfach und mit schier unfassbarer Präzision ist Heisenbergs Relation experimentell bestätigt worden. Denn „Unbestimmtheit“ heißt nicht etwa „Ungenauigkeit“ oder „Unschärfe“ der physikalischen Messungen – wie oftmals kolportiert wird. Es geht vielmehr um die Aufkündigung des herkömmlichen Kausalitätsprinzips. Mit „Unschärfe“ ist eigentlich „Unsicherheit“ gemeint. Denn die entscheidenden Prozesse im Innersten der Materie beruhen nicht auf linearen Ursache-Wirkungs-Ketten, sondern auf Wechselwirkungen. Es gibt zwar einen berechenbaren Wahrscheinlichkeitsrahmen für Zustandsänderungen, doch zur zweiwertigen Logik des „Sein“ oder „Nichtsein“ tritt als Drittes das „Möglichsein“ hinzu.

Sind physikalische Prozesse nun vom Anfang her – also durch Ursachen – definiert? Oder werden sie gar vom Ende her bestimmt – nämlich durch ihre größtmögliche Wirkung? Letzteres legt die Quantenmechanik nahe. Denn in der Welt der Quanten ist die zeitliche Abfolge zweier physikalischer Zustände oftmals gar nicht feststellbar. Ob ein Ereignis „A“ zu „B“ führt oder ob nicht „B“ vielmehr „A“ verursacht, bleibt unbestimmt. Und das liegt eben gerade nicht daran, dass diese Information noch irgendwo im Verborgenen liegt. Dann ließe sich ja eine geeignete Apparatur ersinnen, um diese Information herauszulesen. Nein, der wahre Grund ist: Es gibt diese Information gar nicht. Niemand weiß, wer eigentlich wen beeinflusst und wie. Die Quantenwelt ist quasi ein Reich ohne Reihenfolge. Und die Abläufe überlagern einander so, dass Ursache und Wirkung verschwimmen.

Die Quantenphysik fegt somit nicht nur das klassische Bild von „Realität“ hinweg, sondern sie zerstört auch das Präzisionsideal der Physik. Es ist nicht mehr länger sinnvoll, nach der „Weltformel“ zu suchen. Die Gesetze der Quantenwelt verhindern prinzipiell, dass wir jemals in der Lage sein werden, alles über die physikalischen Gegebenheiten der Welt zu erfahren. Carl-Friedrich von Weizsäcker hat diese prekäre Lage so zusammengefasst: „Die Physik erklärt die Geheimnisse der Natur nicht, sie führt sie auf tiefer liegende Geheimnisse zurück!“

Superposition und Verschränkung – jene beiden Quantenphänomene, die „Schrödingers Katze“ gleichzeitig tot und lebendig erscheinen lassen – sind nicht nur theoretisch von besonderer Bedeutung. Sie sind in realen Experimenten – wobei die Rolle der Katze von einem Quant übernommen wird – zweifelsfrei darstellbar. Dies macht den Spuk zwar nicht erklärlich, aber immerhin für praktische Anwendungen nutzbar. Schrödingers Gedankenexperiment hilft die Implikationen zu veranschaulichen.

Zur Superposition: Befindet sich ein Quantenteilchen in einem Zustand mit zwei möglichen Werten, so hat es keinen tatsächlichen Wert, sondern lediglich das Potenzial dazu. Dieser Zustand wird Superposition genannt, da es eine Vielzahl von Wahrscheinlichkeiten gibt, den einen oder anderen der beiden möglichen Zustände einzunehmen. Der Unterschied etwa zum Münzwurf ist also, dass Quanten im Zustand der Superposition eigentlich noch gar keinen Wert wie „Kopf“ oder „Zahl“ besitzen, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten. Das Teilchen kollabiert gewissermaßen erst im Moment der Messung zu einem konkreten Wert.

Katze in der Kiste

Zur Quantenverschränkung: Zwei oder auch mehr Teilchen, die bei ein und demselben Vorgang entstehen, können für immer miteinander verbunden sein. Diese Verschränkung bleibt selbst dann wirksam, wenn die Teilchen räumlich getrennt werden. Jede Zustandsänderung, die in dem einen Teilchen stattfindet, wird sogleich auch vom anderen Teilchen gespiegelt. Und zwar instantan, also ohne jeglichen Zeitverzug und zudem auch noch unabhängig davon, wie weit die Teilchen voneinander entfernt sind. Einstein hielt dies für unmöglich, da die Teilchen ja mit Über-Lichtgeschwindigkeit kommunizieren müssten.

Um Skeptiker wie Einstein, von der absurden Realität der Quantenmechanik zu überzeugen, brachte Schrödinger folgendes Gedankenexperiment in die Diskussion: In einer verschlossenen Kiste befinden sich ein mikroskopisches Quantensystem (radioaktive Strahlungsquelle) sowie zwei makroskopische Objekte – nämlich jene Ampulle mit tödlichem Gift sowie eine Katze. Leben und Tod der Katze hängen nun davon ab, ob ein Quantenereignis – nämlich der radioaktive Zerfall eines Atoms – über einen Mechanismus das Gift der Ampulle freigibt. Der radioaktive Zerfall eines Atoms ist jedoch ein von der Wahrscheinlichkeit beherrschtes Quantenereignis. Und Quanten wie ein zerfallendes Atom sind durch Superposition charakterisiert – also durch verschiedene sich überlagernde Zustände, die einander nicht behindern. Das bedeutet, die Katze kann gleichzeitig tot und nicht tot sein. Vor dem Öffnen der Kiste wissen wir also nichts über den Zustand der Katze, da beide Möglichkeiten in Superposition sind. Welchen Zustand die Katze einnimmt, erfahren wir erst in dem Moment, wenn die Kiste geöffnet wird. Denn die Quantensuperposition wird grundsätzlich erst durch die Messung aufgelöst bzw. zerstört.

Bei „Schrödingers Katze“ spielt zudem auch die Quantenverschränkung eine Rolle. Denn in der Kiste nehmen ja sowohl der Atomkern als auch die Katze jeweils zeitgleich zwei Zustände ein. Wird die Kiste geöffnet, ist also der Atomkern unversehrt oder zerfallen und die Katze tot oder lebendig. Quantenterminologisch ausgedrückt sind also Atomkern und Katze oder deren Superpositionen miteinander verschränkt.

Erstaunlicherweise müssen derart spukhafte Erscheinungen wie Superposition und Verschränkung gar nicht kausal verstanden sein, um Anwendungen zu kreieren. Zur Entwicklung revolutionärer Techniken genügen messbare Realitäten mit einem exakt berechenbaren Wahrscheinlichkeitsrahmen. Daher sind wir auch nur einen Katzen- bzw. Quantensprung von den ersten Anwendungen entfernt.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden vor allem kollektive Quanteneffekte genutzt. Etwa das Zusammenspiel von vielen Atomen, Elektronen oder Photonen (Lichtteilchen) im Laserstrahl oder im Halbleiterkristall. Inzwischen können jedoch auch Einzel-Quantenzustände gezielt hergestellt, präpariert, kontrolliert und für bestimmte Zwecke eingesetzt werden. In der sich nunmehr anbahnende „zweiten Quantenrevolution“ wird also vieles, was bislang Quantentheoretiker für ihre Modellrechnungen und Gedankenspiele nutzten, zur Herstellung neuartiger Produkte führen. Anwendungsfelder sind vor allem die Datenverarbeitung, Kommunikation, Messtechnik und Bildgebung. Es geht um Quantencomputer, Quantensensoren, Quantenverschlüsselung und Mikroskope auf Quantenbasis.

Jene „Verrücktheiten“ der Quantenteilchen werden somit nach und nach Teil unseres Alltags. Ob wir angesichts solch ungeheuerlicher Möglichkeiten nicht selbst „verrückt“ werden, bleibt abzuwarten.

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