Evangelisches Stift Tübingen, Eckzimmer zweiter Stock, Augustinerstube. Im Wintersemester 1790/91 hatten hier drei Stiftler ihre Schreibpulte: Hegel, Hölderlin und Schelling. Geschlafen wurde in Schlafsälen, gelesen, diskutiert und geschrieben an den Stehpulten in dieser Bude. „Reich Gottes“ war die Parole zwischen Hegel und Hölderlin, „Vernunft und Freiheit“ die Losung zwischen Hegel und Schelling.
Ein Sprung: Sommersemester 1978. Die Augustinerstube hieß nun schlicht II 21 und war meine Studentenbude für zwei Semester. Oft habe ich mich gefragt, was wohl die drei da alles miteinander diskutiert haben? Französische revolutionäre Schriften waren mit dabei. Denn im Stift studierten immer auch vier Studenten aus Französisch-Schwaben: Mömpelgard/Monbeliard. Diese schmuggelten das streng verbotene und durch häufige Razzien gesuchte geistige Gift nach Tübingen – französische Revolutionsschriften – und versteckten diese im Garten nahe den Stocherkähnen. Auf den Buden wurden sie gelesen und heiß diskutiert.
Oktober 2019: Noch bis zum 16. Februar 2020 lebt diese Studenten-WG wieder auf. „Hegel und seine Freunde. Eine WG-Ausstellung“ im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar. Eine geniale Ausstellung. Denn die Kuratorinnen Heike Gfrereis und Sandra Richter haben in Hegelischer Manier mit der These: „Marbach hat fast nichts von Hegel“ – gegenüber die Antithese „ Hegel wirkt bis heute. Wir haben alles im Archiv“ – eine Synthese geschaffen: „ Lasst die Besucher selber Hegel denken.“ Und Hegel „denken“ ist ein Prozess. An zwölf Stationen hat nun der Besuchende Gelegenheit, in die Welt Hegels einzutauchen, seine Freunde kennen zu lernen und dabei seine eigene Gedankenwelt daraus zu entwickeln.
„Wer bin ich?“. Bei Hegel beginnt philosophisches Denken bei einem selbst. Also steht am Eingang eine Foto-Box und bietet Gelegenheit für ein Selfie. Das Selbstporträt wird eine These. Aber schon die Wahl, mit vielen Filtern das eigene Bild vor dem Druck zu verändern, schafft Möglichkeit für eine Antithese zu sich selbst. Einen Schritt weiter steht der oder die Besuchende vor einem Billardtisch. Er oder sie darf spielen. Nicht nur, weil Hegel selbst gern Billard gespielt hat. Aber Vorsicht!. Die Kugeln haben alle Namen. „Natur“, „Raum und Zeit“, „Freiheit“, „Widerspruch“. „Absolutes“ – um nur ein paar zu nennen. Wer stößt wen an? Wer spielt über Bande? Ist das noch Billard? Eigentlich Philosophie.
Mittelpunkt der Ausstellung sind Versuchsstationen mit zwölf alten Overhead-Projektoren, deren Glasscheiben man bespielen kann. Figuren, Farben, Texte – hier kann man Phänomene des Geistes spielerisch basteln. 1 100 mal hat Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ den Begriff „Bewußtsein“ benützt.
Um die zentrale Installation herum: Tische und Hocker mit Namen. Es sind die gekennzeichneten Hocker der geistigen Mit-WGler: Schiller, Goethe, Hölderlin, Schelling, David Friedrich Strauß, Mörike, Heine, Kafka, Hesse, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Robert Gernhardt und viele mehr. Sie alle haben sich mit Hegel auseinandergesetzt, Bernhard Vesper sogar im lsd-Rausch. Seine Zeichnung zu Hegel ist natürlich im Original zu sehen.
Überall gibt es Gelegenheit, sich kreativ mit Hegels Ansichten auseinander zu setzen und selbst Antworten zu finden, schreiben, malen und zu gestalten. Vielleicht fällt ja jemandem zu Hegels Satz „Die Geschichte ist ein Prozess, in dem sich allmählich die Vernunft verwirklicht!“ in der heutigen Welt zwingend das Gegenteil ein? Als Antithese sozusagen. Was aber ist dann die Synthese? Und wo stehen heute die Schreibpulte, an denen Antworten diskutiert werden?
Die Ausstellung ist noch bis zum 16. Februar 2020 im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar zu sehen. www.dla-marbach.de