Sinnhaft ganz und gar nicht, aber auch nicht sinnlos: Die mass incarceration, das massenweise Wegsperren von US-Bürgern ist echte Perversion, schickt die seit den 1980-ern etablierte Praxis doch vor allem Schwarze hinter Gitter, sehr oft für Bagatelldelikte. Dass dies Rassendiskriminierung und -trennung, mithin also die Sklavereigesellschaft fortschreibt, ist eine Binse. Immerhin, mag man da zynisch einwenden, wurden die Eingesperrten nicht gleich von Polizisten oder besorgten Bürgern erschossen, siehe #BlackLivesMatter. Himmelschreiendes Unrecht, das trotz inzwischen lautem Protest auf den im Nilschilf versteckten Mose zu warten scheint, der dem Pharao-System, wenn schon nicht das Haupt abschlägt, so doch den Weg zum Ersaufen weist.
Die Ohnmacht jedenfalls ist groß, aber die Reihen werden breiter: Mit Trapped in the American Dream, einem Song, der bereits in der melancholischen, dann dramatisch gesteigerten Musik und noch mehr in den Rap-Lyrics von Kassa Overall ergreifend das Lauern von Polizei, Gerichten und Stigma spürbar macht, beginnt Waiting Game von Terri Lyne Carrington und ihrer Band Social Science insofern emblematisch. Zwar war die Trommel-Ikone, Komponistin und Produzentin („Von mir ist überliefert, dass ich als Kind immer gesagt haben soll: Jazz macht mich glücklich.“) schon zuvor markant politisch – aber Waiting Game hebt das auf eine neue Ebene. Den Ausschlag gab, sagt sie, der Tag danach, nach Trumps Wahl. Und sie wollte in einer Band sein. Sie tat sich mit Musikern verschiedener Pigmentverteilung zusammen, mit denen sie bereits arbeitete und die mit ihr die Ansicht teilen, der Kampf gelte allen Aspekten der Ungleichheitspolitik zugleich. Sie haben denselben Nenner. Neben mass incarceration haben die Songs von CD 1 nun Homophobie, Genozid an US-Ureinwohnern, Polizeigewalt, politische Häftlinge und Gendergleichheit als Themen, je mit Rappern und Spoken Words-Künstlern als Gastinterpreten. Musikalisch, wie die Band, zwischen HipHop, Jazz, freier Improvisation, World- und Indie-Music.
Das Ergebnis frappiert, mal eingängig, swingend, poppig, gewöhnungsaffin schräg oder erstaunlich, in der Summe beeindruckend: Ein Gegenpart zum herrschend konformen Mainstream. Stark. Hinzu kommt CD 2 mit der Suite Dreams and Desperate Measures, in veränderter Besetzung eingespielter Beweis dafür, dass Jazzkomposition auf Basis freier Improvisation in Räume führt, die dem Pharao-System den Zahn ziehen. Man muss, nein, darf bloß hinhören. Wer da Sorge hat, sei beruhigt: Das Album hat zwar politically explicit lyrics, ist aber weder militant noch biblisch. Doch den Kampf erspart es nicht. Jazz als Musik und soziale Praxis at its best.
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.