Erstaunlich aktuell

Niemöllers Konversionspläne

Irgendwie wusste man ja, dass Martin Niemöller in seiner Einzelhaft im KZ Sachsenhausen mal katholisch werden wollte und dass er dort auch geschrieben hat. Nun wurde dieses Manuskript ans Licht gebracht – im wahrsten Sinne des Wortes, vom Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: vielleicht keine wissenschaftliche Sensation, aber doch ein besonderer Fund, mit dem der Lesende Forschungsneuland betreten kann, hochspannend, nicht nur für Fachleute.

Es ist der Verdienst von Alf Christophersen, Professor für Systematische Theologie in Wuppertal, und Benjamin Ziemann, der als Professor für Neuere Deutsche Geschichte in Sheffield lehrt, die diese Schrift Niemöllers editiert haben und mit ihr die Konversionspläne Niemöllers im biographischen und historischen Kontext wissenschaftlich erklären. Dass theologische und historische Deutung hier gemeinsam arbeiten, ist für die Lesenden ein Gewinn. Bei allem Spezifischen, das das Thema auf den ersten Blick enthält, ist es doch gut verständlich und übersichtlich aufgearbeitet: In der das Manuskript kommentierenden Einleitung werden die Konversionspläne Niemöllers im KZ beschrieben, die er anlässlich seiner vom Konsistorium geplanten Versetzung in den Wartestand 1939 zwei Jahre lang ernsthaft erwog.

Seine Absicht – das zeigen die Herausgeber überzeugend – war mehr als der Ärger über seine Amtskirche, die ihn fallen zu lassen drohte, und auch nicht nur die Einsamkeit der Einzelhaft, sondern ein komplexes Geschehen, das von der Anziehungskraft katholischer Frömmigkeit und der Aufweichung der konfessionellen Gegensätze in der Verfolgungszeit gefördert wurde. Letztlich hat es Else Niemöller – mit argumentativer Unterstützung theologischer Freunde – verhindert. Die Ehefrau warf dafür alle Kraft ehelicher Liebe gepaart mit Trotz und Streit in die Waagschale.

Zur Begründung seiner Konversionspläne also begann Niemöller am
21. August 1939 seine damaligen theologischen und kirchengeschichtlichen Überlegungen in „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“ niederzulegen. Niemöller kritisiert in ihr die lutherische Unterscheidung zwischen „sichtbarer“ und „unsichtbarer“ Kirche, auch die Zwei-Reiche-Lehre führe zum Doppelleben. Er greift frontal die lutherischen Landeskirchen an, denen er abspricht, überhaupt noch Kirche zu sein. „Was wir hier vor uns haben, ist wie ein Muschelgehäuse, in dem es seltsam rauscht und braust, aber – es ist leer, ganz und gar leer.“

Erstarrt in den Bekenntnisschriften, anstatt sich vom Geist der Apostel treiben zu lassen, sollen sich die evangelischen Landeskirchen auf die apostolische Sukzession besinnen. Gewiss kann man verstehen, dass Niemöller sich wünscht, die Kirche möge in Verfolgungszeiten mit einer Stimme reden, hatte er doch beobachtet, wie die Kirche zum „Spielball der weltlichen Herren“ wurde, nach Niemöller das Erbe des Summepiskopats. So wünscht er sich eine Art päpstliche Autorität für die Bekennende Kirche, in der er eher ein „Notdach“ für alle sieht, die nicht zur römisch-katholischen Kirche gehören wollen. Auch das „Sola Scriptura“ als evangelisches Grundprinzip wird in Frage gestellt und der Wert der Tradition bekannt, die das „organische Fortleben der Kirche und ihre lebendige Weiterentwicklung“ garantiert.

Bei seiner Argumentation benutzt Niemöller das Neue Testament als Steinbruch nach der Weise „spätpietistischen Biblizismus“ und teilt immer wieder Seitenhiebe gegen die wissenschaftliche Theologie aus, ohne sich jedoch mit ihren Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Die Edition geht den weisen Weg, ihn damit nicht zu widerlegen, sondern „die besondere Entstehungssituation“ und „die spezifische Intension des Textes“ zu würdigen, „wodurch seine ganz eigene Qualität zum Ausdruck kommen kann“: eine für die Ekklesiologie des Kirchenkampfes der Bekennenden Kirche relevante Schrift und in vielem erstaunlich aktuell.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Sabeth Stickfort

Marion Gardei

Marion Gardei ist Beauftragte für Erinnerungsarbeit der Evangelischen Kirche Berlin-schlesische Oberlausitz. Sie wohnt in Berlin.


Ihre Meinung


Weitere Rezensionen