Der Rückfall
Der Rechtsruck in der Gesellschaft ist unübersehbar in der Kirche angekommen. Dies bezeuge der umstrittene Nahost-Vortrag des bisherigen Greifswalder Bischofs Hans-Jürgen Abromeit, meint Sebastian Engelbrecht. Der Theologe und Journalist war fünf Jahre für die ARD in Tel Aviv und ist seit 2019 Korrespondent im Landesstudio Berlin und im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks.
Der Vortrag „Zwei Völker – ein Land. Eine biblische Vision für Frieden zwischen Israel und Palästina“, den der kürzlich aus dem Amt verabschiedete Bischof Hans-Jürgen Abromeit am 1. August bei der Jahreskonferenz der Deutschen Evangelischen Allianz im thüringischen Bad Blankenburg vortrug, ist eine theologisch-politische Verirrung. Es scheint, als wolle einer das Rad der Theologiegeschichte mindestens um vierzig, wenn nicht um 75 Jahre zurückdrehen. Alle Fortschritte, die drei Generationen von Theologinnen und Theologen in Deutschland und Europa seither im Verhältnis zwischen Kirche und Israel erzielt haben, werden mit diesem Text ignoriert und bewusst negiert. Das ist erstaunlich, denn die Theologie des jüdisch-christlichen Dialogs ist seit den Sechzigerjahren ins allgemeine kirchliche Bewusstsein eingegangen, in die Präambeln von Grundordnungen und Kirchenverfassungen.
Um das Ausmaß der Verirrung zu erkennen, reicht es allerdings nicht aus, die gewohnt plakative Rezeption des Vortrags durch die Bild-Zeitung am 5. August zu beobachten: „Skandal um Anti-Israel-Rede von deutschem Bischof“. Das Blatt stieß sich vor allem an Abromeits Formulierung, „aus dem Schuldbewusstsein der Deutschen“ folge eine „Überidentifikation mit dem Staat Israel“. Es lohnt sich, den Vortrag selbst im Einzelnen unter die Lupe zu nehmen, um den theologischen Sündenfall zu erkennen, der dieser Spitzenformulierung vorausgeht und logisch auf sie zuläuft. Dazu zehn Beobachtungen:
1. Warum heute? „Seit Jahrzehnten kommt der Nahe Osten nicht zur Ruhe“, beginnt Abromeit. Zu erwarten wären Ausführungen über die Kriege in Syrien, im Jemen und in Libyen, die seit 2010 hunderttausende Tote gekostet haben und für die es bis heute keine Lösung zu geben scheint. Zugleich sorgen sich die Europäer angesichts einer möglichen Konfrontation zwischen Iran und den Vereinigten Staaten im Persischen Golf. In diesem Sommer dominierte Angst vor einem Krieg zwischen diesen beiden Staaten die politische Szenerie im Mittleren Osten. Hans-Jürgen Abromeit aber richtet bei einer Konferenz unter dem Thema „Hoch und Heilig“ den Blick auf die Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten.
Das ist recht und billig, es bleibt aber die Frage: Warum gerade jetzt? Welche drängende Herausforderung rückt dieses Thema gerade jetzt in den Vordergrund? Das wird erst deutlich, wenn man den ganzen Vortrag gelesen hat. Der Autor hält die Zeit für gekommen, Israel und den Juden endlich einmal zuzurufen, „was gesagt werden muss“, im Geiste der Verirrung von Günter Grass im Jahr 2012. Es ist die politische Großwetterlage in Deutschland, die Abromeit zu diesem Schritt ermutigt haben dürfte.
2. Israel als Problem: Abromeit stellt in einem ersten – politisch-historischen – Teil seines Vortrag die „Genese“ des Nahost-Konflikts dar, erklärt im zweiten Abschnitt, warum Frieden nicht möglich ist, und fügt im dritten Teil eine „biblische Vision“ zur Lösung des scheinbar ewigen Konflikts hinzu.
Im zweiten Gedankengang („Ist Frieden möglich?“) führt der Bischof die Gründe auf, „die Frieden in Israel-Palästina fast unmöglich erscheinen lassen“, über den Lauf der Geschichte hinaus. Unter den „weiteren Belastungen“ nennt Abromeit den „europäischen Nationalismus“, „das Erbe kolonialistischer Machtpolitik“ und den „Staat Israel als Sekundärfolge der Shoa“. Diese Systematik macht stutzig. Die Gründung Israels ist also Grund für den Unfrieden in Nahost. Die mit dieser Systematik gegebene Logik lautet: Israel ist ein Problem. Wäre Israel nicht, wäre Frieden.
Auf Jesu Satz berufen
3. Rückfall in Zeiten vor dem Rheinischen Synodalbeschluss: Schon an diesem Grundriss des Vortrags wird deutlich, dass Abromeit sich nicht auf die Theologie des Epoche machenden Synodalbeschlusses „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 einlassen will. Darin ist von der „Einsicht“ die Rede, „daß die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“. Die Gliedkirchen der EKD haben sich diese Theologie in Grundordnungen, Verfassungen oder Grundsatztexten zu eigen gemacht. In der Verfassung von Abromeits Nordkirche heißt es: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel.“
Statt dieser Linie zu folgen, beruft sich Abromeit auf Jesu Satz gegenüber der Samaritanerin in Johannes 4,24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Abromeit fügt hinzu: „Gott bindet sich nicht an ein bestimmtes Territorium.“ Das Neue Testament, schreibt er, hebe „die Bindung eines bestimmten Volkes an ein bestimmtes Land“ auf. Scharf formuliert Abromeit: „Es kann aus christlicher Sicht auch deswegen keine religiöse Legitimation für einen bestimmten Staat geben, auch nicht für Israel“. Mit anderen Worten: Die Wahrheit des Neuen Testaments übertrifft alles im Alten Testament Gesagte. Mit Jesu Geist-Theologie ist nach Abromeit jegliche Bindung an das Land Israel hinfällig.
4. Der Fehler des Zionismus: Damit spricht Abromeit Israel als Christ die Legitimität ab. Die politische Delegitimation wird mitgeliefert. Der Bischof aus Greifswald dekretiert, es sei ein „Geburtsfehler des Zionismus“ gewesen, dass er nicht dem Religionsphilosophen Martin Buber gefolgt sei, der die Vision eines binationalen Staates verfolgt habe, eines Staates also für Juden und Araber. Stattdessen hätten sich Theodor Herzl und die Zionisten für einen „jüdischen Nationalstaat“ entschieden.
Zu den siegreichen Zionisten zählt Abromeit die „Vordenker der Siedlungsbewegung“, Rav Kook und seinen Sohn Zvi Yehuda Kook, auf die sich die nationalreligiöse Siedlerbewegung zum Teil beruft („Gush Emunim“).
Ohne jede Differenzierung endet der Abriss der Geschichte des Zionismus bei einem Rechtsausleger der israelischen Siedlerbewegung. Abromeit diskreditiert damit den Zionismus insgesamt auf unseriöse Weise.
5. Die Überlegenheit des Neuen Testaments: In seiner „biblischen Vision“, die er zur Lösung des Nahostkonflikts anbietet, diskreditiert Abromeit jene Teile des Alten Testaments, die von einer exklusiven Erwählung Israels sprechen. Als Beispiel für diese partikularistische Theologie nennt er 5. Mose 7, 1–5.22, wo sich „furchtbare Aufforderungen zur Vernichtung aller Mitbewohner“ der Israeliten in ihrem Land fänden. Nachdem er sich vom Partikularismus des Alten Testaments distanziert hat, preist der Mecklenburger Bischof die universalistischen Prophezeiungen von Jesaja, Hesekiel und Micha, die das „gemeinsame Wohnen“ der Völker im Lande vor Augen hätten (ein „Leben in Vielfalt“).
Kanon auf Propheten beschränkt
Abromeits Kanon beschränkt das Alte Testament auf die Propheten, um ungehindert die theologische Überlegenheit des Neuen Testaments herauszustellen. Die Theologie des Eretz Israel, die sich wie ein roter Faden durch weite Teile der Hebräischen Bibel zieht, wird kurzerhand als illegitim ausgeschlossen.
6. Vermischung von Politik und Religion: Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland hat in ihrer Stellungnahme vom 7. August zu Recht darauf hingewiesen, dass Abromeit sich bei der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik in seinem Vortrag in Widersprüche verwickelt. Den nationalreligiösen Zionisten spricht er das Recht ab, sich bei der Besiedlung des palästinensischen Westjordanlandes auf die Thora zu berufen. Abro-meits Vortrag selbst aber ist ein Dokument der religiösen Deutung politischer Verhältnisse. Er selbst empfiehlt die alttestamentlichen Propheten, das Neue Testament und die Gewaltlosigkeit Jesu als Richtschnur zur Lösung des Konflikts.
7. Israel und Judentum sind eins: Gefährlicher sind andere Unschärfen. Im dritten Kapitel zur „biblischen Vision“ mengt Abromeit ständig die Begriffe „Israel“ und „Judentum“ durcheinander. Es wird nicht mehr deutlich, ob die Sicht der Autoren des Alten Testaments, des historischen Volkes Israel oder des „heutigen Judentums“ gemeint sind. Letzterem empfiehlt er, „auch auf die Stimme der Propheten zu hören, die im Miteinander von Israel und den Völkern im Lande einen verheißungsvollen Weg sehen“.
8. Palästinensisches Leid: Undifferenziert und holzschnittartig stellt Abromeit auch die Situation der Palästinenser dar. Deren Mehrheit sei unter israelischer Besatzung geboren und habe „niemals etwas anderes als Unterdrückung erlebt“. Das sei „eine schwere Bürde für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und palästinensischer Eigenverantwortung“. Wie ist es dann zu erklären, dass im Westjordanland und im Gaza-Streifen 14 Universitäten existieren, die alle ausnahmslos in Zeiten israelischer Besatzung gegründet wurden? Zudem bestehen im Westjordanland die Ministerien der Palästinensischen Autonomiebehörde – ein staatsähnliches System, das trotz Besatzung weite Teile des öffentlichen Lebens verwaltet. Und auch im Gaza-Streifen ist es nicht der Staat Israel, der die „Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen“ verhindert, sondern das totalitäre System der islamistischen Hamas.
9. Beten als Ziel: Und was ist das Ergebnis von Abromeits abenteuerlichem Ritt durch zwei Testamente, die Geschichte Israels, des Judentums und der Palästinenser? Er schreibt am Ende zur Wirkmächtigkeit der „christlichen Überzeugung“ im Prozess der „Überwindung des Konfliktes“: „Natürlich sind wir realistisch, unsere persönliche Überzeugung ist wichtig, aber trägt allein nicht viel aus.“ Und ganz am Ende bekennt Abromeit: „Viel können wir von Deutschland aus nicht tun. Aber wir können für einen gerechten Frieden beten.“ Der Leser fragt sich, wozu der schweißtreibende Gedankengang des Bischofs taugen soll, wenn am Ende das Gebet doch mehr hilft?
10. Die eigentliche Botschaft: Die eigentliche Botschaft ist eine andere. Kurz vor dem Ende seiner langen Amtszeit als Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche in Greifswald (2001 – 2012) und des Sprengels Mecklenburg und Pommern der Nordkirche (2012 – 2019) redet
Abromeit Tacheles. Er bricht mit der Theologie des jüdisch-christlichen Dialogs. Israel stellt er als historisches Problem hin, den Zionismus als von Geburt an fehlerhaft, das Alte Testament als ein Glaubenszeugnis, das über weite Strecken von einer Ideologie des Hasses geprägt ist. Zwischen den Zeilen lese ich: Wozu also gibt es diese Religion, dieses Volk, dieses Land noch? Unausgesprochen rechtfertigt dieser Text die Judenmission. Der einzig legitime Glaube bleibt am Ende der an den gewaltlosen, armen Jesus. Er steht für Liebe, Anbetung im Geist, Erhabenheit über weltliche Territorialstreitigkeiten. Für ein lebendiges Judentum, geschweige denn für einen Dialog mit diesem Judentum bleibt da kein Platz.
Hoffentlich keine Nachahmer
Fazit: Es bleibt zu befürchten, dass die theologisch-politische Irrfahrt des Bischofs zum Ende seiner Amtszeit gewollt war und dass sich Abromeit vom Geist der Zeit und seiner Hörerschaft dazu ermutigt sah. Es bleibt zu hoffen, dass sein Versuch, einen beispiellosen theologischen Fortschritt im Verhältnis zwischen Kirche und Judentum wieder zunichte zu machen, keine Nachahmer findet. Denn der Bischof kehrt zu einer Theologie zurück, die das historische wie auch das heutige Israel allein vom Neuen Testament her deutet. Für diese Theologie ist auch das lebendige Judentum überflüssig – es hat seinen Platz als Missionsobjekt. Genau diese überwunden geglaubte Theologie gehörte zu den Wegbereitern der Shoah.
Den umstrittenen Vortrag von Hans-Jürgen Abromeit finden Sie im Wortlaut unter www.zeitzeichen.net/node/7752.
Dort steht auch die Erklärung der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.
Sebastian Engelbrecht
Sebastian Engelbrecht ist Journalist und Kirchenhistoriker. Er lebt in Berlin.