Wider die gefährliche Spaltung

Warum Deutschland eine gerechtere Verteilung des Reichtums braucht
Foto: akg
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„Justitia“, Mosaik im Markusdom in Venedig, 13. Jahrhundert.

Ist der Kapitalismus gerecht? Natürlich nicht. Aber man kann ja nichts dagegen machen. Oder  vielleicht doch? Der Ökonom, Wirtschaftspublizist und langjährige Chefredakteur der Zeitschrift  Publik Forum, Wolfgang Kessler, will die Suche nach substanziellen Verbesserungen nicht aufgeben  und erhebt in seinem Essay vier Forderungen, um die ärgerlichsten Ungerechtigkeiten unseres Sozial- und Gesellschaftssystems anzugehen.

Eigentlich sind alle Deutschen für mehr Gerechtigkeit, an den Stammtischen, im Deutschen Bundestag oder auf der Kanzel. Doch wenn konkret über Vermögen, Armut, Hartz IV oder Niedriglöhne diskutiert wird, ändert sich oft die Stimmung. Plötzlich wird abgewiegelt, relativiert und schöngeredet. Vor der letzten Bundestagswahl plädierten 45 Prozent der Wahlberechtigten für mehr Gerechtigkeit. Bei der Wahl selbst war das Ziel aber nur für 25 Prozent ausschlaggebend. So wird ständig über Gerechtigkeit geredet, aber wenig dafür getan. Und genau das ist gefährlich.

Zugegeben, noch immer verhindert der Sozialstaat in Deutschland die schlimmste Not. In bestimmten Bereichen gab es positive Veränderungen: ein gesetzlicher Mindestlohn, ein Rechtsanspruch auf Kitabetreuung, ein auf Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichtetes Behindertenrecht, Verbesserungen für Mütter in der Rente. Weitere Veränderungen wie eine Grundrente sind angedacht. Wer allerdings behauptet, dass diese Bausteine des Sozialstaates und die gut laufende Wirtschaft schon eine gerechte Gesellschaft garantieren, lässt sich täuschen oder will täuschen.

Vermögen ungleich verteilt

„Nirgendwo sonst in der Eurozone sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland“, sagt der Ungleichheitsexperte Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Nach den Erhebungen seines Instituts hat sich das Nettovermögen der Deutschen von 1996 bis 2016 verdoppelt. Doch die reichsten zehn Prozent der Deutschen besitzen jedes Jahr mehr davon, 2017 waren es rund zwei Drittel.

Auf der anderen Seite leben mehr als 15 Prozent der Bevölkerung, also etwa 13 Millionen Menschen, in prekären Verhältnissen. Besonders betroffen sind Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinderreiche und jene neun bis zehn Millionen Menschen, die prekär beschäftigt sind. Von Armut bedroht sind auch 21 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, schreibt die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie. Die Zahl der Menschen, die auf Lebensmittel von Tafeln angewiesen sind, stieg von 500 000 im Jahre 2005 auf 1,5 Millionen im Jahre 2015.

Die geballte Konzentration des Reichtums teilt die Menschen weiter in Gewinner und Verlierer. Längst beherrschen Megafonds wie Black Rock, der schwarze Fels, die Finanzwelt. Diese Fonds verwalten das Geld reicher Institutionen und Anleger weltweit – im Falle von Black Rock ist das mehr Geld als das Bruttoinlandprodukt aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen. Dieses Kapital investieren sie in alle Bereiche, die eine nachhaltige Rendite versprechen: In Deutschland erwarben solche Kapitalfonds allein 2017 rund fünf Prozent aller Pflegebetten und viele Krankenhäuser. Sie spekulieren mit Ackerland vor allem in Ostdeutschland, erwerben auf einen Schlag tausende Wohnungen. Immer treiben sie die Renditen, die Preise, die Miete in die Höhe, damit ihre Anleger profitieren: Umverteilung zugunsten der Vermögenden.

Schwer belastet ist auch die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Zwar scheinen die Staatsschulden einigermaßen im Griff – aufgrund der niedrigen Zinsen. Für die ökologische Schuld gilt dies nicht. Die älteren Generationen haben eine Wirtschaftsweise und einen Lebensstil zur Perfektion entwickelt, der den jüngeren Generationen die Zukunft raubt: Der ökologische Fußabdruck der Deutschen, ihr Umweltverbrauch, ist fünfmal so hoch wie er sein dürfte, um allen Menschen weltweit das gleiche Lebensniveau einzuräumen. Damit verzehren sie die Welt der Jüngeren und heizen sie auf. Wer kann da von Generationen-Gerechtigkeit reden?

Bleibt die Frage: Warum gibt es angesichts dieser Fakten kaum gesellschaftliche und politische Offensive für mehr Gerechtigkeit? Die Antwort: Weil eine ehrliche Debatte über die soziale Entwicklung an den Machtverhältnissen in dieser Gesellschaft rüttelt und die Politik der vergangenen Jahrzehnte und das herrschende Denken und Fühlen grundlegend hinterfragen würde. Auch das Denken und Fühlen vieler Bürger. Die überwiegende Mehrheit in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft orientiert sich am marktradikalen Denken. Danach ist der freie Markt effizienter als der Staat; privat ist wirtschaftlicher als öffentlich; Gewinne schaffen Arbeit, Löhne sind Kosten. Man müsse die fettesten Pferde füttern, damit auch für die Spatzen mehr Pferdeäpfel abfallen, sagte die frühere Premierministerin Margaret Thatcher. Diese Pferde-Spatz-Philosophie hat die Welt revolutioniert.

Die deutsche Politik ist diesem marktradikalen Denken nicht so konsequent gefolgt wie die Regierungen der USA oder Großbritanniens. Doch auch hierzulande glauben viele Politikerinnen und Politiker: Was gut ist für die Privatwirtschaft, ist gut für alle. So bleibt die Vermögenssteuer ausgesetzt, nachdem das Bundesverfassungsgericht sie in den Neunzigerjahren verworfen hatte. Der Spitzensteuersatz wurde von 53 Prozent unter Bundeskanzler Helmut Kohl auf 42 Prozent gesenkt, ebenso die Steuern für Kapitalgesellschaften. Ehemals staatliche Unternehmen wurden privatisiert. Auf dem sozialen Sektor wurden private Anbieter in den Neunzigerjahren mit öffentlichen oder kirchlichen Anbietern gleichgestellt. Das Kosten-Nutzen-Denken drang in alle Lebensbereiche ein. Es zählt vor allem, wer und was sich rechnet. In ihrem Buch „Wessen Stimme“ (2018) weist die Sozialwissenschaftlerin Lea Elsässer von der Universität Duisburg-Essen nach, dass die Politik seit den Achtzigerjahren obere Einkommens- und Berufsgruppen begünstigt. Wirtschaftspolitik ist Politik für die Wirtschaft.

Und die Bürger? Auch sie sind längst nicht so von Zielen wie Gerechtigkeit oder Solidarität beseelt wie sie oft vorgeben. Das ergab eine Umfrage des Demoskopie-Instituts Allensbach von Ende 2017, die die Befindlichkeit der heute 30- bis 59-Jährigen untersucht. Danach bezeichnen 72 Prozent der Befragten ihre eigene Lage als „gut“. Mehr als 70 Prozent der Befragten glauben jedoch, in Deutschland habe die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen drei bis vier Jahren zugenommen. 64 Prozent empfinden die Verteilung von Vermögen und Einkommen als nicht gerecht.

Gleichzeitig lehnt eine Mehrheit die Einführung einer Vermögenssteuer für Reiche oder die Anhebung des Spitzensteuersatzes für Gutverdiener ab. Auch für die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes oder für einen höheren Mindestlohn ist die Mehrheit der Befragten nicht zu haben. Diese Umfrage zeigt: Die relativ gute wirtschaftliche Lage der überwiegenden Mehrheit der Bundesbürger verstärkt auch den Egoismus. Nach dem Motto: Gerecht ist, was mir gerecht wird. Nicht zuletzt deshalb ist der Umgang mit dem viel beschworenen Ziel der Gerechtigkeit äußerst widersprüchlich: Es wird geredet und gefordert, aber wenig getan.

Die Folgen sind längst spürbar: Die Zukunftsangst wächst bis hinein in die Mitte der Gesellschaft. Sie wird umso größer, je näher große Veränderungen wie die Digitalisierung oder die Ökologisierung der Gesellschaft rücken. Beide Entwicklungen bieten durchaus Perspektiven für eine humane und nachhaltige Entwicklung – doch nur, wenn sie gerecht ablaufen. Wenn diese Veränderungen jedoch auf eine gespaltene Gesellschaft treffen, in der jeder gegen jeden kämpft, wird die Verrohung weiter zunehmen, die Deutschland bereits erlebt: eine Verrohung, die mit Beleidigungen im Internet beginnt und sich zu Intoleranz und täglichen Aggressionen ausweitet. „Wo die Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen systematisch und dauerhaft verletzt wird, da wird dieses Gemeinwesen krank, da gedeihen Unduldsamkeit, Hass und Gewalt“, sagt auch der ekd-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. Für den französischen Ökonomen Thomas Piketty, Autor des Buches „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, bedroht „mehr Vermögen in wenigen Händen die Demokratie. Der Einfluss der Vermögenden wird größer, der der Bevölkerung geringer.“

Die Kluft wird größer

Dazu kommt noch eine weithin unterschätzte Gefahr: Die zunehmende soziale Ungleichheit ist auch ökonomisch gefährlich. Denn „die Unternehmen haben viel Geld. Der zusätzliche Reichtum wird jedoch immer weniger investiert, er landet auf dem Casino der Finanzmärkte“, sagt der Unternehmer und Millionär Josef Rick. Die Kluft zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut wird größer: Während Milliarden verspekuliert werden, regnet es in Schulen hinein, wird immer weniger Geld in Bahngleise, Radwege und Pflegeplätze investiert.

Aus diesen Gründen wird es Zeit für eine mutige politische und gesellschaftliche Offensive von politischen Parteien, Gewerkschaften, Basisgruppen und kirchlichen Organisationen, die den Benachteiligten durch ihre christlichen Ideale auf besondere Weise verpflichtet sind. Erfolgsversprechend wird diese Offensive, wenn sie vier Forderungen auch gegen den Widerstand mächtiger Interessen und gegen angebliche Sachzwänge der Wirtschaft durchsetzen.

Erstens: Eine Umverteilung des Reichtums – national und international. Gerechtigkeit erfordert den Mut der Verantwortlichen zu einer Vermögensabgabe, zu höheren Steuersätzen für höhere Einkommen, zu einer echten Besteuerung hoher Erbschaften und der Spekulation. Dann kann der Staat mehr in die Zukunft investieren: in Forschung und Entwicklung; in Bahn, Rad und Busse, in eine umweltverträgliche Energiewende, in sozialverträgliche Wohnungen, in Gesundheit und Pflege. Nur mit höheren Einnahmen kann der Staat Benachteiligte besser absichern, Armut auf allen Ebenen bekämpfen, Familien fördern und Flüchtlinge so integrieren, dass am Ende nicht immer mehr Probleme entstehen, sondern weniger. Diese Politik der Umverteilung muss auch in der Europäischen Union abgesichert werden: indem Steueroasen ausgetrocknet, in allen EU-Staaten Mindeststeuern für Konzerne eingeführt, eine Finanztransaktionssteuer erhoben und alle Finanzämter anderen Finanzämtern Auskünfte über Steuerflüchtlinge erteilen. Dann wird auch Europa gerechter.

Zweitens: Befreiung aus dem Zwang zur Rendite. Da die Regierungen einst die Grundversorgung in Deutschland privaten Investoren geöffnet haben, müssen sie die Lücken wieder schließen. Bildung, Gesundheit, Pflege, der Wohnungsmarkt, der Boden oder auch die Daten der Bürger dürfen nicht einfach den Gesetzen des Marktes oder gar der Spekulation unterworfen werden. Deutschland braucht keine Staatswirtschaft. Doch in zentralen Lebensbereichen dürfen die Menschen nicht dem Zwang zur Rendite unterworfen werden – schon gar nicht, wenn sich diese Gesellschaft als gerecht bezeichnet.

Drittens: Generationen-Gerechtigkeit. Politik für die kommenden Generationen erfordert eine Abkehr von einer pauschalen Politik des „Immer mehr“. Eine zukunftsfähige Wirtschaft erfordert von manchem weniger: viel weniger Verbrennung von Öl, Kohle und Gas; weniger Autos; weniger Flugzeuge, weniger Wegwerfkonsum; weniger Transport; weniger Fleisch, weniger globale Produkte. Andererseits darf es von manchem auch viel mehr als heute sein: mehr Erneuerbare Energien, mehr Güter-Teilen wie Car-Sharing; mehr reparieren statt wegwerfen; mehr renovieren statt abreißen; mehr langlebige Waren statt Wegwerfprodukte; mehr Zeit durch kürzere Arbeitszeiten statt höherer Löhne; mehr Radwege, Bahnen und Busse; mehr regionale Produkte mit weniger Transportaufwand – und mehr Solidarität. So entstehen die Grundlagen einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, die auch künftigen Generationen ein würdevolles Leben ermöglicht.

Viertens: Beziehungen zwischen Menschen stärken. Geld alleine garantiert noch nicht, dass sich die Menschen gerecht behandelt fühlen. Angesichts der zunehmenden Anonymisierung wird es immer wichtiger, alles zu fördern, was die Beziehungen zwischen Menschen stärkt. Familien, gemeinsames Wohnen, Mehrgenerationenhäuser, Vereine, Nachbarschaften, Kirchengemeinden, Räume für Ärmere, Hilfe für Alleinerziehende. Oft reichen kleine Förderbeträge für große Initiativen, damit sich die Menschen wieder wahrgenommen fühlen.

Werden die Menschen glücklicher, wenn die Steuern steigen und Einkommen und Vermögen gleichmäßiger verteilt sind, oder regiert dann erst recht der Neid? Das werden viele Kritiker fragen. Die Wissenschaft gibt darauf eine klare Antwort: Am glücklichsten sind die Menschen in Norwegen, Dänemark, Finnland und Island. Also in Ländern mit eher geringen Einkommensunterschieden, höheren Steuern und einem hohen Maß an sozialer Sicherheit. Genau dafür lohnt es sich zu streiten.

 

Von Wolfgang Kessler ist jetzt das Buch „Die Kunst, den Kapitalismus zu verändern“ erschienen. Publik-Forum Verlag, Oberursel 2019, 130 Seiten, 15 Euro.


 

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