Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie

Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer
Greta Thunberg auf einer Kundgebung in Hamburg, Juli 2019.
Foto: epd
Greta Thunberg auf einer Kundgebung in Hamburg (Juli 2019), Foto: epd

Der Nürnberger Theologieprofessor Ralf Frisch macht sich anlässlich der Atlantiküberquerung per Segelboot von Klima-Ikone Greta Thunberg Gedanken, ob die von ihm diagnostizierte Klimahysterie nicht schnell in Klimahäresie enden könnte. Ein kleines theologisches Spiel mit dem Feuer!

Vor einigen Wochen sah ich auf einem hochmotorisierten Sportwagen einen Aufkleber, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Drei Worte in Großbuchstaben sowie ein Ausrufezeichen waren darauf zu lesen: „FUCK YOU GRETA!“ Irgendwie laufe ich noch immer mit offenem Mund angesichts dieses Statements herum, das ein No-Go und zugleich die prägnanteste klimahysteriekritische Botschaft ist, die man sich vorstellen kann.

Ich google. Der Aufkleber ist leicht zu bekommen. Es gibt ihn in verschiedenen Farben und Designs. Wenn ich ihn mir aufs Auto kleben würde, hätte ich zwar vermutlich Vandalismus und gesellschaftliche und kirchliche Ächtung zu befürchten, könnte aber einen pointierten Beitrag zu einer überhitzten Debatte leisten, der mehr sagt als tausend differenzierte Worte. In jedem Fall wäre mir Aufmerksamkeit sicher. Mehr Aufmerksamkeit jedenfalls, als die Worte von Theologen sonst finden. Diese Aufmerksamkeit wäre mir auch deshalb sicher, weil meine Nummernschildhalter die Inschrift „Unterwegs im Auftrag des Herrn“ tragen. Eine zweifellos interessante und aufsehenerregende Kombination.

Aber im Ernst: Darf man als evangelischer Theologe einen Sticker auf sein Auto kleben, auf dem „FUCK YOU GRETA!“ steht? Ist das – abgesehen von der Frage, ob es den juristischen Tatbestand der Beleidigung erfüllt – ein theologisch angemessenes Verhalten? Und wie kommt ein evangelischer Theologe überhaupt auf die Idee, mit dem Gedanken zu spielen, sich so zu verhalten? Nochmals anders gefragt: Warum schreibt ein evangelischer Theologe einen öffentlich wahrnehmbaren Artikel, in dem er das thematisiert? Die Antwort auf diese letzte Frage kann doch eigentlich nur lauten: um der Provokation, also um des kalkulierten Tabubruchs, vor allem aber um der Herstellung gesteigerten Wahrgenommenwerdens willen.

Aber nehmen wir – zumindest gedankenexperimentell – einmal an, der Verfasser dieses Artikels wäre einigermaßen frei von derlei primitiven Narzissmen. Was sonst könnte ihn dazu bewegen, Greta Thunberg derart zu verunglimpfen – Greta Thunberg, die Zeichenhandlung gewordene Jeanne d’Arc des 21. Jahrhunderts, die nun in See sticht, um Sturm und Wellen und den Mächten und Gewalten der Welt zu trotzen wie weiland unser Herr? Welcher Teufel könnte einen halbwegs seriösen Theologen reiten, die Ikone der Klima-Apokalypse und des Kampfes gegen den menschengemachten Weltuntergang mit einem verbalen Stinkefinger derart sichtbar zu beleidigen? Was könnte ihn zu einer solch heiklen und durchaus riskanten Geste treiben?

Ich will an dieser Stelle sicherheitshalber hinzufügen, dass diese Geste frei von jeglichen sexuellen Konnotationen ist. Das benutzte F-Wort stellt vielmehr die englische Übersetzung des berüchtigten Zitats des Götz von Berlichingen und mithin ein radikales Signal demonstrativer Kritik eines seinerseits demonstrativen Gestus radikaler Kritik dar, den ich für ziemlich fragwürdig halte – zumindest für fragwürdig genug, um mit intensiver Sichtbarkeit und Lesbarkeit dagegen zu opponieren. Wobei ich der Versuchung, den Sticker an meinem Auto anzubringen, nicht einfach erliege, ohne theologisch über das Feuer nachzudenken, mit dem ich spiele. Und dass ich das tue, zeigt ja vielleicht doch so etwas wie theologische Affektkontrolle. Es schaltet nämlich dem instinktiven Impuls die Kulturtechnik selbstkritischen Denkens vor. Dieses Denken lässt es sich allerdings nicht nehmen, ein Wahrheitsmoment in dem provokanten Protest „FUCK YOU GRETA!“ zu detektieren und dafür auch gute theologische Gründe vorzubringen. Das versuche ich im Folgenden zu tun – wohl wissend, dass ich mich auf dünnem Eis und auf einem schmalen Grat bewege.

Als ich unlängst die bestellten drei Autoaufkleber auspackte, auf den Esstisch legte und meine Frau fragte, welche Farbe ihr am besten gefalle, erntete ich Fassungslosigkeit. „Woher kommt dieser Zorn?“, fragte sie mich. – Nun, der Zorn kommt daher, dass ich das Gefühl nicht los werde, dass sich unsere bundesdeutsche Gesellschaft und die evangelische Kirche dieser bundesdeutschen Gesellschaft derzeit im Zustand einer freudigen, unheilserwartungsschwangeren Verblendung befindet und dass diese Verblendung nicht unproblematische religiöse Züge trägt. Ich bin also gewissermaßen aus theologischen Gründen zornig darüber, dass wir uns mit derart heiligem Ernst der klimaapokalyptischen Vision unterwerfen. Und zwar vor allem deshalb, weil dieser Unterwerfung der theologisch fragwürdige Wunsch zugrunde liegt, in einer Gegenwart, in der wir irgendwie nicht mehr so recht an Gott glauben können, endlich wieder an etwas wirklich Glaubwürdiges glauben zu wollen, das zugleich etwas wirklich Großes, ja Ungeheures ist. Die Wahrnehmung der Welt als klimakatastrophal untergehende Welt verspricht einer säkularisierten Gesellschaft und ihrer Kirche die durch die europäische Aufklärung und durch die Selbstprofanisierung des europäischen Protestantismus verdünnisierte metaphysische Substanz und den wirklich lebens- und weltbedeutenden Inhalt zurückzugeben.

Während Gott niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt, gilt für den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang und seine mögliche Abwendbarkeit das genaue Gegenteil. Die Klimakatastrophe ist etwas, das alle unbedingt angeht, weil sie als ein globales Phänomen erscheint. Und sie geht anders als die Volkskirche nicht nur die Generation 65 plus, sondern vor allem die Generation 20 minus unbedingt an. Denn sie führt den derzeitigen Erstwählerinnen und Erstwählern das Horrorszenario des Endes der habitablen Erde noch zu ihren Lebzeiten vor Augen.

Dieses Horrorszenario produziert eine gewaltige Evidenz und erzeugt eine ebenso gewaltige Furcht, die der Grund eines neuen Glaubens ist, dessen Unwiderstehlichkeit den alten, seinerseits über weite Strecken der Kirchengeschichte angstmotivierten Glauben an Gott in den Schatten stellt – auch, was dessen Früchte anbelangt. Einmal mehr und jetzt erst recht zeigt sich, dass Angst, Schmerz und ein unglückliches Bewusstsein erzeugt werden müssen, um verantwortungsethisches menschliches Handeln auszulösen, ja zu erzwingen. Es reicht nicht, den Grund des Glaubens in freudiger Freiwilligkeit und Glücksbedürfnissen zu verorten.

Während sich Gott also noch nie beweisen ließ, scheint niemand, der bei Trost und bei Verstand ist, die Realitätsadäquatheit der ökologischen Unheilsprophetie und ihrer notwendigen politischen und ethischen Konsequenzen guten Gewissens bezweifeln zu können. Wer es dennoch tut, wird in einer Atmosphäre ökologiebewusster Empörung schnell als Gesinnungsgenosse fragwürdigster Gestalten verblendeter schöpfungsvergessener Postfaktizität diskreditiert.

Es befremdet mich, in welchem Ausmaß die Idee, das höhere Gut der Rettung der Welt gebiete notfalls das Opfer individueller Freiheit und das Opfer freiheitlicher Demokratie, gegenwärtig auch in der evangelischen Kirche schleichend an Plausibilität gewinnt. Und es entsetzt mich geradezu, dass die Bereitschaft, einer Alles-oder-Nichts-Logik zu folgen und totalitär aufs Ganze zu gehen, gerade in der bundesdeutschen Gegenwart wieder fröhliche Urstände feiert. Denn ich bin theologisch zutiefst davon überzeugt, dass die Schuld-und-Sühne-Logik protestantismuswidrig und die Alles-oder-Nichts-Logik schöpfungswidrig ist. Zumal evangelisch-lutherischer Theologie zufolge ist der Raum der Schöpfung weder der Raum des Alles noch der Raum des Nichts. Er ist nicht mit der Wirklichkeit Gottes und auch nicht mit der Wirklichkeit des Teufels identisch. Er ist der kostbare, nicht zuletzt durch die Sünde unendlicher Überhebung gefährdete Raum endlicher Freiheit. Er ist der Raum des Sein-Dürfens und des Sein-Lassens. Er ist der Raum, in dem es das Schicksalshafte, das Tragische, das Zweideutige, die Verfehlung, die Zerstörung, das Scheitern, aber eben auch Kompromisse gibt, die nicht immer schon faul sind. Der Raum der Schöpfung ist der Raum, den man am besten und am realistischsten im Licht des Evangeliums der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes wahrnimmt – und zwar so, dass man ihn als Raum in den Blick nimmt, in dem Menschen agieren, für die es aus der Sicht Gottes besser und sogar sehr gut ist, nicht Gott zu sein.

Im Alten Testament wird die Versuchung des Homo sapiens, sei es in der Weltvernichtung oder in der Weltrettung sein zu wollen wie Gott, als Sünde der Hybris detektiert und verurteilt, freilich aber auch illusionslos als unvermeidlich diagnostiziert. Gerade diesem hybriden Sünder, von dem Gott nicht annimmt, dass er sich und seine Welt aus eigener Kraft oder Willensanstrengung zum Guten wandelt, lässt Gott Raum. Gerade diesen Sünder und seine Welt erhält Gott – ohne zu erwarten, dass dieser Sünder, das lädierte Ebenbild Gottes, zum Erlöser einer Erde werden könnte, die er sich auf verhängnisvolle und geradezu verfluchte Weise untertan machen muss.

Wer es sich angesichts der Klimadebatte jedoch erlaubt, im beschriebenen schöpfungstheologischen Sinne oder im Sinne von Martin Luthers Logik der Zwei-Regimente-Lehre zwischen Gott und Mensch, zwischen Vorletztem und Letztem, zwischen Heil und Wohl und zwischen Politik und Religion zu unterscheiden und zu bezweifeln, ob der lebensraumgefährdende Sünder auch zur Rettung der Welt imstande ist, sieht sich schnell einem Shitstorm gegenüber. Denn er erscheint in den Augen jener, für die es jetzt ums Ganze, nämlich um das Schicksal des Lebens auf der Erde geht, entweder als frommer Irrer, als theologischer Zyniker, als zukunftsvergessener Egomane oder als realitätsblinder, von der Logik des „Weiter-So!“ besessener weltkonsumierender Ignorant. Die Macht und die beängstigende Evidenz der Klimakatastrophen-Idee ist so groß, dass all jene, die nüchterne und kluge politische und technologische Schritte statt überhitzte Radikallösungen bevorzugen, für nicht ganz zurechnungsfähig, theologisch gesprochen: für die eigentlichen Sünder gehalten werden.

Wer wie jüngst der Soziologe Armin Nassehi in der „Süddeutschen Zeitung“ für die Markt-, Mehrheits- und Gesellschaftsgängigkeit ökonomischer Lösungen des ökologischen Problems plädiert, weil ökonomische Lösungen schlicht die Grundlage für befriedete Verhältnisse sind und weil es zum Stoffwechsel der Gesellschaft gehört, die gesellschaftsinternen Risiken und Gefahren zu betrachten, wenn man die große Transformation plant, muss sich seinerseits der Verblendung bezichtigen lassen (für SZ-Abonnenten: https://www.sueddeutsche.de/kultur/klimawandel-gesellschaft-nassehi-1.4548621). Und doch dürfte Nassehi Recht haben: „Es gibt nicht nur externe Limitationen natürlicher Ressourcen oder der Belastbarkeit des Planeten mit Verbrennungsrückständen oder Müll. Es gibt auch innere Begrenzungen, wie eine Gesellschaft mit internen und externen Gefährdungen umgehen kann.“

Schon immer freilich war es das Wesen von Jugendrevolten, jene Generation für zukunftsgefährdend und daher für unzurechnungsfähig zu halten, die womöglich nicht nur aus Egoismus, sondern vielleicht doch aus Lebenserfahrung weniger radikal denkt und handelt – etwa weil sie merkt, dass Einzelne und die gesamte Gesellschaft etwas zu verlieren haben und folglich ein anderes, nämlich das gesellschaftliche Klima aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, wenn die Utopie „Null CO2-Ausstoß und zwar sofort!“ auf Biegen und Brechen verwirklicht wird, oder weil sie ahnt, dass die Bereitschaft, sich als Klimaapostel angesichts des kaum veränderten persönlichen Lebensstils selbst zu belügen und weder die eigenen Flugreisen noch die Gesamtökobilanz etwa eines Tesla wahrhaben zu wollen, nicht selten direkt proportional zur Ausgeprägtheit des Klimabewusstseins und zur Überzeugung ist, auf der Seite der Guten zu stehen.

Eine der vordringlichen Aufgaben bedachter christlicher Theologie ist von je her sorgfältige theologische Reflexion, die theologisch fragwürdige Denkmuster des Geistes ihrer Zeit aufspürt und zur Sprache bringt. Ich erachte die Chance solch kritischer theologischer Reflexion zumal in einer medial hysterisierten Öffentlichkeit, die auch kirchlicherseits dazu neigt, entdramatisierende Differenzierung als mangelndes Problembewusstsein, ja als ethische Häresie zu diskreditieren, heute indes für ziemlich gering.

A propos ethische Häresie: Es ist augenfällig, dass es im gegenwärtigen Christentum eigentlich keine dogmatischen, sondern nur noch ethische Häresien gibt. Allerdings könnte es sein, dass der Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart seinerseits häretische Züge trägt. Denn womöglich ist das, was sich für das Gegenteil einer Häresie, nämlich für den Königsweg zur Erlösung der Menschheit hält, die eigentlich theologische Häresie. Und zwar deshalb, weil sie letztlich nicht mehr an einen wirkmächtigen Gott, sondern nur noch an den Menschen glaubt und diesen Glauben – beispielsweise mit dem Argument der biblischen Beauftragung des Ebenbildes Gottes zur Bewahrung der Schöpfung – gegen jeden anderen Glauben immunisiert.

Karl Barth hat im ersten Band seiner „Kirchlichen Dogmatik“ Häresie als Unglaube in Gestalt des Glaubens definiert. Ich glaube, dass diese Definition den Nagel auf den Kopf trifft und ein wirklich erhellendes Licht auf die theologische Problematik der Klimaschutzdebatte wirft. – Ja, es kann keinen Zweifel daran geben, dass im Zuge der biologischen und kulturellen Evolution auf dem Planeten Erde eine Spezies entstanden ist, die angesichts ihres Ressourcenverbrauchs zu einer echten Gefahr für sich selbst, für fast alle anderen Spezies und für die Biosphäre der Erde geworden ist. „Das Anthropozän“, so der Philosoph Daniel Falb, „besteht in der radikalen Ausweitung und Globalisierung der anthropogenen ökologischen Nische … Homo sapiens … produziert ein Klima, wie es seit dem Tertiär nicht mehr geherrscht hat und ist dabei, die sechste mass extinction in der Erdgeschichte herbeizuführen … Dass die Tiefe der Einwirkung auf die planetarische Biosphäre der Erde heute von nicht bloß ökologischer, sondern geologischer Dimension ist, lässt sich metaphorisch so beschreiben, dass die Erdoberfläche aufgehört hat, stabiler Hintergrund und Bühne eines sich auf ihr entfaltenden Stücks von Homo-sapiens-Geschichte zu sein. Vielmehr ist die Bühne selbst in die Handlung des Stücks eingetreten und das Spektakel ihrer Verformung ist jetzt das Hauptgeschehen“ (Daniel Falb, Geospekulationen. Metaphysik für die Erde im Anthropozän, Leipzig 2019, 101-108).

Die Weltgesellschaft wird, wenn sie sich nicht durch ihren gewaltigen Energieverbrauch evolutionär zum Aussterben verurteilt, den Tanker unserer biosphäregefährdenden Zivilisation allmählich zu wenden haben, um Schlimmeres zu verhüten und nachfolgenden Generationen ein wirklich menschenwürdiges Leben auf dieser Erde zu ermöglichen.

Die Frage ist allerdings, wie das geschehen kann, ohne den sozialen und inneren Frieden der Weltkulturen so zu gefährden, dass am Ende an die Stelle der Erderwärmung soziale Kälte tritt und eine andere Klimakatastrophe eintritt: die Katastrophe des Endes der aufgrund des Schneckentempos ihrer Entscheidungen und ihrer Kompromisserzeugungsmaschinerien zur Abwendung der Öko-Katastrophe für ungeeignet gehaltenen Staatsform der Demokratie zum Beispiel, welche von einer Öko-Diktatur abgelöst werden könnte, in der individuelle Freiheit und Menschenwürde besten Gewissens der Nützlichkeit für die Reduzierung der Erderwärmung geopfert werden.

Oder die Katastrophe der sozialen Kälte einer ökosensibilitätslegitimiert brutaler werdenden Gesellschaft, deren privilegiertere Mitglieder es sich leisten können, aus ihren Immobilien im Herzen Münchens, Hamburgs oder Düsseldorfs mit dem Fahrrad zum Biobäcker zu fahren und ihren Porsche Cayenne nur gelegentlich zur Repräsentationszwecken für die Spritztour zum Kinderspielplatz aus der Garage zu holen, während die weniger privilegierten Mitglieder dieser Gesellschaft, für die eine Wohnung in den Metropolen schlicht unbezahlbar ist, ihren Arbeitsplatz zu verlieren drohen, weil sie sich auch das Einpendeln mit dem verbrennungsmotorgetriebenen PKW aus den strukturschwachen Regionen aufgrund des exponentiell steigenden Mineralölpreises, aufgrund der Nichtverfügbarkeit bezahlbarer Elektromobile oder aufgrund des Nichtvorhandenseins einer guten Infrastruktur des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs nicht mehr leisten können.

Es ist übrigens auch ein Zeichen sozialer Kälte, die geringverdienenden Berufspendler oder die Fernfahrer, die aus Verzweiflung und Frustration womöglich AfD wählen, weil sie sich fragen, wer sonst in der derzeitigen Parteienlandschaft ihre ökonomischen und politischen Interessen vertritt, als Bürger zu diskreditieren, die unreflektiert rechtspopulistischen Argumenten in die Falle gehen und mithin zu ungebildet sind, um im sogenannten herrschaftsfreien gesellschaftlichen Dialog mitreden zu dürfen.

Über die politischen, technologischen und ökonomischen Wege zur Abwendung der Klimakatastrophe also kann und muss man streiten. Aber um darüber wirklich streiten zu können und sich nicht unentwegt dem Verdacht ökologischer Häresie oder gar Blasphemie gegenüber zu sehen, muss man das Klimakatastrophenszenario erst einmal als Szenario innerhalb des Vorletzten und eben nicht im Reich der letzten Dinge verorten. Man muss es sozusagen ent-eschatologisieren, um klarer zu sehen und angemessener zu denken und zu handeln. Dazu muss man aber ein Tabu brechen: das Tabu vernünftiger, gebotener und sinnvoller Kritik an der herrschenden Klimaschutzsemantik und an der herrschenden Klimahysterie.

Diejenigen, die dieses Tabu verhängen und solche Kritik verbieten, agieren übrigens nicht viel anders als jene, die ihren Gott – notfalls mit Gewalt – gegenüber jeglicher Reli­gionskritik verteidigen. Und vielleicht ähnelt die hysterische Reaktion auf jene, die nicht der klimakatastrophischen Alles-oder-Nichts-Logik erliegen, sondern das Ganze dialektischer und differenzierter sehen, in der Tat der Kritik intoleranter Gläubiger an Andersdenkenden und Andersglaubenden.

Religionskritiker der letzten Jahrzehnte haben vermehrt den Zusammenhang von monotheistischer Religion und Gewalt akzentuiert und darauf hingewiesen, dass der Glaube an ein absolutes Prinzip keine andere Realitätswahrnehmung neben sich zu dulden bereit ist. Am Ende handelt es sich dort, wo die Klimaschutzpropheten und -prophetinnen sich wie beschrieben gegen Gegenargumente immunisieren, um ein strukturanaloges Phänomen. Das eigentliche theologische Problem wäre dann also nicht die Frage, wie es um das Weltklima bestellt ist, sondern die Tatsache, dass ein neuer Glaube entstanden ist.

Als lutherischer Theologe im Windschatten Karl Barths kann ich angesichts einer solchen Entwicklung nur skeptisch und argwöhnisch bleiben. So verführerisch es ist, es schön und ermutigend zu finden, dass gerade junge Menschen wieder an etwas, genauer gesagt an eine große Idee und an eine große Vision glauben, so vorsichtig und bedacht sollte man dieser Glaubensbereitschaft zugleich begegnen. Und so erlaube ich mir an dieser Stelle anzumerken, ob nicht auch und gerade das Feld des Klimaschutzes ein Ort für jene theologisch gebotene Ideologiekritik sein könnte, auf die sich eben nicht nur diejenigen legitimerweise berufen können, die sich in guter reformierter Tradition immer schon auf der Seite der Wahrheit wähnen – der Wahrheit des Evangeliums, das nur wahr zu sein scheint, wenn daraus bestimmte ethische Imperative direkt und unmittelbar abgeleitet werden.

Es könnte ja auch das Gegenteil wahr und das Gegenteil geboten sein. Einmal mehr könnte die Verblendung im Gewand alternativloser Hellsichtigkeit daher kommen. Denn merke: Eine Hermeneutik des totalen Verdachts ist nicht per se der sicherere Seismograph der Wirklichkeit als eine Hermeneutik getroster Gelassenheit, die undramatisch dafür plädiert, das Rechte zur rechten Zeit zu tun und im Übrigen die Erlösung der malträtierten Welt gelassen und heiter der Fügung und Vorsehung Gottes zu überlassen, dessen Homo sapiens von je her an sich, an Gott und an der Welt und vielleicht ja auch an der Klimawende scheitert und wohl auch diesmal die Revolution aller Dinge nicht bewerkstelligen, sondern allenfalls einen zwar nicht klimaschonenden, aber doch gewissensberuhigenden Ablass in Gestalt einer Öko-Steuer zustandebringen wird.

Apropos heitere Gelassenheit: Das Problem des FUCK-YOU-GRETA!-Stickers liegt natürlich auch darin, dass er viel zu verbissen ist und seinerseits viel zu wenig Humor hat – ebenso wenig Humor wie Greta Thunberg selbst. Und warum sollte die Prophetin des Klimagottes auch Humor haben, wo doch der heilige Ernst der Lage und das Allerheiligste selbst kein Lachen und nicht den Hauch einer reflektierten Relativierung dulden. Und nicht nur Greta Thunberg scheint in dieser Hinsicht keinen Spaß zu verstehen. Auch viele andere Menschen können über die Klimakatastrophe und über den FUCK-YOU-GRETA!-Sticker nicht einmal schmunzeln. Offenkundig tut man so etwas einfach nicht – und wenn, dann nur mit schlechtem Gewissen, mit eingezogenem Kopf und hinter vorgehaltener Hand. Dabei geben bei Licht besehen letztlich die Konsequenzlosigkeiten und kognitiven Dissonanzen den Ton an. Denn während sich nicht wenige den Luxus gönnen, auf der korrekten Seite des gesellschaftlichen Bewusstseins zu stehen – sei es, weil sie es sich leisten können oder weil sie nicht für ignorante hinterwäldlerische Dumpfbacken gehalten werden wollen –, verhalten sie sich in ihrem Alltagsleben die meiste Zeit über so, als hätten sie noch nie etwas von der Erderwärmung gehört und als sei diese pure Science Fiction.

Und was heißt das nun für den FUCK-YOU-GRETA!-Aufkleber? Soll ich oder soll ich nicht? – Natürlich nicht. Ich würde ja den Teufel mit Beelzebub austreiben und an die Stelle des einen Wutbürgertums ein anderes Wutbürgertum, vielleicht sogar ein Trotzbürgertum setzen. Am Ende ist es besser, ich enthalte mich solcher Zeichenhandlungen und belasse es bei der Hoffnung, dass mein FUCK-YOU-GRETA!-Affekt eine genießbarere Frucht gezeitigt hat: die Frucht differenzierter, wenngleich nicht weniger riskanter theologischer Reflexion, die für das Angemessene statt für das Maßlose plädiert.

 

Von Ralf Frisch ist 2018 dieses Buch erschienen: „Alles gut! Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat“, Theologischer Verlag Zürich,  4. Auflage 2019, 204 Seiten, Euro 19,90.

Anmerkung: Dieser Text erschien zunächst mit einer anderen Überschrift und in leicht anderer Fassung.

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Foto: Johannes Minkus

Ralf Frisch

Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.


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