Der Reformator, die Fliegen und wir

Das neue Luther-Fenster für die Marktkirche in Hannover böte eine große Chance
Kichenvorstand Reinhard Scheibe, Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann und Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann (v.li.) bei der Vorstellung des Entwurfes im April 2018.
Foto: epd
Die Vorstellung des Entwurfes des Kirchenfensters durch Kichenvorstand Reinhard Scheibe, Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann und Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann im April 2018.

Die Marktkirche in Hannover soll ein neues Glasfenster bekommen. Der Entwurf des Künstlers Markus Lüpertz zeigt neben dem Reformator Martin Luther mehrere schwarze Fliegen, die für das Böse und die Vergänglichkeit stehen. Der Kirchenvorstand ist dafür, der Stiefsohn des Architekten Dieter Oesterlen, der der den Wiederaufbau der Kirche nach dem Krieg leitete, hat jedoch dagegen geklagt. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat am 22. Juli 2019 in der Marktkirche Stellung für den Lüppertzschen Entwurf ausgesprochen und zur Begründung einen weiten Bogen durch die Geschichte der Lutherbildnisse gezogen. Hier der Vortrag in leicht gekürzter Form.

Zu den Herausforderungen jeder Generation evangelischer Christinnen und Christen gehört es, sich ein angemessenes, für die jeweilige Gegenwart tragfähiges Verständnis des Herkommens und der historischen Grundlagen der eigenen Existenz zu verschaffen. Ohne eine gewisse Kenntnis der tragenden wie der belastenden Aspekte der Geschichte evangelischen Christentums seit der Reformation geht es nicht. Diese Aufgabe ist für jede und jeden von uns, aber auch für die evangelische Kirche – ähnlich wie für jedes politische Gemeinwesen – per se unabschließbar.  Denn das Verständnis der Vergangenheit hängt elementar mit dem jeweiligen Selbstverständnis, mit dem Zeitbewusstsein einer Gegenwart, zusammen.

Viele evangelische Christen vertreten heute im Vergleich mit den Reformatoren völlig unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Auffassungen. In Fragen der Sexual- oder Geschlechterethik etwa oder hinsichtlich des Umgangs mit dem Täufertum oder den Reformierten irritieren uns Urteile Luthers, Melanchthons, Bugenhagens oder Antonius Corvinus‘. Wir können schwer nachvollziehen, dass sie z.B. in den Täufern vor allem Aufrührer sahen, ihre Austreibung aus evangelischen Territorien oder gar die Hinrichtung für angemessen hielten und in der Frage des Tauftermins keine Alternative zur Säuglingstaufe akzeptierten.

Im Verhältnis zu den Reformierten ist es aus der Sicht wohl der meisten Lutheraner unserer Tage nicht anders: dass man im unterschiedlichen Verständnis der Einsetzungsworte des Abendmahls, im „est“ oder „significat“ – in der realen oder der symbolischen Gegenwart Christi, eine trennscharfe Ekelschranke zwischen Häresie und Orthodoxie aufrichten zu können meinte, leuchtet vielen Lutheranern unserer Gegenwart kaum mehr ein. Auch der wüsten Papstpolemik Luthers stehen wir unverwandt gegenüber. Von seiner abgründigen, menschenverachtenden Hetze gegen Juden ganz zu schweigen. In dem Maße, in dem uns das friedliche, tolerante Zusammenleben unterschiedlicher christlicher Konfessionen selbstverständlich und der Absolutheitsanspruch der eigenen Konfession fraglich geworden ist, stehen wir den rhetorischen Abgrenzungs- und Wahrheitsbehauptungsattitüden der Reformatoren unverwandt und kritisch gegenüber.

Geprägt von Cranach d.Ä.

Luther ist von den Veränderungen unseres Selbstverständnisses besonders stark betroffen. Luther ist eben Luther; seine Person, seine Biographie, sein Bild – als mentales und als materielles, als physisches Bild, als Darstellung – war und ist in der evangelisch- ‚lutherischen’ Christenheit ungleich präsenter als das jedes anderen Reformators. In vielen Jahrhunderten wurde dieses Bild vergegenwärtigt, wurde uns Luther in einer bestimmten heroisierenden oder monumentalisierenden Weise nahegebracht. In Bezug auf dieses ‚Bild’ haben wir große und ungelöste Aufgaben vor uns, die besonders schwer wiegen.

Lukas Cranach d.Ä., der Luther auch persönlich nahestehende Wittenberger Künstler und Geschäftsmann, hat bekanntlich die Lutherbilder seiner Zeit und aller nachfolgenden Generationen geprägt wie kein zweiter; dies kann als unstrittig gelten. Allerdings gilt diese Auskunft nicht pauschal für alle Lutherdarstellungen der Cranachschen Werkstatt. Vielmehr lässt sich ziemlich präzis beschreiben, welche Porträttypen wohl bis zu Luthers Tod in Umlauf kamen. Der Befund fällt einigermaßen überraschend aus: Demnach ist zweifelsfrei, dass Cranach d.Ä. zunächst in den Jahren 1520/1 drei Kupferstiche des Wittenberger Mönchs anfertigte, von denen zwei – der Mönch mit Buch in der Nische und der Mönch mit Doktorhut, jeweils in leicht veränderten Fassungen – auch im Spiegel der druckgraphischen Rezeption größere Aufmerksamkeit gefunden haben. Diese frühen Druckgraphiken wurden mit einem lateinischen Vers verbreitet, der betonte, dass Luther durch seine Schriften das unsterbliche Bild seines Geistes präge, während Cranach lediglich das vergängliche Bild des sterblichen Menschen gestalte. Diese Kupferstiche enthielten also in sich einen bilddistanzierenden, ja bildrelativierenden Impuls. Dass Luther selbst hinter diesem Gestus stand, ist wahrscheinlich. Der bildkritische Reformator konnte von sich sagen, dass er Bildern „nit hold“ sei. Als visueller Anreger reformatorischen Bildschaffens dürfte Luther ein Totalausfall gewesen sein.

Als nächster Typus des Lutherbildnisses kamen in engem zeitlichen Umkreis der Eheschließung Doppelporträts des Reformators mit Katharina von Bora auf; sie sind in verschiedenen Ausführungen bezeugt. Dieser Porträttypus war in gewissen Varianten bis in die späteren 1530er Jahre hinein beliebt. Eine besonders interessante Variante stellen Doppelporträts dar, in denen Luther im Jahre 1537 als Bartträger dargestellt wird. Sie bilden – so eine von mir unlängst entwickelte, noch nicht publizierte Hypothese – den Anlass für die posthume erfolgte Stilisierung als „Junker-Jörg“. Der Bildtypus des ritterlichen Luther ist jedenfalls für das Jahr 1522 zu verabschieden.

Ob man einige Porträts des gelehrten Barettträgers oder des in voller Statur monumental und statuenhaft dargestellten Kirchenlehrers noch vor 1546, Luthers Todesjahr, datieren kann, ist vielfach unsicher. Für ein bekanntes Nürnberger Porträt des jungen Luther und für die Weimarer Ölfassung des „Junker Jörg“ konnte die Verwendung derselben Schablone und eine Datierung auf „nach 1546“ wahrscheinlich gemacht werden. Auch die Doppelporträts mit Melanchthon sind Zeugnisse der postmortalen Luther-Memoria Cranachs d.J. Seinen Zeitgenossen jedenfalls begegnete Luther im Bild zunächst und vor allem – massenmedial - als Bettelmönch, Doktor der Theologie und – im Ölgemälde – als Ehemann. Durch die standardisierten Fertigungsmethoden der manufakturiellen Bildnisproduktion in Cranachs Werkstatt dürfte die zeitgenössische Exemplarmenge der Ehebildnisse allerdings deutlich größer gewesen sein, als die heutige Überlieferung erahnen lässt.

Die bis in unsere Gegenwart prägend gebliebenen Visualisierungen Luthers entstammen vornehmlich dem 19. Jahrhundert; sie setzten bei dem als monumentaler Holzschnitt oder in Öl gefertigten Standportäts Cranach d.J. an, die bereits im 18. Jahrhundert verstärkt rezipiert wurden. Man brachte den erfahrenen, überlegenen Lehrer, den bürgerlichen Theologen, den sprachkundigen Bibelübersetzer, das gestandene Mannsbild, den begeisternden Professor ins Bild, den Familienvater, diemännliche Autoritätsfigur, den Reformator – nicht aber, wie im 16. Jahrhundert, den Mönch und den Ehemann.

Der ganze Kerl aus hartem Metall

Als dann, früh materialisiert im Wittenberger Lutherdenkmal Schadows von 1821, der Lutherkult des Wartburgfestes, die Lutherbeseeltheit der deutschen Nationalbewegung im Zuge der Freiheitskriege und der staatliche Wille Preußens, Luther zum kulturellen Identitätsmarker seiner Geschichtspolitik zu machen, kraftvoll und penetrant ineinanderflossen, wurde die deutsch-protestantische Welt mit Bronzestatuen auf den Marktplätzen übersät. Sie standen zumeist im politischen Raum, außerhalb der Kirchenräume. Mit ihnen können wir Heutigen, die jenseits von NPD und AFD-Milieus existieren, weder leben, noch sterben. Während andere Bronzestatuen zwei Weltkriege nicht überlebten – in Hannover fielen 1941 Elisabeth von Calenberg-Göttingen und Herzog Ernst von Braunschweig-Wolfenbüttel, die niedersächsischen Referenzfiguren des Reformators dem Rüstungswahn zum Opfer – blieb Luther stehen, gewiss auch, weil NS-Ideologen ihn besser zu nutzen wussten als andere. Noch heute dominieren in zahlreichen evangelischen Städten grimmige, hässliche, überlebensgroße Monumentalplastiken des dramatischen Berserkers, des hoch aufgeschossenen Professorengermanen, des unerbittlich-streitenden Wahrheitsgiganten den Raum.

Der ganze Kerl aus hartem Metall hat– ein künstlerischer Irrweg sondergleichen! – in Otmars Hörls bunten Lutherzwergen aus Plastik eine unserer Wegwerfkultur entsprechende Reproduktionsgestalt gefunden. Doch erst im Playmobil-Luther, der von Kirchenführerinnen und -führern entlastend bejubelt wurde, gelang die Travestie ins Spielerisch – Lächerliche. Aber der ganze Kerl aus Bronze ist immer noch da, nur wenige Meter von uns, auch hier steht nicht der Russe, sondern der Luther vor der Tür. Er ist nicht nur eine Herausforderung an uns als Kirche; er ist das Produkt jener Amalgamierung von evangelischem Christentum und Nationalismus, zu der wir uns, auch im Horizont unserer Gegenwartsverantwortung als Bürger, zu verantworten haben. Doch ob die Bürgergemeinde sich zum bronzenen Marktagitator zu verhalten vermag? Gegen die Lutherplakate in den jüngsten Wahlkämpfen der AFD und der NPD haben sich, soweit mir bekannt, auch oder ausschließlich evangelische Christen gewehrt.

Die Fliegen der Bosheit

Der Lüpertzsche Entwurf für die Marktkirche bietet eine Chance der Auseinandersetzung mit Luther und könnte ein wichtiger Baustein für ein verändertes Lutherbild werden. Künstlerisch setzt er neu ein. Er spinnt nicht einfach fort. Er eröffnet einen befreienden Blick auf den, von dem wir Evangelischen nicht einfach loskommen, mit dem wir aber verantwortlich, im Horizont unserer Gegenwartskultur, umzugehen haben. Für ein historisch verantwortetes Lutherbild ist der Lüpertzsche Entwurf überdies einladend, denn er setzt da an, wo alles begann: in der visuellen Situation des Mönchs, des Priesters, des jungen Luther, des Angefochteten, des Bedrängten. Nicht die geschlossene Professorenpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts hat uns etwas zu sagen; der gebrochene, der tastende, der verführte, der zweifelnde, der um seine Identität ringende, der vom Teufel versuchte, der den Versuchungen erlegene Luther, der tätsächlich Böses tut, der dem Bösen dient, der Juden, Täufern, Papisten, Zweiflern, Mahometisten und vielen andere jede Würde nimmt, sie dem Verderben preisgibt. Luther, der Ketzermeister, der Intolerante, der Inquisitor, der, an dem die Fliegen der Bosheit kleben bleiben.

Beelzebub heisst eine grosse Fliege, die wir Deutschen ein Hummel nennen, welchen namen das volck Israel dem Teuffel gegeben hat, wie wir im Evangelio (Mt 10,25; 12,24) lesen. Denn das ist des Teuffels eigen art und Ampt, das er seinen Russel in der armen Menschen sunden suddelt, wület und ruttelt, als wolt er den Dreck gerne so groß und breit machen, das der Himel vol stancks und Gott mit allen Engeln her aus gestenckert würde.“ (WA 54, S. 174; Vorwort zu Freder, Dialog dem Ehestand zu Ehren, 1545).

Der das schrieb, kannte den Teufel. Der Teufel begleitete ihn; er schickte ihm Anfechtungen. In seinen Gegnern – Thomas Müntzer, Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, Ulrich Zwingli – sah ihn der Wittenberger Dämonologe am Werk; wie die Juden und die Türken waren sie für ihn „diaboli incarnati“, fleischgewordene Teufel. Einen Luther, der nicht mit dem Teufel rang – Tintenfass-Legende hin oder her – hat es in keiner Lebensphase gegeben. Luther mit fetten Fliegen, dem Symbol für den ‚Herrn der Fliegen’, Baalzehub, Beelzebub, darzustellen, führt gewiss an Heldengeschichten von ihm vorbei. Es kann aber an das Zentrum seiner Theologie rühren.

Der Teufel sudelt, gründelt, wühlt in den Sünden der Menschen und macht sie groß. Er tut das Gegenteil dessen, was das Werk des Erlösers ist: Die Sünden klein zu machen und zu vergeben. Der Teufel wühlt, rüttelt und suhlt, er rührt Dreck und Schmutz auf und verhüllt in dem, was er da aufdeckt, den Menschen, den Sünder. Das Großmachen der Sünde minimiert, reduziert, kompromittiert und zerstört die Person.

Der Teufel, auch das wusste Luther von Paulus, verkleidet sich gern in eine Gestalt des Lichts. Er kommt nicht einfach als der häßliche, stinkende Zausel daher. Er kann adrett sein. Er kann hochmoralisch auftreten, den Moralisten geben. Dann macht er all das groß, was schmutzig und dreckig und verfehlt ist. Auch bei unserem Umgang mit Luther kann es teuflisch-moralistisch zugehen. Was hat er nicht alles auf dem Kerbholz, der elende Judenhasser, der Polemiker, der Skatologe, der sprachlich mit Kot schmeißt.

Luther wird menschlich

Der Lüpertzsche Luther mit den erhobenen Armen, von Fliegen umringt, weißlich, blass, unsicher, vielleicht flehend, könnte ein Luther unter Anklage sein. Dann sind wir die Fliegen, die sich an ihn heften, die ihren Rüssel in seine Schanden stecken, so dass sie groß und größer werden, dass sie zum Himmel stinken. Wir, die wir über all dem, was wir an ihm verachten, was er falsch gemacht hat, was uns abstößt, wir, die wir über unseren Anklagen vergessen, was er nie vergaß: Dass er ein verdammter Sünder ist und dass er angewiesen bleibt auf Gnade.

Gerade in dem, was uns an Luther abstößt, was so ganz unheldenhaft an ihm ist, wird er menschlich. So viel menschlicher als der glatte, kalte Bronzekerl draußen vor der Tür. Der echte Luther ist ‚drinnen’, ist mitten unter uns, in der Gemeinde, unter den Sündern. Es ist Zeit für eine Neubegegnung, die nur durch Distanzierung entsteht. Dazu hilft Kunst, der Historie verwandt.

Luther ist uns in vielem fremd geworden. Darin liegt eine Chance. Der künstlerische Blick kann dabei helfen, unsere eingespielten Blickrichtungen zu verlassen. Mit einem „Vorbild Luther“, so denke ich, ist heute kaum jemandem gedient. Doch Luther kann ein Anreger sein, um beten zu lernen, nicht viele Worte zu machen, aber von Herzen zu Gott zu sprechen. Gott fürchten, lieben und vertrauen, vertrauen, fürchten und lieben – Beziehungsreichtum zum ewigen Gott, der mir im leidenden Menschen Jesus ganz da ist. Der einhämmernde, agitatorische Luther, der Rechthaber, der deutsche Professor – den brauchen wir nicht. Aber den Sprachkünstler, den Tröster, den angefochtenen Christenmenschen werden wir schätzen lernen. Das Kirchenfenster mag dabei helfen.

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