Unterwegs im Neuland

Kirchen sollten Handelnde der Digitalisierung sein, nicht Getriebene
Bis ein technischer Standard in der letzten Gemeinde angekommen ist, ist er fünf bis zehn Jahre veraltet. Foto: Tobias Bugala

Für ihren Ausspruch, das Internet sei „Neuland“, erntete Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits 2013 Hohn und Spott. Für einige evangelische Landeskirchen scheint das aber in Teilen auch 2019 noch zu gelten. Die württembergische Landeskirche hingegen setzt seit einigen Jahren auf eine „digitale Roadmap“. Stefan Werner, leitender Jurist im Oberkirchenrat in Stuttgart, beschreibt dieses vielschichtige Projekt.

Das ist so, als würden Buchdruck und Webstuhl, Dampfmaschine und Auto gleichzeitig erfunden“. Thorsten Dirks, Präsident des ITK-Branchenverbandes Bitkom, bringt damit den technischen Innovationsschub, der sich in der Digitalisierung unserer Gesellschaft gegenwärtig vollzieht, auf den Punkt. Und mit diesen technischen Entwicklungen verändert sich unser Leben. Digitalisierung ist der umfassendste Transformationsprozess der vergangenen Jahrzehnte. Sie durchdringt alle gesellschaftlichen Erscheinungsformen, und dieser Prozess wird sich weiter intensivieren.

Auf diesen Transformationsprozess reagierten die Kirchen anfangs verhalten. Noch 2015 sprach sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern in ihrem Impulspapier „Das Netz als sozialer Raum“ für eine „Zivilisierung digitaler Welten“ aus. Zu diesem Zeitpunkt durchaus verständlich. Digitale Lebenswelten entkoppeln sich von den gängigen Formen kirchlicher Angebotslogik und sind mit neuen Formaten im weltweiten Netz zuhause – nicht im Gemeindehaus um die Ecke. Gleichzeitig begannen schon früh, digitalaffine Menschen mit den neuen Möglichkeiten digitalen Lebens zu experimentieren. Beten auf Twitter? Gibt es unter #twomplet. Segensroboter? BlessU-2 weckte Neugier bei der Weltausstellung 2017 in Wittenberg.

Für die Kirchen geht es wie so oft – zumindest gefühlt – ums Ganze. Digitalisierung ist ein unumkehrbarer, kulturverändernder Prozess der Technisierung dieser Welt, Religion muss sich da mit einer hart umkämpften Nische begnügen. Was früher der „liebe Gott“ war, ist heute für viele Google. Was nicht ins Smartphone passt – überlebt nicht. Während Apokalyptiker wie der israelische Historiker Yuval Harari die Menschheit auf diesen Abgrund zusteuern sehen, preisen Euphoriker wie der US-amerikanische Informatiker Larry Page die Verheißungen des neuen digitalen Lebens. Die Janusgesichtigkeit der Digitalisierung spiegelt sich in vielen ethischen Debatten, die diesen gesellschaftlichen Transformationsprozess begleiten. Man denke an die Reizthemen Urheberrecht in sozialen Netzwerken, autonomes Fahren oder digitale Kriegsführung. Hier müssen Kirchen sich an zivilgesellschaftlichen Aushandlungsprozessen stärker als bislang beteiligen.

Oft sind die Kirchen, wenn Digitalisierung sie selbst betrifft, viel eher Getriebene als Handelnde. In einer rasant sich verändernden Welt müssen Kirchen enormes Knowhow und übrigens auch Geld aufbringen, um überhaupt auf Augenhöhe diesem Wandel zu begegnen. Bis ein technischer Standard in der letzten Gemeinde angekommen ist, ist er im Schnitt fünf bis zehn Jahre veraltet.

Dazu kommt eine höchst ambivalente Erwartungshaltung vieler Kirchenmitglieder: Diese suchen, so zeigen es Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, eine Kirche, die in ihrer Kommunikationskultur den Standards von Unternehmen und anderen Dienstleistern entspricht und zugleich in jeder Begegnung Räume des „Unverfügbaren“, bereithält, so der Soziologe Hartmut Rosa. Eine klassische Paradoxerfahrung für viele Pfarrinnen und Pfarrer!

Typisch evangelisch ist nun, dass Gemeinden und Einrichtungen ganz unterschiedliche Ausbalancierungen dieses Erwartungsmixes vornehmen und zunächst digitale Erprobungsräume geschaffen haben und weiter schaffen werden. Diese Experimentierphase ist wichtig und richtig – und entspricht im Übrigen dem Kerngedanken einer agilen Vorgehensweise. Aber sie ersetzt in Zeiten nachlassender Ressourcen keine langfristige, strategische Planung. So forderte Volker Jung, der Medienbeauftragte des Rates der ekd, für das Jahr 2018 eine strategische Gesamtausrichtung aller Landeskirchen. Folgerichtig sprach sich die ekd-Synode für die Entwicklung einer digitalen Roadmap aus, die prozessoffen sein soll und möglichst viele Beteiligte einbinde. Über dieses Verfahren herrscht in den Landeskirchen mittlerweile Konsens. Die Phase der grundsätzlichen innerkirchlichen Debatten über Digitalisierung scheint dabei seit 2018 in die Reflexion über Anwendungsfragen übergegangen zu sein. Die Kirchen drücken aufs Tempo. Zu Recht.

Breit angelegter Prozess

Auch die Evangelische Landeskirche in Württemberg hat sich entschlossen, die Digitalisierung in der Kirche bewusst aktiv zu gestalten und in ihrer strategischen Planung zu berücksichtigen. Dazu wurde bereits 2016 in einem umfassenden Beteiligungsprozess eine „Digitale Roadmap“, welche die Digitalisierung in der Landeskirche mit ihrer internen und externen Dimension ganzheitlich betrachtet, entwickelt und deren schrittweise Umsetzung im Rahmen weiterer noch zu treffenden Einzelentscheidungen freigegeben. Über zehn Monate haben fast hundert Beteiligte die für die Landeskirche in Württemberg wesentlichen Themen im Bereich Digitalisierung gesammelt. Dabei flossen in die digitale Roadmap auch die Einschätzungen von Digitalisierungsexperten aus Wissenschaft, Lehre und Wirtschaft ein.

Der Konsultationsprozess war breit angelegt und integrierte in besonders starker Weise Jugendliche, junge Erwachsene und Menschen ohne besondere Bindung zur Landeskirche. Ebenfalls im Jahr 2016 hat die Landeskirche eine Projektgruppe Digitalisierung eingesetzt und mit einem Budget von zwei Millionen Euro ausgestattet. Sie kann innovative Digitalisierungsideen unbürokratisch finanziell und ideell fördern. Ein Beispiel hierfür ist das Videospiel „One of the 500“, das beim diesjährigen Kongress Christlicher Führungskräfte mit dem Innovationspreis ausgezeichnet worden ist. Mit ihm soll es möglich werden, spielerisch in die Zeit Jesu einzutauchen. In mittlerweile drei von der Projektgruppe organisierten Foren zur Digitalisierung wurden verschiedenste Themen breit diskutiert und konnten im Livestream verfolgt werden – vom Datenschutz über die Ethik in der Digitalisierung bis hin zur Digitalisierung in der Kirchengemeinde und der Einübung agiler Methoden.

Die Vorgehensweise orientiert sich an der Grundidee lernender Systeme. Viele Projekte werden erprobt. Erweisen sich Ideen als wenig zukunftsträchtig oder an den Bedürfnissen der Zielgruppen vorbeigeplant, werden sie adaptiert oder nicht weiterverfolgt.

Die Gründung eines digitalen Innovationszentrums bietet die große Chance, Start-up-Strukturen sowie eine entsprechende Mentalität in der Landeskirche zu etablieren und die Agilität bei der Entwicklung neuer Ideen zu erhöhen. Digitale Lösungen lassen sich dort durch kontinuierliches Feedback entsprechend den Bedürfnissen der Adressaten entwickeln. Etablierte Innovationsmethoden (Lean Startup, Design Thinking, Narratives Storytelling) werden eingesetzt. Netzwerkveranstaltungen dienen dem Informationsaustausch und dem Wissenstransfer zu den für die Kirche relevanten digitalen Themen. Die Landeskirche hat auch dazu seit November 2018 einen „Coworking Space“ in Stuttgart eingerichtet.

Nun, da sich erste angestoßene Projekte bereits in der Umsetzungsphase befinden, wie die Gesangbuch-App cantico oder ein Portal zur Bereitstellung hochwertiger Materialien für die kirchliche Jugendarbeit, wird deutlich, wie wichtig die Rückbindung an theologisch verantwortete Kirchenbilder ist. Denn die digitale Roadmap will eben nicht Kirchenmitglieder zu Kunden und Konsumenten kirchlicher Angebote machen, sondern Schritte zu einer Kirche unter den Bedingungen der Digitalisierung skizzieren. Betrachtet man daraufhin die Meilensteine der Roadmap näher, so betonen sie mit je eigenen Schwerpunkten reformatorische Kirche als Gemeinschaft der in Freiheit und Verantwortung lebenden Gläubigen sowie als Dienst dieser Gemeinschaft an der Welt. Beides ist Folge der Verkündigung des Evangeliums in der „Versammlung aller Gläubigen“ (CA vii).

Dazu gehören Vernetzungsangebote auf Gemeindeebene, aber auch für Interessengruppen, Milieus und die ganze Landeskirche. Die Landeskirche will den Austausch zwischen Mitgliedern und Mitarbeitenden der Landeskirche fördern und ihren Mitgliedern gerade auch im digitalen Raum Gemeinschaft anbieten. Dies soll über partizipative digitale Plattformen (soziale Netzwerke, Ideenplattformen, Streaming-Dienste) geschehen.

Digitaler Rückkanal

Digitalisierte Verwaltungsabläufe, im Oberkirchenrat etwa das Dokumentenmanagementsystem, erleichtern dies ebenso wie digitale Tools für die Gemeindearbeit. Die Kommunikation und Kollaboration in den Kirchengemeinden ist aufgrund von Teilzeitarbeit der kirchengemeindlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Einbindung vieler Ehrenamtlicher, der verschiedenen Organisationsebenen und Sondereinrichtungen sowie der Ansprache sehr unterschiedlich erreichbarer Gemeindemitglieder besonders wichtig. Digitale Instrumente helfen hier zur Zusammenarbeit und verbessern sowohl die interne als auch die externe Kommunikation.

Die Landeskirche hat mit der Bereitstellung des „Gemeindebaukastens“ (Internetauftritt für Kirchengemeinden) und durch „PC im Pfarramt“ (einheitliche zentrale PC-Ausstattung mit Fernwartung für den Pfarrdienst und die Pfarramtssekretariate) erste Schritte in diese Richtung getan. Mit der Einführung einer Gemeindesoftware soll der nächste Schritt gegangen werden. Ziel ist die digitale Erreichbarkeit und auch ein digitaler Rückkanal für die Gemeindeglieder und Mitarbeitenden. Dabei wird nicht nur an die Hauptamtlichen, sondern vor allem auch an die unzähligen Ehrenamtlichen gedacht.

Durch die Digitalisierung gibt es eine neue sozialethische Herausforderung, Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor sind bedroht, auch im Raum der Kirche. Das schließt auch die Frage nach den Arbeitsbedingungen mit ein. Digitale Medien eröffnen dabei völlig neue Wege der Zusammenarbeit, die die Kommunikationsgeschwindigkeit erhöhen, den Formalismus reduzieren helfen und zu Ressourceneinsparungen führen können. Relevante Informationen werden geteilt und stehen orts- und zeitunabhängig zur Verfügung. Weiterhin ist die informationelle Selbstbestimmung des einzelnen Bürgers mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren gegen unberechtigte Interessen großer Konzerne zu verteidigen. Für die Verlierer der digitalen Entwicklung ist Teilhabegerechtigkeit zu erkämpfen. Beides schließt eine hochreflektierte und verantwortungsbewusste Nutzung von Daten in der Kirche mit ein.

Kirche bleibt unter den Bedingungen der Digitalisierung auf ihr Kerngeschäft bezogen: Die Kommunikation des Evangeliums. Neuere Kommunikationsmodelle denken hier von Netzwerken her. Diese sind multimedial, orientieren sich nicht primär an kirchlichen Strukturen, sondern an dezentralen Sozialräumen und haben partizipativen Charakter. Diese Netzwerkkommunikation fordert unsere Kirche, wie sie gegenwärtig organisiert ist, heraus. Diese Einsicht ist durch die digitale Roadmap gerade für die Kirche selbst stärker ins Bewusstsein zu rücken. Aber sie stellt auch sicher, dass es auch zukünftig verlässliche, wohnortnahe Strukturen gibt, die kirchliches Leben abseits von Twitter, Facebook und E-Learning ermöglichen: in der Kita-Arbeit, auf dem Friedhof, bei der Notfallseelsorge.

Daher fördert die digitale Roadmap zum einen die Verbindung zwischen diesen Welten, der digitalen und der analogen Kirche. Und zum anderen stellt sie Mittel zur weiteren Profilierung ihres zentralen Auftrages zur Verfügung. Hierin liegt zugleich die größte Aufgabe für die Zukunft. Im Anschluss an Luthers Unterscheidung von äußerer und innerer Klarheit der Schrift wäre auch zukünftig die Digitalisierung als wichtige Voraussetzung zur Schaffung von Klarheit zu fördern. Das können soziale Netzwerke, Bibellernspiele, E-Learning, Datenbanken sein, oder, wenn keine Organistin vorhanden ist, die Unterstützung des Gemeindegesangs durch digitale Orgelbegleitung. Ob dann aber ein Mensch zur vollständigen Herzens-Klarheit des Evangeliums für sein Leben findet, entscheidet sich nicht auf einem Server, sondern bei Gott.

Information

www.elk-wue.de/leben/digitalisierungsprojekt

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Foto: EMH/Gottfried Stoppel

Stefan Werner

Stefan Werner ist Direktor des Evangelischen Oberkirchenrats der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.


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