Gesundung wird an Depression Erkrankten mitunter so beschrieben: Sie dürften jeden Raum ihrer Emotionen betreten, auch jenen der Traurigkeit, müssten ihn bloß wieder verlassen können. Aslı Erdoğans kurzer Text Das Haus aus Stein führt in einen Raum, der jene, die darin waren, nie wieder loslässt. Es ist das „Sansaryan Han“, während der Militärdiktatur das berüchtigste Folterzentrum in Istanbul. Ihr poetisch verdichteter Roman sei ein „Text ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mittelpunkt, dazu verurteilt, unvollendet zu bleiben“, schreibt Erdoğan im Vorwort zur deutschen Erstausgabe. Trost eines erzählerischen Zusammenhangs biete der Text nicht. „Er zieht Kreise um das „Unerzählbare“, gibt also seine Hilflosigkeit zu.“
Jenen, die ‚auf unwiderrufliche Weise geschädigte Opfer ‘ wurden, will er eine Stimme geben, was überwältigend intensiv gelingt. Er macht greifbar, wie diese Traumatisierung ohne Ende ist: „Indem wir etwas verraten hatten, waren wir dem Verrat des Schicksals anheimgefallen, waren am Leben geblieben, hatten diesen einzigen furchtbaren Sieg davongetragen und waren bis zum Ende aller Tage besiegt worden.“ In solche Abgründe blickt Das Haus aus Stein . Eine eigentliche erzählerische Struktur ist kaum auszumachen. Da ist zum einen ein gewisser A., dem Verlust von Gedächtnis und der eigenen Geschichte, letztlich also dem Wahnsinn verfallen, fristet er jetzt ein Leben auf den Straßen um das Folterhaus herum. Die Welt, in die er mit dem Überleben zurück geriet, ist für ihn ein einziges Nirgendwo und er ein Vernichteter, der stirbt. Und da ist ein – wohl weibliches – Ich, zugleich Erzählerin und offenbar ebenfalls dorthin verschleppt, die für A. seine Geschichte zu bewahren und halten versucht. Ihre Rolle ist die einer Stürzenden und kreist magisch um das Überleben des Unfassbaren. Das Stirnmal des Ausgeliefertseins und von abgrundtiefer Sinnlosigkeit wird immer deutlicher sichtbar. Erdoğan führt so in das Innere des Horrors – eine erschreckende literarische Leistung: „Du wirst über herzgraue Steine kriechen.“ Sie beschreibt nicht die Tortur, sondern versucht, nach dem Zerfall von Ich und Person stellvertretend in Sprache Halt zu finden. Das kann von vornherein keine Heilung sein. Es ist vielmehr die Weigerung, auch noch das Verstummen, das Schweigen hinzunehmen. Etliche Sprachbilder kehren immer wieder – „die letzte Kerze ihrer Widerstandskraft“, der Engel mit den gebrochenen Flügeln oder die Augen, „die du mir dagelassen hast“. Durch die Wiederholungen mutet der Text geradezu liturgisch an oder wie ein letztes noch mögliches Ritual. Oft kehren ganze Passagen wieder, collagiert, von einem Mund zum andern gelegt, so dass unklar wird, wer da spricht – A., die Erzählerin, der Engel, jemand ganz anderer? Korrespondierend zum heillos zerfallenden Ich wandert so gleichsam die Subjektivität: Ein Menschheitstext über jene, „die Menschen in die Hände fielen“. Erdoğans Roman ist ein Mahnmal – wie Buchenwald, zu dem wie auch zu Jorge Semprun sie im Vorwort selbst eine Verbindung zieht. Die Stimmung ist apokalyptisch, das Setting unentrinnbar, die Sprache in aller überwältigenden Ohnmacht geradezu pervers grandios und die Lektüre eine Grenzerfahrung. „Was in dem Roman erzählt wird, ist natürlich frei erfunden. Erfunden aber hat es die Wirklichkeit“, schreibt Erdoğan in dem Vorwort. Das Original erschien 2009. Sie erhielt den wichtigsten Literaturpreis der Türkei dafür. Nun fragt sie sich, ob sie heute noch die nötige Unbefangenheit für den Text hätte. Denn 2016 fielen ihr autokratischer Namensvetter und dessen Justiz-Schergen über sie her und warfen willkürlich Aslı Erdoğan ins Gefängnis. Ihr droht lebenslange Haft. Das Verfahren ist bloß ausgesetzt. Sie lebt jetzt im deutschen Exil.
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.