Hartmut Kreß: Staat und Person.
Kohlhammer, Stuttgart 2018,
294 Seiten, Euro 42,–.
Es ist bemerkenswert, dass der Bonner Ethiker Hartmut Kreß auf seine Ethik der Rechtsordnung (2012) nun eine politische Ethik folgen lässt. Das weckt die Hoffnung, dass der Verfasser die Eigenbedeutung des Politischen herausarbeiten, die Demokratie als politische Form beschreiben, den Beitrag der Zivilgesellschaft zum politischen Prozess würdigen, die wachsende Rolle transnationaler Politik würdigen oder die großen politischen Zukunftsaufgaben in einen ethischen Horizont rücken wird.
Der Ansatzpunkt des Verfassers ist eher krisenorientiert. Das Phänomen von failing states, eine sich ausbreitende Staatsverdrossenheit, Phänomene der Entstaatlichung und die Probleme transnationaler Politik werden als Krisenphänomene genannt. Wie diese Aufzählung zeigt, betrachtet der Verfasser die politische Ethik vorwiegend vom Staat aus, für dessen Handeln die Rechte der Einzelperson den entscheidenden Maßstab bilden. Dieses Konzept bezeichnet Kreß als „politischen Liberalismus“; auf große Beispiele für diese Denkweise – John Stuart Mill, Ernst Troeltsch, John Rawls – geht er allerdings kaum oder gar nicht ein.
Mit Beispielen aus der Geschichte des Staatsdenkens geht der Autor eigenwillig um. Er beginnt mit ausgewählten Theorieangeboten theologischer und juristischer Art aus der „Epoche des modernen Nationalstaats“. Die behandelten Positionen stammen im Wesentlichen aus dem deutschen Sprachbereich. Theologische Beiträge werden deshalb ausdrücklich gewürdigt, weil kirchliche Stimmen im 19. und 20. Jahrhundert Kreß zufolge noch ein gewisses Maß an kulturellem Einfluss hatten, wovon aber in der Gegenwart und erst recht in der Zukunft nicht mehr die Rede sein kann. Auch diese Einschätzung verstärkt seine Option für ein säkularistisches Konzept nicht nur des Staates, sondern auch der politischen Ethik. Daran werden auch historische Positionen gemessen.
Vom „modernen Nationalstaat“ wendet sich der Blick in einem zweiten Teil zurück auf die Staatsdeutung seit der Renaissance; die Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens und die Forderung einer säkularen Politik sind die daraus entwickelten Schlüsselgedanken. Von hier aus erhebt der Verfasser die kategorische Forderung, auf jeglichen Gottesbezug in modernen Verfassungen zu verzichten. Ob dabei zwischen einer Anrufung Gottes und einer Verantwortungsformel unterschieden wird, ja, ob eine religiöse Eidesbeteuerung überhaupt noch als Möglichkeit zugelassen wird, bleibt undeutlich.
Wie schon bei anderen Gelegenheiten bekräftigt Hartmut Kreß auch in diesem Buch die Überzeugung, die Eigenständigkeit der Kirchen in Fragen des Arbeits- und Dienstrechts sei rechtsstaatlich unhaltbar (siehe Seite 12) und führe zu einer „Entstaatlichung des Staates“. Diese Auffassung setzt voraus, dass infolge der Konzentration auf die Grundrechte der Einzelperson die korporativen Dimensionen der Religionsfreiheit überhaupt nicht in Betracht gezogen werden. Man mag Modifikationen des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts für erwägenswert halten; aber deren vollständige Beseitigung ohne jeden Bezug auf die Religionsfreiheit und die mit ihr verbundene Eigenständigkeit der Kirchen in der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten zu fordern, ist Ausdruck eines sehr weitreichenden Säkularismus. Hinter einer offenen, balancierten Neutralität des Staates gegenüber Religionen und Weltanschauungen bleibt diese rigorose Auffassung nach Auffassung des Rezensenten zurück.
Weil der Rechtsstaat den entscheidenden Bezugspunkt bildet, verzichtet der Verfasser auf eine Würdigung der Demokratie als politischer Form. Auch deren Gegenbilder – die Diktaturen des 20. Jahrhunderts genauso wie die präsidialen Staatsformen unserer Gegenwart – treten nicht in den Blick. Dass diese politische Ethik sehr stark im Bann rechtsethischen Denkens verbleibt, zeigt sich auch daran, dass die „Zukunftsverpflichtung“ der Politik am Beispiel der Kinderrechte verdeutlicht wird. Man stellt deren Bedeutung nicht in Frage, wenn man sich wünscht, in einer heutigen politischen Ethik auch auf Stichworte wie Frieden und Gewalt oder Klimawandel und Umwelt zu stoßen.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.