Was ist gut?

Zur Debatte um die Qualität pastoralen Handelns
Pastor im Talar mit Beffchen  mit hält Oblate in der Hand
Gehört zum pastoralen Handeln: Austeilung des Abendmahls.

Schwindende Ressourcen der Kirchen, abnehmende Nachfrage nach ihren Angeboten und zunehmende Sorgen um Nachwuchs für die kirchlichen Berufe, speziell für den Pfarrberuf, führen derzeit zunehmend zur Frage nach der Qualität des kirchlichen Angebotes. Sie wird insbesondere als Frage nach der Qualität des Handelns von Pfarrpersonen gestellt. Dahinter steht die Vermutung, dass vor allem sie es seien, an denen die Resonanz auf die Kirche hängt, genauer: an ihrem entweder abschreckenden oder anziehenden Handeln. Und darum heißt es derzeit allerorten: An die Qualitätsdebatte müssen wir ran, auch wenn es weh tut.

Die Debatte ist aufgeladen, das Thema ist sensibel. Denn die Qualität des pfarramtlichen Handelns ist einerseits tatsächlich schwerer messbar als in anderen Professionsberufen, in denen äußerlich sichtbare Erfolge eine wesentliche Rolle spielen. Dem einen gefällt’s halt, was der Pfarrer, die Pfarrerin tut, die andere schreckt es ab. Andererseits erhöht gerade dieses vielbeschworene subjektive Erleben von Qualität (oder eben auch von fehlender Qualität) den Druck, über das rein Subjektive hinausgehende Kriterien der Qualität zu diskutieren. 

Die Forderung nach Qualität des Agierens einer Pfarrperson wird dort brisant, wo es um handfeste Kriterien der Qualität geht: sichtbar und evaluierbar. Dazu soll hier ein Vorschlag gemacht werden. 

Charakteristik der Tätigkeit

Dazu fragen wir zuerst nach dem Spezifikum pastoralen Handelns gegenüber anderen kirchlichen Berufen: Was kann ein Pfarrer, eine Pfarrerin anders (oder vielleicht gar besser) als Angehörige anderer Berufsgruppen in der Kirche? Wer nach der Qualität schaut, muss sich an dem orientieren, was für die Tätigkeit einer Pfarrperson charakteristisch ist. 

Dahinter steht die These, dass die Qualität sich aus dem konkreten Handeln einer Pfarrperson ergibt und an ihr ablesbar ist – nicht aber aus etwas, was diesem Handeln der Pfarrperson vorausliegt, zum Beispiel ihrer Ausbildung, den ihr zur Verfügung stehenden fachwissenschaftlichen Kenntnissen oder Ähnlichem. 

Mittellage gesucht

Pfarrpersonen unterscheiden sich von den anderen Berufsgruppen genau dann – aber auch nur dann –, wenn sie in ihrem Handeln das Ganze ihrer Kirche in den Blick nehmen und dafür auch durch ihre Berufstätigkeit Verantwortung übernehmen. Ein solch deutliches Handeln besteht in der Fähigkeit, konkrete Handlungsformen in zwei Richtungen zu verantworten: einmal gegenüber den Quellen und der Tradition der eigenen Konfession im Sinne einer Vergewisserung an den Idealen, sodann zugleich gegenüber den vielfältigen Erscheinungsformen des christlichen Lebens der Gegenwart im Sinne einer Probe auf die Realitätstauglichkeit des Überlieferten. Dieses Handeln ist also die Fähigkeit zur je konkreten Ausmittlung zwischen der Verantwortung einerseits für die geschichtliche Gestalt der Kirche und andererseits für das gemeinsame Leben der Christen in der Kirche, wie es der Praktische Theologe Dietrich Rössler (1927–2021)zusammenfassend  formuliert hat.

Damit ist das Grundmuster der Handlungsaufgabe einer Pfarrperson benannt und der Blick kann sich auf die Suche nach einem konkreten Kriterium für die Qualität solchen Handelns richten. Ein solches Kriterium darf einerseits nicht zu allgemein sein, andererseits auch nicht zu kleinteilig. Gesucht ist eine Mittellage, die einerseits weit genug ist, um möglichst viele konkrete Handlungssituationen sowie möglichst viele handelnde Pfarrpersonen in ihren unterschiedlichen Selbstverständnissen zu erfassen; andererseits muss sie detailliert genug sein, um auch tatsächlich evaluiert werden zu können.

Spannungsvolle Anforderungen

Um dies zu erreichen, muss das oben genannte Spezifikum des pastoralen Handelns aufgenommen und konkretisiert werden: Die Fähigkeit der Pfarrperson, das Ganze der Kirche im Blick zu behalten, besteht in der Fähigkeit, mit einer Vielzahl von verschiedenen Anforderungen, Wünschen und Bedürfnissen, die miteinander konkurrieren und sich teils sogar widersprechen. Und das gilt nicht nur für die Tätigkeit generell, sondern für nahezu jede einzelne Handlung. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Spannungen nicht nur zwischen der Überlieferung und den zeitgenössischen Anforderungen, zwischen Geschichte und Gegenwart bestehen. Sie besteht auch zwischen den unterschiedlichen Organisationsformen innerhalb einer Kirche (Landeskirche, Region, Gemeinde). Und die im Alltag vermutlich konflikthaltigste Spannung besteht zwischen Anforderungen, die die verschiedenen Mitglieder einer Gemeinde an ihre Pfarrperson richten.

Stets geht es darum, dass das konkrete Handeln der Pfarrperson auf möglichst viele dieser Spannungen reagieren muss und dabei möglichst viele der unterschiedlichen Anforderungen aufnehmen und so in Beziehung setzen muss, dass sie in ein Ganzes aufgehoben werden: Das Einzelne wird bewahrt, es wird relativiert und es wird integriert. Das In-Beziehung-Setzen ist hier zentral: Die Anforderungen müssen aufgenommen und miteinander vermittelt werden. Das aber ist ein Anspruch, der sich für jede Tätigkeitsform konkretisieren lässt: für den Gottesdienst, für die Predigt, für die Kasualie, für das Seelsorgegespräch, für den Unterricht, für das Leitungshandeln und so weiter. 

Gut und weniger gut

Die zentrale Perspektive ist also die der gelungenen Integration des Verschiedenen. Integrativität, also die Fähigkeit zur Integration, ist das Kriterium, das Maß gelungener Integration der Prüfstein. Damit ist ein Kriterium gegeben, das hinreichend genau erklären kann, worin sich das Gute vom weniger Guten unterscheidet. Das heißt nicht, dass andere Kriterien, die man zusätzlich nennen könnte, bedeutungslos werden. Aber für den Zweck der Qualitätsentwicklung genügt es, auf diesen einen Punkt zu achten. Das Handeln der Pfarrperson auf allen Feldern und in allen seinen Formen, im Gottesdienst und in der Predigt, im Kasualhandeln und im Unterricht und in der Leitung, in der ethischen und politischen Positionierung und auch noch in der individuellen Seelsorge müsste sich also von allen Beteiligten in möglichst hohem Maß erleben lassen als das Bemühen um die Kultivierung einer Gemeinschaft der Verschiedenen. Diese Integrationsleistung besteht aber nicht allein in der Integration der ja eher zufällig gegebenen Vielfalt der aktiven Menschen in der konkreten Parochie, sondern diese Integrationsleistung schließt auch das Bemühen um die Integration der oben genannten sachlichen Spannungen zwischen Traditionsgebundenheit und Gegenwartsorientierung, zwischen Kirche und Gemeinde, zwischen christlicher Überzeugung und neuzeitlichem Wahrheitsbewusstsein ein. Auch diese Spannungen müssen im konkreten Handeln integriert werden als Bemühen um die Kultivierung einer Zusammenbestehbarkeit des Verschiedenen

Kurz und zusammengefasst gesagt: Es handelt sich um eine performative Tätigkeit, die sowohl Personen als auch Perspektiven in den Zusammenhang bringt. Je stärker der Pfarrperson von allen Beteiligten – also: von sich selbst, von den Kirchenleitungen, den Kolleginnen und Kollegen, den Gemeindegliedern – diese Integrationsleistung als Bemühen um die Gemeinschaft der Verschiedenen und die Zusammenbestehbarkeit des Verschiedenen attestiert wird, um so besser ist ihr Handeln.

Kreativer Akt

Leitend ist dabei zweifellos das Bild der Parochie, in der diese Integration geleistet wird. Doch die Parochie ist dabei nur der ideale und exemplarische Fokus: Integrationsleistungen müssen auch erbracht werden in übergemeindlichen Tätigkeiten, im kirchenleitenden Handeln, in Bischofsworten und anderem mehr. 

Integration ist dabei als ein kreativer Akt gedacht: Es geht nicht ausschließlich um die Integration ins Bestehende, sondern um die kreative Fortentwicklung des Bestehenden in neue und angemessene Formen des Gemeinsamen. Gelungene Integration zeigt sich dabei als performativer Akt: Man darf die Mühe nicht sehen, vielmehr muss sich das Erlebnis der Integration des Individuellen ins Allgemeine einstellen, durchaus auch in präreflexiven Formen. Wer einer handelnden Pfarrperson begegnet, im Gottesdienst, beim Taufgespräch, in der Leitung einer Kirchenvorstandssitzung, im Editorial des Gemeindebriefes, auf dem Elternabend der Konfirmanden, muss das Gefühl haben: Es passt, es sitzt, für mich und für die anderen. Es ist meine Pfarrperson, die handelt, und in ihrem Handeln ist mein Christsein gut aufgehoben. Und gleichzeitig ist festzuhalten: Integration heißt nicht Beliebigkeit, es gibt auch Grenzen der Integration. Integration des Individuellen ins Allgemeine ist stets die Integration des Individuellen in ein gemeinsames Bewusstsein, das verschiedene Ausformungen kennt, aber an den Rändern auch Grenzen: Wer bestimmten Grundsätzen (zum Beispiel dem der Integration oder der Pluralität) widerspricht, kann nicht dazugehören und kann auch nicht integriert werden.

Theologische Kompetenz und Konziliarität

Integrationsfähigkeit als Konkretion der Fähigkeit zur Verantwortung für das Ganze der Kirche soll idealerweise durch die erste und zweite Ausbildungsphase erreicht werden. Allerdings ist zu bezweifeln, dass das erfolgreiche Durchlaufen der beiden Ausbildungsphasen und der Erwerb formaler Qualifikationen bereits die Bereitschaft und Fähigkeit zur Integrativität im beschriebenen Sinne garantiert. 

Die in diesem Zusammenhang vielbeschworene theologische Kompetenz ist jedenfalls nicht einfach die Summe der Kenntnisse und Kunstregeln, die im Lauf der zweistufigen Ausbildung angeeignet wurden. Denn diese müssen angewandt und umgesetzt werden, um im Sinne Ernst Langes (1927–1974) zu einer ökumenischen Kompetenz zu werden, die den Gedanken der Konziliarität aufnimmt und realisiert. Lange meinte damit die Fähigkeit der Pfarrperson, über den eigenen Horizont hinaus zu denken und in Konflikten das Potenzial zur gemeinschaftlich zu erreichenden Veränderung und Verbesserung zu sehen.

Konkretes beobachten

Entscheidend dürfte es auf dem Weg zum Erwerb einer solchen Kompetenz jedenfalls sein, die besonderen Kompetenzen nicht gleichsam aus theoretischen Bestimmungen der Aufgaben der Pfarrperson abzuleiten, sondern aus konkreten Arbeitssituationen. Die Ausbildung von Ärzten und Ärztinnen wird inzwischen zunehmend durch die Orientierung an sogenannten EPAs (Entrustable Professional Activities, deutsch: vertrauenswürdige berufliche Tätigkeiten) strukturiert. Das sind konkrete, beobachtbare ärztliche Aufgaben (wie beispielsweise einen Port zu setzen oder eine Visite zu leiten oder einen Kaiserschnitt durchzuführen), die der Auszubildende nachweislich selbständig durchführen können muss. Kompetenzen bewähren sich erst dann, wenn Wissen, Haltungen und Fertigkeiten zusammengeführt werden in die Fähigkeit, konkrete, reale, beobachtbare berufliche Tätigkeiten zu bewältigen.

Übertragen auf die Pfarrpersonen bedeutet dies: In jeder einzelnen ihrer konkreten Berufsaktivitäten (zum Beispiel: einen Gottesdienst zu feiern, eine Predigt zu halten, ein Kasualgespräch zu führen oder eine Kirchenvorstandssitzung zu leiten) muss die oben genannte Verantwortung für das Ganze der Kirche zum Ausdruck kommen. Hinzu kommt: Auch das Ensemble der einzelnen Berufsaktivitäten muss, als Profil der Pfarrperson, diese Verantwortung für das Ganze der Kirche erkennen lassen.

Theologiestudium nur ein Weg

Man wird damit rechnen müssen, dass die entsprechenden Qualifikationen auf sehr verschiedenen Wegen angeeignet werden können. Das Theologiestudium ist und bleibt sicher ein Weg, aber nicht der einzige Zugang zur Bewältigung solcher EPAs. Zugespitzt gesagt: Das Beherrschen der für das Pfarramt notwendigen EPAs macht jemanden zur Pfarrperson, aber die Pfarrperson beherrscht nicht automatisch – und vor allem nicht exklusiv – die EPAs.

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass auch Träger anderer Berufsgruppen wie Diakone, Kirchenjuristinnen, Prädikantinnen und andere ihre Tätigkeiten mit diesem Blick auf das Ganze der Kirche ausüben. Ihre Tätigkeit unterscheidet sich dann – jenseits aller formalen Zurechnungen – allenfalls graduell, aber nicht qualitativ von der Tätigkeit der Pfarrpersonen. Sie agieren dann faktisch als Pfarrpersonen. Aber das ist eigentlich ein neues Thema.

 

 

 

 

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Christian Albrecht

Christian Albrecht (Jhg. 1961) ist Professor für Praktische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 

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