Da sein, wenn alles zerbricht

Wie kann Kirche die Notfallseelsorge auch in Zukunft verlässlich anbieten?
Foto: Christian Lademann

Mitten in der Nacht um halb eins klingelt der Pager neben ihrem Kopfkissen. Leicht schlaftrunken greift sie nach dem Gerät. „Frustrane Reanimation“ und eine Adresse steht da. Sie ruft bei der Leitstelle an. 52 Jahre, Familienvater, die Reanimationsversuche nach einem Herzinfarkt blieben erfolglos. Sie zieht sich die Kleidung an, die sie sorgsam bereitgelegt hat. In der Küche trinkt sie noch einen Schluck Wasser und atmet tief durch. Dann greift sie nach dem kleinen Koffer. Eine Kerze, ein paar Taschentücher, Wasser, die Nacht könnte ja länger werden, eine Schachtel Zigaretten, ein paar Gummibärchen und ein Teddybär, falls doch Kinder vor Ort sind. Mehr hat sie nicht dabei, wenn sie in einen Einsatz fährt. Noch einmal tief durchatmen am Steuer des Wagens, dann losfahren. Nicht zu schnell. „Fahrt in Ruhe. Wir retten niemanden. Wenn wir kommen, ist die ganze Tragödie schon passiert.“ So hat man ihr das in der Ausbildung gesagt.

20 Minuten später kommt sie am Einsatzort an. Vor der Tür begegnet sie jemandem vom Rettungsdienst. Ein kurzes Briefing. Nur die Ehefrau ist im Haus. Sie hatte auf Telefonanleitung der Leitstelle versucht ihren Mann selbst zu reanimieren. Erfolglos. Als die Einsatzkräfte eintrafen, war der Mann bereits tot. Auf der Schwelle hält sie noch einen Moment inne, dann geht sie hinein in den Flur. Ob sie drinnen auf lautes Weinen trifft oder auf eine Frau, die ganz still an die Wand schaut, das weiß sie nicht. Aber sie wird bleiben, so lange es nötig ist. Da sein, wenn sonst niemand da wäre. Ein Taschentuch reichen. Einen Kaffee kochen. Schweigen aushalten. Das soziale Netz aktivieren. In den frühen Morgenstunden kommt der Sohn bei seiner Mutter an. Noch eine gute halbe Stunde sitzt sie mit den beiden am Küchentisch. Dann verabschiedet sie sich. Müde sinkt sie in ihren Autositz und fährt nach Hause. Noch schnell bei der Tankstelle vorbei und einen Schokoriegel kaufen. Das ist ihr Ritual. Nach einem Einsatz gibt es etwas Süßes. Bissen für Bissen isst sie die Schokolade, während sie das kurze Einsatzprotokoll in ihren Rechner tippt. Und mit jedem Bissen lässt sie ein wenig los…

Abgründe und Grenzsituationen

Mittlerweile existiert organisierte Notfallseelsorge als Elemente der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) nahezu flächendeckend in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Notfallseelsorgende begleiten Polizeibeamte beim Überbringen von Todesnachrichten, werden nach Suiziden alarmiert, um bei den Hinterbliebenen zu sein, oder sind auf Autobahnen bei Großschadenslagen unterwegs. Die Einsatzarten sind dabei so mannigfaltig, wie es die Abgründe und Grenzsituationen des Lebens sein können. Neben der Notfallseelsorge für Betroffene gibt es zudem Notfallseelsorgende, die zusätzlich qualifiziert sind, um in multiprofessionellen Teams Einsatzkräfte nach belastenden Ereignissen zu begleiten.

Kaum ein kirchliches Handlungsfeld erscheint so spannungsreich wie dieses. Nicht selten haben Notfallseelsorgende nach intensiven Einsätzen subjektiv das Gefühl, kaum etwas sinnvolles getan zu haben in dieser einschneidenden Situation. Bei näherem Hinsehen wird man oft darauf kommen, dass es eben schlicht das Da-Sein war, das in diesem Moment höchst relevant für Betroffene war. Die Frage, ob ein Schluck Wasser gebraucht wird, der gemeinsame Spaziergang um den Block, die Unterstützung dabei, ein Stück weit aus der Ohnmacht zu kommen. Das Christliche darin macht sich meist nicht verbal explizit, sondern es wird für Menschen erfahrbar in der Haltung. Es ist eine Haltung, die sich speist aus der Frage Jesu: „Was willst Du, dass ich Dir tue?“ (Lk 18, 41)

Verlässlicher Partner

In den verschiedenen Regionen ist die Notfallseelsorge organisatorisch ganz unterschiedlich aufgestellt und wird neben Pfarrpersonen auch von ehrenamtlich Engagierten ausgeführt. Während die Tätigkeit in einigen Landeskirchen zur Dienstpflicht von Pfarrpersonen zählt, haben andere Regionen weitestgehend ehrenamtliche Strukturen etabliert. Auch im Kontext ehrenamtlicher Strukturen sind es aber nicht selten Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich hier engagieren und diesen Dienst tun.

Mich bewegt gegenwärtig die Frage, wie es mit diesem gesellschaftlich so intensiv nachgefragten Arbeitsgebiet weitergeht. In wenigen Jahren werden wir 50 Prozent weniger Menschen im pastoralen Dienst haben. Dies wird erhebliche Konsequenzen erzeugen im Hinblick auf die Frage, wie verlässlich wir weiterhin dieses Handlungsfeld bespielen können. Einzelne Regionen, in denen bereits viele Pfarrstellen unbesetzt sind, kommen schon jetzt in Situationen, die Notfallseelsorge zeitweise abmelden zu müssen. Das Signal, das so kommuniziert wird, ist natürlich fatal. Im Vergleich zeigt sich, dass die Notfallseelsorge vor allem in den Regionen häufig angefragt wird, wo sie sich als verlässlicher Partner erwiesen hat. Wenn diese Verlässlichkeit nicht mehr gegeben ist, wird es perspektivisch schwierig werden wieder neue Strukturen zu etablieren.

Ehrenamtliche ausbilden

Die Kirchen tun gut daran, finanzielle und personelle Ressourcen jetzt intensiviert in gute Ausbildung von Ehrenamtlichen für dieses Arbeitsfeld zu investieren. Ein wenig scheint es mir dennoch ein Wettlauf gegen die Zeit zu sein. Die Frage ist, ob wir schnell genug sein werden, größere Pools von Ehrenamtlichen aufzubauen oder ob der Rückgang der Zahlen im pastoralen Dienst diese Initiativen überholen wird. In jedem Fall lohnt es sich, den Wettlauf aufzunehmen, um ein Arbeitsfeld nicht zu verlieren, in dem das Handeln kirchlich Aktiver derart selbstverständlich nachgefragt und angenommen wird wie in der Notfallseelsorge. Es ist gut, wenn auch andere player sich im Kontext der Psychosozialen Notfallversorgung engagieren. Dennoch sollten wir es auch als Kirchen tun. Wo sonst werden Spezialist*innen für Tod und Sterben so unmittelbar gebraucht?

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.

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