Kämpferisch, zuspitzend prophetisch, aufklärend kapitalismuskritisch: Mit theologischer Hingabe und politischer Analyse hat der evangelische Theologe und Sozialethiker Ulrich Duchrow die Ökumenische Bewegung nachhaltig bewegt. Die persönliche, leidenschaftlich ökumenisch orientierte Zeitreise über die vergangenen fünfzig Jahre, die der 90-jährige Autor den kommenden Generationen als eine Art Bekenntnis und Vermächtnis hinterlässt, dokumentiert das gesellschaftskritische Rütteln und Schütteln an Machtstrukturen und selbstgenügsamen Institutionen, die „die zukünftigen Lebensmöglichkeiten zerstören“.
Akribisch und global wie regional vernetzt nimmt er in seinem Rückblick die weltweite Kirche – im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und der Lutherischen und Reformierten Weltbünde – mit ihren Botschaften und Selbstverpflichtungen zum Konziliaren Prozess und zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung beim Wort. Mehrere dieser Verlautbarungen stammen aus seiner Feder und haben die Wechselwirkung der Sozialgestalten von Kirche gestärkt – von der Basis bis zu den internationalen Kirchenbünden.
Für Kirchengemeinden, Basisbewegungen, „Nachfolgegruppen“, Initiativgruppen und Netzwerke – und deren Ausstrahlung auf Zivilgesellschaft und Gewerkschaften – engagiert sich Ulrich Duchrow bis heute mitreißend, etliche gehen auf seine Initiative zurück.
Dabei weist der Theologe auf den weltweiten Aspekt der „konziliaren Einheit“ hin – mit seinem Ursprung im Apostelkonzil in Jerusalem (Apostelgeschichte 15 und Galater 2). „Konziliare Einheit“ will – Duchrow at its best – konfliktfähig sein und zielt auf Versöhnung, weil sie ausgeht „von der um das Abendmahl versammelten christlichen Gemeinschaft vor Ort und der weltweiten Gemeinschaft aller Ortskirchen“. In dieser „konziliaren Einheit“, die Spannungen lebt, aushält und überwindet, sieht Ulrich Duchrow „ein Modell für die Heilung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden“.
Die Vielzahl seiner Impulse und Publikationen lässt nach dem Movens fragen, das etwa die ethisch-konfessorischen Akzente erklärt. Er selbst bezeichnet Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers als „theologische Muttermilch“. Und die zweite These der Barmer Theologischen Erklärung war starker Antrieb: „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ und „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“.
So wundert es nicht, dass der Begriff „status confessionis“ im Widerstand gegen die Apartheid in Südafrika und später der Terminus „processus confessionis“ zur wirtschaftlichen Ungerechtigkeit in Ulrich Duchrows Zeitreise mehrfach entfaltet wird. Die Arbeit in „Nachfolgegruppen“ wurde dadurch geprägt, ebenso die Gründung seiner Kairos-Bewegung 1990 in all ihren Variationen, die ohne die Südafrika-Arbeit nicht zu denken ist. Beeindruckendes Beispiel war das von Duchrow 2010 angestoßene internationale Projekt „Radicalizing Reformation“ mit 94 Thesen, um auf der Basis sozialgeschichtlicher Bibelforschung den „Blick von unten“ zu schärfen und eine mit den Armen solidarische Kirche zu werden.
Den Konflikt hat Ulrich Duchrow nicht gescheut, weder um die Ökumene noch um „die Verwerfung des imperialen Kapitalismus“, und in jüngerer Zeit erst recht nicht um Israel und Palästina. So ist Duchrows Schlusskapitel gewidmet der „Interreligiösen Solidarität für Gerechtigkeit in Palästina-Israel“ und dem Kairos-Palästina-Netzwerk, das seit 2009 existiert und wiederholt dem Antisemitismus-Vorwurf ausgesetzt war. Zu Unrecht.
Der Begriff „Apartheidstaat“ für Israel ist indes zu Recht umstritten, auch wenn nicht nur der Ökumenische Rat der Kirchen Duchrows Sicht teilt. Gleiches dürfte für die wirklich schwierige Bezeichnung Israels als „Teil des globalen imperial-kapitalistischen, rassistischen und militaristischen Apartheidsystems mit seiner kolonialistischen Geschichte“ gelten. The floor is painfully wide open. Ein zukunftsfähiges Zeugnis politischer Prophetie bleibt gleichwohl Ulrich Duchrows in Jahrzehnten gelebter Widerstand gegen eine Kirchentheologie, wann und wo immer sie Versöhnung ohne Gerechtigkeit predigt.
Wolfgang Gern
Wolfgang Gern ist ein evangelischer Theologe und Pastor und war Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Hessen und Nassau e. V. mit Sitz in Frankfurt sowie Sprecher der Nationalen Armutskonferenz.