Der aus fünf Aufsätzen bestehende Sammelband Am Ende der christlichen Welt geht auf eine Tagung im Herbst 2023 an der Zürcher Theologischen Fakultät zurück und stellt die Frage, ob und wie Karl Barths Theologie den gegenwärtigen Kirchen bei ihrer Orientierung in der säkularisierten Welt helfen kann. Alle Autor:innen bejahen die Frage, und zwar durchaus unterschiedlich.
Mitherausgeber Michael Pfenninger geht einführend von der Kirchlichen Dogmatik aus und findet vor allem in den Bänden IV/3 und IV/4 manche Äußerungen Barths, die zum einen das Ende des „christlichen Abendlands“ illusionslos wahrnehmen und damit zu einer „Ekklesiologie der Bescheidenheit“ raten. Zum anderen zeigt Pfenninger aber auch auf, dass die Welt in Barths Sicht „zwar empirisch areligiös, aber theologisch gesehen, soteriologisch gesprochen, nie ganz gottlos sein kann“.
Bei dem Zürcher Praktischen Theologen Ralph Kunz kommt Barth vor allem in den Fußnoten vor, sein Fokus liegt auf der Debatte über unterschiedliche Säkularisierungstheorien, die im Gefolge der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung „Wie hältst du’s mit der Kirche?“ (KMU VI) wieder deutlich geworden sind. Was bedeuten diese Theorien für die Kommunikation des Evangeliums?
Der Berner Systematiker Reinhold Bernhardt geht religionstheologisch nicht nur „über Barth hinaus“, sondern auch über das Christusereignis als einzige Gottesoffenbarung. Angesichts der heutigen Bedeutung anderer Religionen auch für die Kirche postuliert er: „Gott ist grösser und reicher als alles, was sie [die Kirche] von ihm zu kennen meint.“
Oliver Albrechts erfahrungsgesättigter Beitrag „Simplify your Pfarramt“ ist aus der Perspektive der Tätigkeit in einer deutschen Landeskirche geschrieben. Schwungvoll analysiert der hessische Propst kirchliche Reformbestrebungen und -verweigerungen, lehnt das Interpretationsmodell „Säkularisierung“ als untauglich ab und kommt mit Barth zu dem Fazit: „Ich glaube in der Tat, dass es genau darum in unserem Beruf geht: dass einer oder eine in der Gemeinde mit ganzer Existenz lebt, dass Theologie, Nachdenken über und öffentliche Rede von Gott das aller-, allerwichtigste für eine Kirche ist, heute mehr denn je.“
Die reformierte Theologin Christina Aus der Au wendet Barths Ekklesiologie aus kirchenleitender Perspektive auf die Thurgauer Landeskirche an und kommt so zu befreienden Erkenntnissen, die die Kirche theologisch auf die Welt ausrichten. Sie stellt allerdings auch fest, „dass Barth mit ‚Kirche‘ nicht die Organisation meint, deren Strukturen auf Dauer angelegt sind, mit einer verlässlichen Personalstruktur und verbindlichen Dienstleistungsangeboten“.
Interessant wäre es gewesen, wenn Christiane Tietz, Systematische Theologin und inzwischen Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, zu diesem Buch nicht nur die Mitherausgeberschaft, sondern auch einen eigenen Text beigetragen hätte. Vielleicht hätte dies in dem vorliegenden Sammelband einen deutlicheren roten Faden sichtbar werden lassen. Aber auch so geben die fünf Beiträge viele unterschiedliche Denkanstöße für den aktuellen Nutzen von Karl Barths Kirchlicher Dogmatik für die Kirche ein gutes Halbjahrhundert nach seinem Tod. Offenbar lässt sich Barth doch nicht so schnell in die Kirchen- und Dogmengeschichte abschieben, wie manche sich dies zwischenzeitlich erhofft haben mögen.
Vicco von Bülow
Pastor Dr. Vicco von Bülow ist Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Hannover.