Menschen wie wir

Die Männer des Richterbuchs

Kaum Beachtung findet das biblische Buch der Richter in Theologie und Kirche. Es wirkt allzu archaisch, erzählt es doch von brutaler Gewalt in endlosen kriegerischen Auseinandersetzungen, von Vergewaltigung und grausamen Frauenopfern. Es scheint schwer, da einen religiösen Sinn zu entdecken. Die schnellfertige Abwehr lässt die evangelische Theologin Nora Schmidt nun nicht gelten. In ihrem Buch entdeckt sie die Figuren des Richterbuchs als Menschen, die uns auch heute etwas zu sagen haben.

Schließlich erzählt das Buch der Richter nicht nur von militärischen Auseinandersetzungen nach der Landnahme. Immer geht es dabei auch um menschliche Probleme, um Familientragödien und Ehekonflikte, um Schuld, Scham und Einsamkeit. Diesen Nöten geht sie tiefenpsychologisch deutend nach. Sie versteht die Erzählungen als Mythen, in denen symbolisch verdichtet seelische Konflikte und innere Entwicklungen geschildert werden. Dabei lässt sie weder die historisch-kritische Exegese noch die feministische Kritik an den Richter-Erzählungen außer acht. Aber das ganzheitliche Menschenbild, um das es der feministischen Theologie geht, will sie auch für die in männlichen Rollenmustern fixierten Richtergestalten gelten lassen: Sie will die Menschen hinter den Helden und Mördern entdecken.

Die Texte tiefenpsychologisch zu deuten, heißt, sie wie Träume als Innensicht einer Person zu lesen. Die in der Erzählung auftretenden Figuren, Orte und Handlungen werden als Bilder für die innere Realität eines Menschen aufgefasst. Die Akte der Gewalt stehen dann für die Vehemenz einer seelischen Not. So entdeckt Nora Schmidt im Richter Barak einen Sohn, der sich von der als übermächtig erlebten Muttergestalt Debora nur zu trennen vermag, indem er sein kindliches Ich abspaltet und tötet. Das hilft am Ende beiden zur Freiheit. Jeftach, der als Sohn einer Hure von seinen Brüdern ausgestoßen wird, entwickelt eine narzisstische Persönlichkeit, muss immer Sieger sein und dafür seine weibliche Seite in Gestalt seiner Tochter opfern. Emotionale Lebendigkeit bleibt ihm versagt. Jeftach ruft auch das Schicksal traumatisierter Veteranen wach. Simson, Sohn einer Mutter, die ihn von Anfang an überhöht, bleibt der ewige Außenseiter, der sich mit Bindung schwertut und kein Gegenüber findet, das ihm gerecht wird. 

An der schrecklichen Erzählung von dem Leviten, der seine Frau den Feinden zur Vergewaltigung überlässt und sie dann zerstückelt, exemplifiziert Nora Schmidt die heillosen Folgen kindlicher Traumatisierung. Die Gideon-Erzählung deutet sie – mit Rekurs auf C. G. Jung – als Krise eines Menschen in der Lebensmitte. Gideon gelingt es, das Unbewusste zu integrieren, tiefe Ängste zu überwinden und in Beziehung zu kommen mit dem großen Anderen, dem Wurzelgrund des Lebens. Es sind aber gar nicht zuerst die Diagnosen, die hier faszinieren. Es ist vor allem die außerordentlich umsichtige und präzise Art und Weise, wie Nora Schmidt den Texten nachgeht und ihre Symbole entschlüsselt. Dass sich auch in vermeintlich anstößigen Texten tiefes Wissen verbergen kann, legt sie überzeugend dar und lädt ein, die tiefenpsychologischen Deutungsmöglichkeiten der Bibel ernst zu nehmen. Darüber hinaus möchte sie einen Beitrag leisten zu einer urteilsfreien, traumasensiblen Seelsorge. Auch wenn die Männer (und Frauen) der Richterzeit kaum Identifikationsfiguren für moderne Menschen sein können, mögen die alten Erzählungen doch helfen, die Heftigkeit seelischer Konflikte zu verstehen und zu akzeptieren.

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Angelika Obert

Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).

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