Begraben auf Maps

Tagebuch des Grauens

Tausendsassa-Philosophin Hannah Arendt sah den entscheidenden Irrtum Martin Heideggers darin, „der Wirklichkeit in den Gestapokellern und den Folterhöllen der Konzentrationslager, die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand entstanden, in angeblich bedeutendere Regionen auszuweichen.“ Die Mühe macht sich aber keiner mehr. Die Restpfütze Gewissen, sofern je vorhanden, lässt man nun durch Leugnen der Wirklichkeit aufsaugen.

„Post-Faktisch“ heißt denn auch eines der 87 Gedichte in Oksana Maksymchuks Tagebuch einer Invasion, das vom Davor bis ins Heute in der überfallenen Ukraine reicht: „Schau, wie kunstvoll arrangiert, / als hätte irgendwer das kuratiert /mit einem Händchen für den Effekt, /von opaker Grausamkeit, düsterer Erotik.“ Also alles nur geträumt, „eine jener furchtbaren Nächte /voll Suff und Kotzerei // bis zum Blackout“? Das darauf folgende „Stillleben einer Person mit Mops“ über den Spaziergang einer Frau in der Straße ihrer Kindheit („immer noch im Wintermantel, /obwohl es bereits wärmer wurde“) dementiert lakonisch: „Etwas biss sie /in den Rücken, sie fiel /lag da /auf dem Gehweg // Am nächsten Tag brachte ein Nachbar /ein Laken mit kleinen Rosen /für das, was einst ihr Körper war, /einen passenden Kissenbezug für den Mops“. Aber „Rakete im Raum“ kommt noch trockener daher: „was die Rakete gemeinsam hat /mit dem Raum voller Kinder /ist ihr gegenwärtiger Standort // jemand dachte die Rakete /gehöre in den Raum mit den Kindern /und jetzt ist sie da // mit der Zeit /wird jemand anderes kommen /und die Einzelteile einsammeln // von der Rakete von den Kindern /wird weinen und Flüche /in den Himmel schreien // aber momentan /sind diese Rakete und diese Kinder /eine ungeordnete Angelegenheit // ein Puzzle /das auf seine Lösung wartet.“

Ein Paradebeispiel für die Wirkungstreffer, die sie mit diesen Gedichten fulminant, taff und intim erzielt. In einfacher Sprache gehalten meiden sie Metaphern. Öfters vorkommende Sirenen oder Vögel, der Fluss („Er weint nicht /wenn er die Leichen wiegt /und mit den Überresten spielt /neutral /wie der Fluss eines Gedichts“), die Zerstörung („Unsere Stadt, sie mag aussehen wie ein /Haufen Schutt /aber sie besteht aus demselben Stoff /nur die Form hat sich verändert“) stehen bloß für sich. Mehr Bilder brauchen sie nicht.

Maksymchuks Material sind Stimmen, Erlebtes, Fotos, Drohnenaufnahmen, Nachrichten, Sätze von Freunden, Verwandten, Zeugen. Eine philosophische Grundierung ist sachte spürbar, in Zitaten, aufgeladenen Worten, doch stets fasst sie das Durchdachte in einfache Sprache, auch gewichtiges Poetologisches.

Die 1982 in Lviv Geborene, deren Mutter mit ihr als Teenagerin in die USA zog, hat einen Doktor in antiker Philosophie und ein Händchen, das Schwere sagbar zu fassen. Sie pendelt zwischen den USA, Europa und ihrer Heimatstadt. Da erschienen in den Nullerjahren von ihr zwei gefeierte Lyrikbände auf Ukrainisch. Sie arbeitet als Übersetzerin. Still City, wie das Tagebuch im Original heißt, hat sie auf Englisch geschrieben, der Sprache, die sie mit ihren Kindern spricht, jedoch nicht als Zeugin, sondern als Dichterin. Die Poiesis, Durcharbeiten und Erschaffen, ist in jeder Zeile so luzide greifbar, als würfe sie einen Anker. Ob er Halt findet, hängt an uns, den Lesern.

Ihr Ton ist leicht, verführerisch musikalisch. Dass ihr zärtlicher Sarkasmus so sympathisch empathisch ist, liegt auch daran. Keine leichte Kost, aber nahrhaft. Auch ihr Humor überlebt bislang: „Und wenn ich sterbe /im Krieg, /dann begrabt mich auf Maps // Ich bin auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen /in einem Dorf, dessen Name nach Pilzen riecht /... /Wirf den Pegman dort ab, /... /Besuch mich, wenn du magst, /jede Nacht, bevor du dich ausloggst, /... /Ich behalte mir das Recht/auf einen Respawn vor.“

Still City ist ein wunderbarer Gedichtband mit fürchterlichem Anlass und Oksana Maksymchuk eine große, herausragende Lyrikerin. Wer da noch ausweicht, bleibt ein Schwätzer.

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