„Er wollte uns nicht erlösen“

Zum 100. Geburtstag: Dieter Wellershoffs Literatur der Desillusionierung
Paul Cézanne, 1839–1906: Mont Sainte-Victoire. Das Gemälde entstand von 1902–1906. Dieses Bild inspirierte den Schriftsteller Dieter Wellershoff 1991 bei der Titelgebung seines autobiografischen Buches „Blick auf einen fernen Berg“.
Foto: akg-images
Paul Cézanne, 1839–1906: Mont Sainte-Victoire. Das Gemälde entstand von 1902–1906. Dieses Bild inspirierte den Schriftsteller Dieter Wellershoff 1991 bei der Titelgebung seines autobiografischen Buches „Blick auf einen fernen Berg“.

Der Schriftsteller Dieter Wellershoff (1925–2018) gehörte über Jahrzehnte zu den bekanntesten deutschen Roman­autoren. In jungen Jahren Soldat im Zweiten Weltkrieg, erfuhr er sein Überleben als „Zufälligkeit der Existenz“. Der Theologe Karl Tetzlaff, Geschäftsführer der Stiftung Leucorea in Wittenberg, skizziert anlässlich des Gedenkens an den 100. Geburtstag Wellershoffs am 3. November dessen literarisches Profil.

In seiner Trauerrede auf den 2018 verstorbenen Autor versucht der Verleger Helge Malchow das Grundthema von Dieter Wellershoffs literarischem Schaffen zu identifizieren. „Er wollte uns“, so heißt es dort, „durch seine Literatur nicht wie andere Autoren ‚erlösen‘, sondern er wollte uns umgekehrt zeigen, wie sehr unser immerwährendes Erlösungsbedürfnis uns betrügen und verführen kann.“ Dieses Motiv hänge mit Wellerhoffs Kriegserfahrungen zusammen, die ihm schon in jungen Jahren eine tiefe Skepsis gegenüber Heilsversprechen jedweder Art eingegeben hätten.

Freiwillig an die Front

Wer das Erinnerungsbuch Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges (1995) zur Hand nimmt, kann sich dieser Deutung kaum entziehen. Wellershoff beschreibt darin beeindruckend nüchtern, wie er sich 1943 als Siebzehnjähriger freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet und den Tod vieler Altersgenossen hautnah miterlebt hat. Die Erfahrung, trotz extremer Gefährdungssituationen verschont geblieben zu sein, habe bei ihm schließlich die „Einsicht in die Zufälligkeit seiner Existenz“ freigesetzt: „Ich weiß, dass ich nur zufällig am Leben geblieben bin und daran weder durch Geschick noch Tugend noch irgendein sonstiges Verdienst einen Anteil hatte.“ Es ist dieses für seine Generation nicht untypische Kontingenzbewusstsein im Blick auf das eigene Leben, woraus Wellershoffs kritische Abwendung von religiösen oder politischen Heilsangeboten rührte. Er entdeckte darin nichts anderes als den Wunsch, vor der faktischen Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins in die Sicherheit übergreifender Sinnzusammenhänge fliehen zu können. Doch „wir werden nicht mehr an der Leine einer fremden, ordnungsstiftenden Vernunft geführt“, schreibt Wellershoff: „Man muß seinen eigenen Weg suchen.“

Passend zu dieser Einsicht konnte er Matthäus 27,46 als die für ihn bedeutsamste Bibelstelle bezeichnen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ruft dort der gekreuzigte Jesus aus, ohne mit seiner verzweifelten Frage auf irgendeine Resonanz zu stoßen. Nach Wellershoffs Lesart „ist das der Augenblick, in dem ein inspirierter junger Mensch, der mit dem Gebot der Nächstenliebe eine neue Ethik begründet hat, aus seinem Lebenstraum herausstürzt in die kalte Wahrheit des Todes: Wir sind sterblich und da ist niemand, der uns auffängt […] oder gar rettet.“ Gerade diese tiefe Hoffnungslosigkeit, die ihn mit allen Opfern von Krieg und Gewalt verbinde, mache Jesus aber glaubhaft und gebe der von ihm verkündigten Nächstenliebe „erst ihre wahre Tiefe und Notwendigkeit“. Niemand anderes als jeder Einzelne selbst wird dann nämlich für die Verwirklichung des jesuanischen Liebesethos verantwortlich, wobei man ohne die Hilfe einer allmächtigen Gottesfigur auskommen muss – und eben, insbesondere unter modernen Bedingungen, ganz auf sich allein gestellt ist.

„Falle der eigenen Phantasie“

Damit sind wir wieder beim Grundthema des wellershoffschen Werkes angelangt, dessen Figuren zu einer solch radikalen Desillusionierung kaum in der Lage sind. Ganz im Gegenteil erscheinen sie, so schreibt er, als hochgradig „illusionsanfällige, sich selbst immer wieder entgleitende Personen, die dazu neigen, auf der Suche nach dem richtigen Leben in die Falle der eigenen Phantasien zu gehen“. Wellershoff, der Literatur programmatisch als „eine imaginäre Probebühne“ bezeichnet hat, auf der unsere bislang unausgelebten Lebensmöglichkeiten durchgespielt werden können, entdeckt in dieser Anfälligkeit eine allzu menschliche Neigung. Sie ist es, die den Einzelnen ansprechbar für Erlösungsversprechen macht, denen er dann mit zumeist fatalen Konsequenzen folgt. Wellershoff hat nun nicht den Anspruch erhoben, dass man sich über die probeweise Identifikation mit seinen Romanfiguren final von solcher Verführbarkeit befreien könnte. Vermittels der Literatur gelangen wir aus seiner Sicht vielmehr nur vorübergehend „über die Blindheiten und Grenzen unserer Alltagserfahrung hinaus“, um durch das Lesen oder Schreiben „ein vielfältigeres und tieferes Bild des Lebens zu gewinnen“. Dass dieses Lebensbild jemals vollendet vor uns stehen könnte, ist genau die (Selbst-)Täuschung, vor der niemand gefeit ist und von der Wellershoffs Werke in vielen Variationen erzählen.

Ulrich Vogtmann, der tragische Held des Romans Der Sieger nimmt alles (1983), erliegt dieser Illusion inmitten einer tiefen Sinnkrise. Nach zweifachem Studien­abbruch fühlt sich der Ende-Zwanzigjährige gefangen in einem „vorläufige[n] Leben“, das „ihn innerlich fast blind gemacht“ hat und aus dem er sich „zu erwachen“ wünscht. Auf der Suche nach einem „Ereignis, das Bedeutung für ihn gewann und sein Leben veränderte […], das ein neuer Anfang war“, gelangt er schließlich in einen Vortrag über das Wesen des Geldes.

Was ihm dort widerfährt, wird von Wellershoff nach dem Vorbild eines religiösen Erweckungserlebnisses geschildert. So ergeht es Vogtmann, als würden ihm die Worte des Referenten „eine grundsätzliche Blindheit aus den Augen“ nehmen. „Denn der Vortragende stellte das Geld nicht als etwas Totes dar, […] sondern als den Lebensstoff der Phantasie. Geld löste alles, was fest schien, in Bewegung auf. Selbst nichts Bestimmtes, ermöglichte es den Austausch und die Verknüpfung aller Dinge und Tätigkeiten. […] Es war die glitzernde Brücke, die die Vergangenheit mit der Zukunft verband, der Zauberstab, der aus dem bloß Möglichen das Wirkliche schlug, das Spiegelkabinett der unendlichen Wechselwirkung. Fast alles, was Menschen sich wünschten, sich ausdachten, zu tun versuchten, war ausdrückbar und erreichbar durch Geld. Es war das höchste Allgemeine, die alles umschließende Einheit aller Elemente der beweglichen, veränderbaren Welt. Flüchtig, allmächtig, wandelbar, glich es ganz dem gestaltenmischenden Traum.“

Als Vogtmann den Vorlesungssaal verlässt, fühlt er sich „wie jemand, der in das geheime Zentrum der Welt geblickt“ hat. Durch den augenöffnenden Vortrag sieht er nun klar, wonach er streben soll: nach dem in so vielen Annäherungen als vollends gottgleich besungenen Geld. Im Laufe des Romans entwickelt sich Vogtmann zunächst tatsächlich zu einem erfolgreichen Unternehmer, der jenem „höchsten Allgemeinen“ des Geldes entgegenstrebt. Doch infolge riskanter Geschäfte scheitert er schließlich auf ganzer Linie. Er muss feststellen, eigentlich „im falschen Leben“ gesteckt zu haben, während er nur „glauben wollte, dass es das richtige war“. Als ihn am Ende des Buches ein Herzinfarkt ereilt, „willigt er ein“, so „als sei das die Rettung, die er ergreifen mußte“.

Wellershoff hat im Ergehen Ulrich Vogtmanns die Geschichte seines eigenen Bruders verarbeitet, der ebenfalls ein bravourös gescheiterter Geschäftsmann war. „Fast alles in diesem Buch ist fiktiv“, schreibt er über Der Sieger nimmt alles, „nicht aber […] die Psychologie der Selbsttäuschung und Fehlentscheidung, die die Hauptfigur dazu treibt, gegen den Einspruch ihrer Vernunft in die Falle ihrer eigenen Phantasien zu gehen“.

All dies trifft also auch auf seinen Bruder zu, mit dessen Schicksal sich Wellershoff in Blick auf einen fernen Berg (1991) noch einmal explizit auseinandergesetzt hat. Dabei geht es vor allem um eine bösartige Krebserkrankung, die den Bruder plötzlich ereilte und ihm noch den letzten Versuch eines ökonomisch erfolgreichen Lebens zunichtemachte. Der Titel des autobiografischen Berichts verweist auf ein Gemälde Paul Cézannes, das den Mont Saint-Victoire zeigt. Wellershoff findet darin das „Lebensdrama“ des unheilbar erkrankten Bruders treffend ausgedrückt: „Vom Betrachter getrennt durch eine Schlucht und eine Felsbarriere […], erhebt sich in unbestimmter Ferne, aber in seiner Unerreichbarkeit unheimlich nahe gerückt, das graublaue Bergmassiv in den Himmel und […] zeigt sich dort wie eine Erscheinung an der Grenze der Welt. Dahinter kann nichts mehr vermutet werden als ein bodenloser Abgrund unter leerem Himmel.“ Das Bild des fernen Berges, zu dem man nur über ein äußerst unwegsames Gelände gelangen kann, spreche „so verschlüsselt wie offenbar von den das menschliche Leben beherrschenden Träumen und Täuschungen und von seinem unüberschreitbaren Ende“.

Die angesichts des Todes offenkundig werdende Endlichkeit des Daseins führt den illusionären Charakter jenes religionsähnlichen Unendlichkeitsversprechens vor Augen, das sich für Wellershoffs Figuren etwa mit Geld und ökonomischem Erfolg verbindet. Auch der in der Moderne sich vollziehende Aufstieg von Liebesbeziehungen zur „wichtigsten Sinnquelle“ produziert aber „Selbsttäuschungen und paarweise Illusionen“, wie Wellershoff zu sagen weiß. Was früher „Religion und traditionsgebunden Moral“ verschafft hätten, müsse nun die Liebe leisten: „Heilung der narzißtischen Wunden, Selbstentfaltung, Sicherheit und […] die wechselseitige Bestärkung und Bestätigung der eigenen Selbstdarstellung.“ Doch sei die Liebe eben „keine auf Dauer gestellte Einrichtung, sondern etwas Ungewisses und Veränderliches“, das durch solche Erwartungen überfrachtet zu werden drohe.

Spannungen erkundet

In vielen Erzählungen, vor allem aber im Roman Der Liebeswunsch (2000) hat Wellershoff die daraus sich ergebenden Spannungen literarisch erkundet. Der Liebeswunsch handelt von zwei miteinander befreunden Paaren – Anja und Leonhard, Paul und Marlene, deren zunächst harmonisch wirkende Gruppenkonstellation zunehmend brüchig wird, weil eine der Hauptfiguren aus dem festen Beziehungsgeflecht auszubrechen versucht. Anja ist nämlich in Wahrheit unglücklich in ihrer Ehe mit Leonhard und beginnt ein Verhältnis mit Paul, was den Anfang vom Ende des Freundeskreises besiegelt. Doch auch für Anja entwickelt sich die Affäre, von der anfänglich eine befreiende und erfüllende Wirkung ausgeht, immer mehr zu einer Quelle von Verlustängsten und Abhängigkeiten. Überschwänglich schreibt sie an Paul: „Ich brauche dich, sagtest Du. […] Das stärkt in mir das blinde Wissen, daß ich für Dich entstanden bin und außerhalb, fern von Dir, keine Bedeutung habe.“ Als Paul das Verhältnis beendet, wird der drohende Selbstverlust, der in diesem Liebesbekenntnis bereits anklingt, zur traurigen Realität. Am Ende macht Anja auf gewaltsame Weise „Schluß mit den Täuschungen, den Demütigungen, der Angst und der eigenen Schwäche“, indem sie sich rücklings von einem Hochhaus stürzt.

Der „leidenschaftlich Liebende“, schreibt Wellershoff, hat „alles auf eine einzige Karte gesetzt. Wenn er sie verliert, entzieht ihm das seinen Lebensgrund“, der sich damit als Produkt einer geradezu „lebensgefährlichen Illusionierung“ entpuppt. Auch an der Religion selbst, nicht nur an ihren modernen Hybridbildungen, kann er diese Selbsttäuschungsgefahr aufdecken. In Der Himmel ist kein Ort (2009), seinem letzten Roman, ist es Ralf Henrichsen, ein evangelischer Pastor, den angesichts einer Glaubenskrise das Gefühl ergreift, „ins Bodenlose abgestürzt“ zu sein. Ein schrecklicher Autounfall, der wahrscheinlich vom einzig Überlebenden absichtsvoll verschuldet war, stellt sein in der Kindheit eingeübtes Gottvertrauen zutiefst infrage. Als Kind hatte er, wenn er betete, „blind vorausgesetzt, dass jemand ihm zuhörte, der unsichtbar blieb, aber trotzdem bei ihm war, bereit, ihm zu helfen“. Nun kann er sich Gott nur noch „als eine schwindelerregende Ferne vorstellen“, was alle Annäherungsversuche an ihn zu bloßen Illusionen werden lässt. Das theologische Anliegen, aus dieser Not des Transzendenzverlusts eine Tugend zu machen und Gott eben als eine „von Menschen geschaffene, Halt und Orientierung stiftende Fiktion“ zu begreifen, wie es ihm beim Besuch einer Akademietagung erklärt wird, überzeugen Henrichsen nicht. „Er braucht einen unangefochtenen Rest seiner kindlichen Frömmigkeit“, die ihm jedoch abhandengekommen ist und zu der er nicht mehr zurückfindet.

„Strahlend blau“

Wellershoff wollte eben auch in diesem Fall „durch seine Literatur nicht ‚erlösen‘“. Gleichwohl endet sein letzter Roman mit einem Satz, der zumindest leicht zuversichtlich stimmt. „Der Himmel war strahlend blau“, lautet er. Auf die Frage, ob das ein guter letzter Satz für sein Romanwerk sei, antwortete Wellershoff: „Ich finde schon. Blau, das ist eine Illusions- und Hoffnungsfarbe. Ein Hinweis darauf, dass der Mensch ein Hoffnungstier ist.“ 

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Printausgabe als PDF.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Geschäftsführer der Stiftung LEUCOREA in Lutherstadt Wittenberg. Er lehrt an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Weitere Beiträge zu „Kultur“