Kino in Grautönen

Filme ohne Farbe sind mehr als technische Nostalgie und haben häufig einen politischen Kontext
Ein Film über eine Liebe, die an den Wirren des Kalten Kriegs zerbricht: „Cold War“ (2018).
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Ein Film über eine Liebe, die an den Wirren des Kalten Kriegs zerbricht: „Cold War“ (2018).

Ikonische Schwarz-Weiß-Bilder im Kino haben Filmgeschichte geschrieben. Doch Grautöne auf der Leinwand oder dem Bildschirm sind nicht nur Vergangenheit – sondern eine bewusste ästhetische und politische Entscheidung. Christian Engels, Leiter des Filmkulturellen Zentrums der EKD, erläutert, warum Schwarz-Weiß uns hilft, besser zu sehen.

Ein Kinderwagen fährt holprig eine große Treppe hinunter. Ein Mann und eine Frau verabschieden sich für immer auf einem Flughafen voneinander. Ein Mann wird durch die Wiener Kanalisation gejagt. Hierbei handelt es sich um drei berühmte Bilder. Ohne diese Bilder wäre eine visuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht vollständig. Sie sind von großer künstlerischer Kraft und stehen gleichzeitig in einem politischen Kontext, denn sie erzählen von Menschen im Umfeld der russischen Revolution 1905, des Zweiten Weltkriegs und des beginnenden Kalten Kriegs. Diese Bilder sind aus „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925), „Casablanca“ (1942) und „Der Dritte Mann“ (1949). Sie sind wichtig, und sie sind in Schwarz-Weiß, so wie die ganze Jugendzeit des Films, so wie die Ur-Dokumente der Kunstform, die es seit 130 Jahren gibt.

Mit Farbeimer beworfen

Bis weit in die 1950er-Jahre hinein wurden die allermeisten Filme in Schwarz-Weiß gedreht und vorgeführt, obwohl es schon früh, in den 1930er-Jahren, Versuche gab, den Farbfilm anzubieten. Aber die technischen Gegebenheiten in den Kinos, in denen die Filme vorgeführt wurden, waren auf Schwarz-Weiß-Filme eingestellt, und das blieb lange der Normalzustand. Bis das Kino durch das neue Unterhaltungsmedium, das Fernsehen, gezwungen war, etwas Neues, Spektakuläres zu bieten, was das Fernsehen damals noch nicht konnte. Und das war nicht nur Farbe, sondern Technicolor, in dem die ganze Leinwand so aussah, als sei sie mit einem Farbeimer beworfen worden. Denn Technicolor ließ alles bunt strahlen, was bis heute beeindruckend ist, aber natürlich das genaue Gegenteil des Films in Schwarz und Weiß.

Heute ist Technicolor längst Vergangenheit. Aber Schwarz-Weiß-Filme gibt es immer noch. Einerseits werden die alten Filme gesehen, andererseits werden auch nach wie vor gelegentlich Filme in Schwarz-Weiß gedreht. Warum ist das so?

Die Antwort auf die Frage, ob man sich überhaupt noch Schwarz-Weiß-Filme anschauen soll, liegt vielleicht in erster Linie daran, was Filme für einen selbst bedeuten. Wenn Filme einfach eine Unterhaltung am Sonntagabend sind, dann sind alte Schwarz-Weiß-Filme in aller Regel nicht mehr notwendig. Sie laufen kaum noch im Fernsehen und sind auch bei den Streaming-Plattformen schwer zu finden, wenn überhaupt.

Aber wenn man den Film als Kunstform betrachtet, gibt es an schwarz-weißen Filmen keinen Weg vorbei. Denn nur weil sie in den meisten Fällen alt sind, sind sie nicht obsolet. Niemand würde Rembrandt oder da Vinci mit der Feststellung abtun, dass beide schon ganz schön lange tot sind. Trotz ihres Alters sind ihre Werke immer noch interessant und ein Maßstab für die Kunst, in der diese Menschen gearbeitet haben. Und dasselbe gilt, wenn man sich für Filme interessiert, für Werke von Charlie Chaplin, John Ford, Ernst Lubitsch, Ozu Yasujiro und vielen anderen aus den 1910er- bis 1950er-Jahren. Unter die besten Filme aller Zeiten werden bis heute Titel wie „Citizen Kane“ (1941) oder „Die Spielregel“ (1939) gewählt. Und wenn man auf Schwarz-Weiß-Filme verzichtet, verpasst man unglaubliche Schätze: viele Filme von Ingmar Bergmann, die zu seinen besten zählen, wie „Persona“ (1966) oder „Wilde Erdbeeren“ (1957), praktisch alles, was Orson Welles je fertiggestellt hat, und die bekanntesten Filme von Federico Fellini, wie „Achteinhalb“ (1963) oder „Das süße Leben“ (1960). Und viele andere. Gerade in Deutschland sollte man sich für Schwarz-Weiß-Filme besonders stark interessieren, denn die weltweit berühmtesten und vielleicht auch besten deutschen Filme sind alle in Schwarz-Weiß, von „Nosferatu“ (1922) von F. W. Murnau und „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang mit unvergesslichen Bildern bis zu „Das weiße Band“ (2009) von Michael Haneke.

Außerdem sind diese Werke in Schwarz-Weiß eben die ersten Filme, die entstanden sind. Sie stehen am Anfang der Entwicklung dieser Kunstform, sie sind die Quelle. Und wenn man den Film ernsthaft betrachtet, dann muss man immer wieder zu den Quellen zurückkehren. So wie sich die Theologie immer noch mit Martin Luther beschäftigt. Denn mit ihm hat die Reformation angefangen, mit ihm hat die Bildung einer einheitlichen deutschen Sprache angefangen, mit ihm hat das Kirchenlied in seiner heutigen Form angefangen. Luther ist die entscheidende Quelle für vieles, was uns in der Theologie bis heute beschäftigt. Und dasselbe gilt auch für den Film. Wenn wir den Film verstehen wollen, müssen wir immer wieder zu den Quellen des Films zurück. Und die sind in Schwarz-Weiß.

Zärtliche Trauer

Aber bis heute gibt es immer wieder Filme, die in Schwarz-Weiß gedreht werden und damit häufig auch für Aufmerksamkeit sorgen. Die Entscheidung dafür hat verschiedene Gründe. Der häufigste ist, dass der Film in der Vergangenheit spielt. Natürlich kann man einen historischen Film auch in Farbe drehen, aber schwarz-weiße Filme versetzen die Zuschauerin und den Zuschauer sofort in eine andere Zeit. Sie können je nach dem Einsatz von Licht und Schatten ein Gefühl von Wärme auslösen, wie beim Betrachten alter Familienfotos, und gleichzeitig ein melancholisches Gefühl von Verlust, weil die farblosen Bilder sofort spürbar machen, dass das, was wir da sehen, für immer vorbei ist. Diese Mischung von rekonstruierender Erinnerung und zärtlicher Trauer stellt sich bei Filmen wie „Roma“ von Alfonso Cuarón aus dem Jahr 2018 oder „Cold War“ von Pawel Pawlikowski aus demselben Jahr ein.

„Roma“ ist inspiriert von den Erinnerungen des Regisseurs an seine Kindheit und erzählt von einer Haushaltshilfe in Mexiko-Stadt 1970, und „Cold War“ handelt von einer Liebe, die in den 1950er-Jahren in die Wirren des Kalten Kriegs gezogen wird und daran zerbricht. Schwarz-Weiß, der starke Kontrast zwischen Hell und Dunkel, verstärkt hier die Wirkung der abwechselnden Leidenschaften und spielt auch auf das Schwarz-Weiß-Denken in den Zeiten des Kalten Kriegs an.

Ebenfalls in der Vergangenheit spielt „Morgen ist auch noch ein Tag“ von Paola Cortellesi, der 2023 in Italien mehr Zuschauer*innen ins Kino lockte als „Oppenheimer“ und „Barbie“. Es passt zur Handlung des Films, dass er von einer Frau gedreht worden ist, denn er erzählt von der Unterdrückung der Frauen im Italien der Nachkriegszeit und von den ersten Schritten dagegen. Der Film schafft durch seine schwarz-weißen Bilder eine Verbindung zu den italienischen Klassikern aus den 1940er- und 1950er-Jahren. Damals stellten Stars wie Sophia Loren und Gina Lollobrigida starke Frauen dar und waren gleichzeitig Projektionsflächen für den männlichen Blick. Cortellesi setzt dem einen realistischen Blick auf Rechtlosigkeit und häusliche Gewalt gegen Frauen entgegen. Auch dafür ist der Einsatz von Schwarz-Weiß heute sinnvoll: macht die Absurdität alter Filme deutlicher. Der Film „The Artist“ (2011) über einen Stummfilmstar von Michel Hazanavicius hat auch etwas davon, selbst wenn er vor allem verspielt ist.

Die Distanz, die durch Schwarz-Weiß entsteht, kann auch genutzt werden, um den Zugang zu harten und schweren Themen zu erleichtern. Das ist so bei „Morgen ist auch noch ein Tag“ und beim wohl berühmtesten Schwarz-Weiß-Film der jüngeren Vergangenheit, „Schindlers Liste“ aus dem Jahr 1993 von Steven Spielberg. Spielberg hatte sich für Schwarz-Weiß entschieden, weil er möglichst nah an die Bilder kommen wollte, die wir von der Shoah kennen, aus den Dokumentarfilmen über die Konzentrationslager. Er wollte Schwarz-Weiß so ausleuchten, dass die Brutalität der Shoah besonders deutlich wird. Spielberg wollte vermeiden, dass irgendetwas im Film strahlen könnte. „Schindlers Liste“ ist einer der bekanntesten Filme über die Schoah, der das Grauen dieser Verbrechen besonders bedrückend spürbar gemacht hat. Die Entscheidung, ihn in Schwarz-Weiß zu drehen, war dabei enorm hilfreich. Umso wichtiger war es für Spielberg, den roten Mantel des Mädchens und das Ende in Farbe zu drehen. Diese besonderen Momente sind Zeichen: für all die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen und für die Hoffnung, dass wir nie wieder so etwas zulassen werden.

Neben all diesen emotionalen und inhaltlichen Gründen gibt es auch noch einen anderen, sehr einfachen Grund, in SchwarzWeiß zu drehen. Diese Filme sehen häufig sehr gut aus. Bei richtiger Beleuchtung vermitteln sie sofort die Atmosphäre von Eleganz und Raffinesse. In der Fotografie sind zum Beispiel die Fotografien von Helmut Newton für diese Wirkung berühmt. Und bei Filmen ist die Serie „Ripley“ von Steven Zaillian aus dem Jahr 2024 ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Unglaublich schön

Es gibt vom selben Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ von Patricia Highsmith zwei bekannte frühere Verfilmungen. René Clement drehte 1960 „Nur die Sonne war Zeuge“ mit Alain Delon und Anthony Minghella 1999 eine Verfilmung mit Matt Damon, die so hieß wie der Roman. Beide Filme lebten davon, dass sie das Italien, in dem der Roman und der Film spielen, mit starken leuchtenden Farben gezeigt haben, dass sie sonnendurchflutet waren. Die neue Serie macht das Gegenteil, und deshalb lässt sich gerade an ihr eine weitere Stärke von Schwarz-Weiß zeigen. Die sechsteilige Serie macht dadurch nicht nur moralische Ambivalenzen und innere Konflikte deutlich. Sie sieht vor allem unglaublich schön aus. Die Bilder der Städte und der Landschaften sind so stilisiert, dass sie fast alle in einem Museum hängen könnten.

All diese Beispiele zeigen vor allem eins. Es wäre ein großer Verlust, Schwarz-Weiß zu ignorieren. Denn Schwarz-Weiß-Filme helfen uns dabei, besser zu sehen, und damit, klarer über Film nachzudenken. Denn sie zeigen uns, wie der Film entstanden ist und sich entwickelt hat. Sie sind – wie die Filme heute – ein Spiegel ihrer Zeit und bringen damit gelegentlich problematische Ansichten hervor, die wir heute als veraltet ansehen. Die Rolle von Frauen in alten Schwarz-Weiß-Filmen zum Beispiel ist häufig klischeehaft und unterwürfig, ebenso wie die Darstellung von Indigenen in alten Western. Diese Vorwürfe sind berechtigt und müssen auch beim Sehen der Filme mit bedacht und mit besprochen werden. Aber niemand würde behaupten, dass wir Mozart nicht mehr hören können, weil das Bild des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern in „Don Giovanni“ überholt ist, und Richard Wagner wird trotz seines Antisemitismus aufgeführt, der deshalb aber nicht vergessen wird. Problematische Aussagen kommen in vielen alten schwarz-weißen Filmen zum Vorschein und können so diskutiert werden.

Sie helfen uns aber auch auf einer visuellen Ebene, besser zu sehen und klarer zu denken. Weil sie uns sofort klarmachen, dass das Bild vor uns nicht realistisch ist. Sie machen uns klar, dass kein Bild nur das ist, was wir sehen. Sie machen uns klar, dass hinter jedem Bild eine Absicht steht. Schwarz-weiße Filme zeigen uns, dass wir jedes Bild aus einem Film hinterfragen und diskutieren können. Mit alldem ist Schwarz-Weiß nicht der Verlust von Farbe. Sondern eine eigene, eine starke Farbe. 

 

Information
Die genannten neueren Filme und Serien sind bei folgenden Streaminganbietern zu sehen: Amazon Prime („Cold War“, Zusatzabo nötig), Netflix („Roma“ und „Ripley“), Joyn und Magenta TV („Schindlers Liste“).

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Christian Engels

Christian Engels ist Pfarrer und Leiter des Filmkulturellen Zentrums im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Berlin.

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