Gegen die Abgrenzung
Im Yoga zügeln wir unsere fünf Sinne, um sie zu kanalisieren. Wir verbinden uns mit uns selbst. Yoga ist im Kern Respekt und Bewunderung vor dem Fremden. Deshalb widerspricht seine Instrumentalisierung durch den Hindunationalismus seinem Wesen, erklärt die Ethnologin und Publizistin Nicole Manon Lehmann, die auch Yoga-Lehrerin in Berlin ist.
Als vor fast 35 Jahren, Anfang der 1990er-Jahre der Yoga in mein Leben trat, ahnte ich nicht, dass ein Vierteljahrhundert später ein Internationaler Yoga-Tag ins Leben gerufen wird. Damals wusste ich auch noch nicht, dass ich mich mal als Ethnologin mit Themenschwerpunkten in Indien beschäftigen würde.
Zu mir kam damals der Yoga, als mich eine Freundin eines Morgens fragte: „Kommste mit zum Yoga?“ Ich kannte sie vom Capoeira, und wir waren gemeinsam in der freien modernen Tanzszene unterwegs gewesen. Wir standen am Beginn unseres Lebens und liebten beide die Bewegung. Ich entgegnete ihr an jenem Morgen skeptisch: „Yoooga? Ich glaube, das ist mir zu langweilig.“
Meine erste Yoga-Stunde war für mich eine echte Erfahrung der Leichtigkeit. Ich kam eigentlich vom Leistungssport in der Schule, hatte Geräteturnen und Tanz als Sport-Prüfungsfächer gehabt und interessierte mich für alle Tanzformen, die ich damals lernen konnte. Yoga wäre mir nicht von alleine in den Sinn gekommen. Yoga war damals auch beileibe nicht so allgegenwärtig wie heutzutage.
Das eigentliche Aha-Erlebnis hatte ich nach der Yoga-Stunde, nachdem ich also meinen ersten herabschauenden Hund geübt hatte und trotz aller Sportlichkeit damit ganz neue Bewegungen kennen und vor allem körperlich spüren lernte. In jenen Tagen war es auch noch üblich, dass man seinen Schmuck zum Üben ablegte. Jedenfalls bemerkte ich, als wir schon aus dem Yoga-Studio waren, dass ich meine Ringe vergessen hatte. Ich bat also meine Freundin, kurz zu warten, damit ich flink zurücklaufen konnte, um sie zu holen. Als ich eindrehte und schnell loslief, fühlte ich mich plötzlich körperlich so leicht, kein Schritt kostete mich Mühe, und ich schien dahinzufliegen. Was für ein neues Gefühl! Wie schwerelos, körperlich wie geistig!
Der Yoga gehörte von da an zum integralen Bestandteil meines Lebens. Aber was ist der Yoga eigentlich? Ich hatte damals mit einer klassischen Hatha-Yoga-Stunde begonnen. Dieses körperliche Yoga kam mir als junger, sportlicher Mensch sehr entgegen. Die geistige Dimension flocht sich stückweise in das Üben der Yoga-Gymnastik. Atemtechniken, das Pranayama, und Meditation kamen zusehends dazu, und die wohltuende, ausgleichende Wirkung auf Körper, Geist und Seele ließ mich immer weiter Yoga praktizieren.
Yoga bedeutet anjochen, anschirren. Oft wird heute von verbinden gesprochen. Anjochen impliziert den Aspekt von „tapas“, dem Vermögen zur Selbstdisziplin. Asketen reichern tapas an, indem sie der Welt entsagen. Tapas meint Mäßigung, Kontrolle und Selbstbeschränkung. Anschirren tun wir Pferde, wir nehmen die Zügel in die Hand. Im Yoga zügeln wir unsere fünf Sinne, um sie zu kanalisieren. Wir verbinden uns mit uns selbst.
Das Sanskritwort yoga taucht wohl erstmalig vor etwa 3 000 Jahren im Rigveda auf, wurde darin als Schlachtruf von Reiternomaden verwendet. Anschirren war gleichbedeutend für „Auf in den Kampf!“, als Auftakt für ihre Eroberungen. Tausend Jahre später, also um die Zeitenwende, hatte der Gelehrte Patanjali diesen Begriff übernommen. Er etablierte einen achtstufigen Yoga-Pfad und beschrieb die zehn ethischen Yoga-Grundlagen: der Umgang mit der Umwelt (yama) und der Umgang mit uns selbst (niyama). Die meisten Yoga-Schulen von heute beziehen sich auf Patanjali.
Körperbetonte Übung
Das körperbetonte Yoga der āsanas, der heute weltweit bekannten Yogastellungen, hatte sich aber wiederum erst nochmals etwa tausend Jahre später im Hatha-Yoga etabliert, der sich durch den aufkommenden Tantrismus (ab circa 500 n. Chr.) entwickelte. Es änderte sich die Wertschätzung des Körpers. Er wurde nicht mehr als ein zu überwindendes Hindernis verstanden, sondern als Übungsweg. Neben den Körperstellungen āsanas wurden Atemtechniken und Konzentrationsübungen erarbeitet.
Mit den Yoga-āsanas übt man eine holistische, ganzheitliche Betrachtungsweise auf sich und die Welt. In der Yoga-Gymnastik wird dies anschaulich. Jede Yoga-Stellung, āsana, zwingt den Körper quasi in ein Korsett. In dieser statischen Haltung zwickt es zu Beginn an allen Enden. Das Üben der Yoga-Haltungen lehrt so auf stofflicher, körperlicher Ebene, mehr und mehr sich auf die Einheit seines Körpers einzulassen, da man nicht ausscheren kann und man im Üben veranlasst ist, die gegebenen Verhältnisse (in der strengen Körperform) zunächst auszuhalten, dann zusehends zueinander zu bringen, zu harmonisieren und schließlich mehr und mehr in der Stellung befriedet anzukommen. Dieser ausgleichende Prozess des Anschirrens seiner selbst im körperlichen Üben hat Rückwirkung auf den Geist, in der Strenge gelassener zu werden.
Heute bin ich ausgebildete Ethnologin und habe in den vergangenen Jahrzenten viel Zeit und Mühe aufgewendet, um einige kulturelle Besonderheiten Indiens zu erkunden. Meine Magisterarbeit behandelte die Hintergründe des sati-Rituals auf dem Subkontinent, früher im Abendland als „Witwenverbrennung“ bekannt. Meine Promotion schrieb ich über den ungemein komplexen nordindischen Kathak-Tanz, den ich als Tänzerin auch selbst in Indien vorgeführt habe.
Seit einigen Jahren arbeite ich zudem als ausgebildete Hatha-Yoga-Lehrerin – und in allen drei Fällen werde ich konfrontiert nicht nur mit althergebrachten südasiatischen Traditionen, sondern auch mit ihrer Rezeption in der westlichen Welt. Dabei resultieren Missverständnisse, ob aus Mangel an Informationen oder an echtem Interesse. Und so lassen sich zu Indien Vorstellungen verklärter Bewunderung für ein vermeintlich von Spiritualität durchdrungenes Volk, wie im Falle von Yoga, neben Verachtung und Abscheu über ein vermeintlich barbarisches Volk, wie im Falle der so genannten Witwenverbrennung, direkt nebeneinander finden.
Yoga ist heute ein globaler Trend, und die Kommerzialisierung nicht nur millionen-, sondern milliardenschwer. Seit zehn Jahren wird sogar weltweit der Internationale Yoga-Tag am 21. Juni begangen. Politisch motiviert, hatte der seit Mai 2014 amtierende indische Premierminister Narendra Modi der hindunationalistischen Partei BJP die Ausrufung eines „Weltyoga-Tages“ am 27. September 2014 in einer Rede an die Vereinten Nationen herangetragen. Unterstützt von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, wurde der Weltyoga-Tag noch im selben Jahr am 11. Dezember 2014 beschlossen. Seit 2015 feiert eine immer größer werdende globale Yoga-Community den Internationalen Yoga-Tag.
Aber Premierminister Narendra Modi war damals schon einen Schritt weiter gegangen und hatte bereits das „Ministerium für Yoga“ geschaffen. Kurz nach Amtseinführung 2014 rief er das so genannte AYUSH-Ministerium ins Leben. Die Themen Ayurveda, Yoga, Naturheilkunde, Unani, Siddha, Homöopathie – kurz AYUSH – unterstanden zuvor dem Gesundheitsministerium. Der neue „Yoga-Minister“, Shripad Yesso Naik, war vom Premier Modi gerade noch als Tourismusminister eingesetzt worden, um kurz darauf durch die Kabinettsumbildung doch für das ganz neu gegründete Ministerium ernannt zu werden. Als weltweit erster „Yoga-Minister“ ist er dafür zuständig, überlieferte Lehren und deren hinduistische Werte zu fördern und zu verbreiten.
Aber wozu all diese Anstrengungen? Das neue hindunationalistische Indien propagiert das „Hindu-Sein“ in Abgrenzung zu allen anderen. Ob Islam oder Christentum, es sind danach Fremdreligionen, und sie gehören nicht mehr dazu. Der Hindunationalismus säkularisiert hinduistische Werte und schließt alle anderen als nicht indisch aus.
Und nun steht Yoga als Nationalheiligtum für ein Indien der Hindus. Ein Paradox, denn gerade der Yoga ist ein integrativer Prozess. Und warum soll nun die ganze Welt die wohltuende Wirkung von Yoga erleben, wenn es doch ein Nationalgut ist und den Hindus gehört?
Irgendwie will Nationalismus und Internationalität nicht so recht zusammenpassen.Weltyoga-Tag – wunderbar, werden alle, die Yoga lieben, denken. Aber wie viele Millionen Menschen davon sind keine Hindus? Viele Millionen! Wir dürfen, sollen uns an Yoga erfreuen, obwohl wir keine Hindus sind? Indien den Hindus, aber Yoga für alle?
Wie ein Energiebällchen
Yoga ist zu einem weltweiten Phänomen geworden, worin Spiritualität, Kommerz, Wellness, Fitness sowie nationale Machtpolitik wie in einem Energiebällchen zusammentreffen. Im Yoga ist es möglich, diese widersprüchlichen Anliegen unter einem Hut zu finden, vom spirituellen Streben nach Erleuchtung, ideologisch machtorientierten Ausgrenzungsphantasien bis hin zu maximaler kommerzieller Ausbeutung der menschlichen Bedürfnisse nach Frieden und Zufriedenheit.
Die integrative Kraft, entgegengesetzte Bestrebungen in sich zu halten, Widersprüche auszuloten, in einem Ganzen zu integrieren, das ist das Wesen von Yoga. Wir üben die Yoga-āsanas, um uns genau dieser Herausforderung der widerstreitenden Kräfte in uns zu stellen – mit dem Ziel, sie zu balancieren.
Und so ist es möglich, dass der Yoga gerade durch den komplexen Austausch mit der westlichen Welt wächst. Er verändert sich durch Integration. Dabei verhält er sich wie ein Schwamm, er nimmt auf, spült wieder aus, aber bleibt ein Schwamm, bleibt Yoga. Es gibt daher kein „reines“ Yoga, denn Yoga heißt anjochen/anschirren/verbinden, sein Wesen ist zu integrieren, Kräfte zu zügeln. Yoga ist eine Erfahrung.
Sicherlich zu Recht ist Yoga 2016 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen worden. Yoga ist ein faszinierender Prozess, bei dem immer etwas Neues, Schönes entsteht. Etwas, das vielen Menschen hilft, zu sich zu kommen, ihren Körper, ihren Geist und ihre Seele tiefer zu erfahren, ja sich selbst als etwas holistisches Ganzes begreifen zu lernen – denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
So vermag das integrative Wesen des Yoga tatsächlich eine Brücke sein, zu mehr Verständnis untereinander, zwischen den Menschen aller Nationen und Kulturen. Warum? Weil sein verbindender Charakter inkludierend wirkt, ausgleichend, nicht ausschließend. Der Yoga, der Schwamm, ist vom Wesen her kulturelle Aneignung, hier im positiven Sinne, und eignet sich perfekt für Internationalität.
Der Yoga lebt von antagonistischen Kräften und hat die Aufgabe, sie zu bündeln, zu zügeln, zu befrieden. Yoga ist im Kern Respekt und Bewunderung vor dem Fremden. Dieser Seele kann der Yoga nicht beraubt werden – nicht als hindunationales Kampfmittel im globalen Spiel der „soft powers“, nicht als Werbeikone für die weltweite Kommerzialisierung. Kommerz und nationale Politik strapazieren das Yoga-Wesen, werden es aber nicht pervertieren, nicht zerstören können, denn konträre Kräfte zu integrieren und zu befrieden, ist die Aufgabe im Yoga, auch in Zukunft.
Nicole Lehmann
Dr. Nicole Lehmann ist Ethnologin und Publizistin. Sie lebt in Berlin.